38. Hundposttag

[1125] Die erhabene Vormitternacht – die selige Nachmitternacht – der sanfte Abend


Heute übergeb' ich Emanuels längsten Tag, der nun erloschen und abgekühlt unter den Tagen der Ewigkeit liegt, mit bleichen Abrissen den Phantasien der Menschen. Meine Hand zittert und mein Auge brennt vor den Szenen, die in Leichenschleiern um mich treten und so nahe an mir die Schleier aufheben. – – Ich schließe mich diese Nacht ein – ich höre nichts als meine Gedanken – ich sehe nichts als die Nachtsonnen, die über den Himmel ziehen – ich vergesse die Schwächen und die Flecken meines Herzens, damit ich den Mut erhalte, mich zu erheben, als wär' ich gut, als wohnt' ich auf der Höhe, wo um den großen Menschen wie Sternbilder nichts als Gott, Ewigkeit und Tugend liegen. Aber ich sage zu denen, die besser sind – zum stillen großen Herzen, das seine Pflichten vermehrt, indem es sie erfüllt, und das sich beim Wachstum seines Gewissens täglich bloß mit größern Verdiensten befriedigt – zu den hohen Menschen, welche die Hand des Todes warm gedrückt haben, die ihn, wenn er auf Morgenauen herumgeht, friedlich fragen können: »Suchest du mich heute?«- zur lechzenden Seele, die sich unter dem Zypressenbaum kühlet – zu den Menschen mit Tränen, mit Träumen, mit Flügeln, zu allen diesen sag' ich: »Verwandte meines Emanuels, euer Bruder streckt nach euch seine Hand durch die kürzeste Nacht aus, ergreifet sie, er will von euch Abschied nehmen!«


Die erhabene Vormitternacht


Viktor stand aus seinen Träumen, in denen er nichts als Gräber und Trauergerüste für seinen Freund gesehen hatte, wehmütig auf; aber er faßte beim Morgengruß geheime Hoffnungen, da er ihn ohne Fieber, ohne Beklemmungen, ohne Änderungen in seinen angeblichen Todesmorgen treten sah. Ihm war bloß vor dem Eindruck bange, den die getäuschte Hoffnung des Scheidens auf das schon halb aus dem irdischen Boden gerissene und von Erde[1125] entblößte Herz des Geliebten machen würde. Dieser hingegen hielt noch seine Träume fest, denen sogar seine nächtlichen Nahrung gaben; und er sah sehnend in das ungestirnte Blau und berechnete den langen Weg bis zur zwölften Nachtstunde, wo aus dem Himmel die Sterne und der Tod mit seinem dunkeln unermeßlichen Mantel, in dem er uns durch sein kaltes Reich trägt, vordringen würden. Sein Herz lag in einer süßen Mittagruhe, die zum Teil vom körperlichen Ermatten und vom schönen Tag herkam. Eine innere Windstille, die nirgends so groß und so magisch ist als in Seelen, an denen Wirbelorkane hin und her gerissen haben, überdeckte sein ganzes Wesen mit einer sehnsüchtigen Wonne, die in andern Augen als seinen in Tränentropfen zerflossen wäre.

O Ruhe, du sanftes Wort! – Herbstflor aus Eden! Mondschein des Geistes! Ruhe der Seele, wann hältst du unser Haupt, daß es still liege, und unser Herz, daß es nicht klopfe? Ach eh' jenes bleich und dieses starr ist, so kommst du oft und gehst du oft, und nur unten bei dem Schlafe und bei dem Tode bleibest du, indes oben die Stürme die Menschen mit den größten Flügeln gleich Paradiesvögeln am meisten umherwerfen!

Emanuels Ruhe, womit er die Gastrolle des Lebens bis aufs letzte Merkwort ausspielte, womit er alles einpackte – zurechtstellte – anbefahl – verabschiedete, trieb im gequälten Freunde Tränen und Stürme zusammen. Sein Herz war zwar vom Schicksal über einem steinichten Weg wund geschleift, aber die Entzündungen desselben kühlte jetzt der Gedanke des Todes sanft ab; doch konnt' er es – beim größten Unglauben an Emanuels Tod nicht aushalten, es zu hören, wie ihm Emanuel den blinden Julius, dem man diesen Tod verbarg, von weitem mit den leisen Worten übergab: »Hab' ihn lieb wie ich, versorge, beschirme den Armen, bis du ihn dem Lord Horion übergeben kannst.« Seine bebenden Hände konnten kaum ein Paket an diesen Lord annehmen, das ihm der Freund mit zärtlichen Augen und mit den Worten reichte: »Wenn diese Siegel geöffnet werden, so haben meine Eide aufgehört, und du erfährst alles.« Denn sein zartes Gewissen verstattete ihm nur den Inhalt, nicht das Dasein von Geheimnissen zu verbergen. – Es wird uns nicht wundern, da Viktors Adern[1126] eine Wunde um die andere empfingen, daß er, um nicht durch Wallungen ihr Bluten zu vermehren, den Flötenspieler bat, heute nicht zu spielen; Musik hätte an diesem Tag über sein zerflossenes Herz zu viele Gewalt gehabt.

Den Morgen verbrachten sie in Abschiedbesuchen bei alten Steigen, Lauben und Anhöhen; aber Emanuel machte hier nicht die grelle, tobende Gewaltrolle des fünften Akts; er schlug auf einer Erde, wo der Tod graset, keinen unphilosophischen Lärmen darüber auf, daß er die Blumen und die Saaten nicht mähen und das grüne Obst nicht gelben werde sehen; sondern mit einem höhern Entzücken, das sich jenseits des Erden-Lenzes noch schönere versprach, machte er sich von jeder Blume los, ging er durch jedes Laub-Gewinde und Schatten-Nachtstück hindurch, zog er seine gleichsam in der Erde liegende verklärte Gestalt aus jedem Spiegelteiche, und eine liebevollere Aufmerksamkeit auf die Natur zeigte an, daß er heute nachts dem näher zu kommen hoffte, der sie geschaffen. Er versuchte und Viktor vermied von allem diesen zu reden. »Nur nicht zum letzten Male!« sagte dieser. »Nicht?« (sagte Emanuel) – »Geschieht nicht alles nur einmal und zum letzten Male? – Scheidet uns nicht der Herbst und die Zeit so gut wie der Tod von allem? – Trennt sich nicht alles von uns, wenn wir uns auch nicht von ihm trennen? – Die Zeit ist nichts als ein Tod mit sanftern dünnern Sicheln; jede Minute ist der Herbst der vergangenen, und die zweite Welt wird der Frühling einer dritten sein. – – Ach wenn ich einmal wieder aus der Blumenfläche einer zweiten weiche, und wenn ich am himmlischen Sterbetag das Zwielicht von der Erinnerung zweier Leben sehe – – o in der Zukunft ruht eine Anlage zur unendlichen Wonne so gut wie zur Qual; warum schauert der Mensch nur vor dieser?« – Viktor bestritt die künftige Erinnerung. »Ohne Erinnerung« (sagte Emanuel) »gibts kein Leben, nur Dasein, keine Jahre, nur Terzien – kein Ich, nur Vorstellungen desselben – Ein Wesen zerfährt in so viel Millionen Wesen, als es Gedanken hat – Erinnerung ist bloß Bewußtsein der gegenwärtigen Existenz.« – Auch der Dichter philosophiert, wenigstens für Dichtung und gegen Philosophie. – Viktor dachte: »Du Guter! mir, nicht dir macht' ich diese Einwürfe.«[1127]

Es war gegen Mittag: der Himmel war rein, aber schwül; die Blumen meldeten das Zusammenziehen der Blitze durch ihr Verschließen an; alle Auen waren Rauchaltäre, und Düfte gingen als Propheten der Gewitterwolken voraus. Mit der physischen Gewittermaterie häufte sich in Viktor die moralische an – er dachte daran, daß oft ein heißer Tag den Schwindsüchtigen das Leben nehme; – er verwechselte zuweilen die Bitterkeit des Abschieds mit der Wahrscheinlichkeit desselben; denn der von der Luftperspektive der Furcht betrogne Mensch findet ein Schreckenbild desto näher, je größer es ist; – er weinte, wenn er bloß daran dachte, daß er weinen könnte; aber gleichwohl würde die Vernunft die Oberhand über die Gefühle behalten haben, hätte nicht beide folgender Zufall betäubt.

In Maienthal wohnte ein Wahnsinniger, den man bloß das tolle Totengebein hieß. Aus drei Gründen wurd' er so genannt: erstlich weil er ein Knochenpräparat von Magerheit war; zweitens weil er die fixe Idee herumtrug, der Tod setze ihm nach und woll' ihn an der linken Hand, die er deswegen verdeckte, ergreifen und wegziehen; drittens weil er vorgab, er seh' es denen, die bald sterben würden, am Gesichte an, über welches sich alsdann schon die Einschnitte und Abszesse der Verwesung ausbreiteten. In Moritz' Erfahrungseelenkunde109 ist ein ähnlicher Mensch beschrieben, der auch imstande sein soll, die Vorposten des Todes und seine zerreibende Hand auf Gesichtern vorauszusehen, die andern glatt und rot vorkommen, indes er sie mit dem Höllenstein der Verwesung ausgestrichen erblicket. – Dieses Totengebein wars, das in der Nacht des vierten Pfingsttages, als Klotilde auf dem Kirchhof war, ausrief: »Tod! ich bin schon begraben.« – Viktor und Emanuel gingen unter dem Geläute der zwölften Stunde nach Hause und vor einem Hügel vorüber, woran das Totengebein beklemmt saß; es bohrte sich die linke Hand, wornach der Tod griff, tief unter die Achsel: »Brrr!« (sagt' es schüttelnd zu Emanuel) »Er hat dich, aber nicht mich! Lauter Moder hängt an dir 'runter! Die Augen sind weg! Brr!«

Die Worte der Wahnsinnigen sind dem Menschen, der an der[1128] Pforte der unsichtbaren Welt horcht, merkwürdiger als die des Weisen, so wie er aufmerksamer den Schlafenden als den Wachenden, den Kranken als den Gesunden zuhört. Viktors Blut erstarrte unter dem eiskalten Griff in sein warmes Leben. Das tolle Gebein rannte fort, die linke Hand mit der rechten verbauend. Viktor nahm seines Freundes linke, blickte zur warmen Sonne auf und suchte sich zu verbergen und zu erwärmen und konnte nichts sagen. Unten am tiefblauen Himmel rauchten kleine Nebel auf, die Keime eines Abendgewitters; und in der schwülen Luft flog nichts als Gewürm.

Emanuel war stiller und fast ängstlich, aber es war nicht die Bangigkeit der Furcht, sondern jene Bangigkeit der Erwartung, mit der wir allemal auf die Falten und Bewegungen des Vorhangs großer Szenen blicken. Die stechende Sonne erhielt das Paar zu Hause. Dem vom schwülen Dunstkreis gedrückten Emanuel wurde fast der letzte Nachmittag zu lange. Aber sein Freund sah in diesem Dunstgewölbe immer ein moderndes Angesicht hängen, das sich in das geliebte frische einzuarbeiten schien, und immer hört' er das tolle Totengebein in seine Ohren sagen: »Seine Augen sind 'raus!«

In der schwülen Stille, wo die Sonne die Miniergänge des Donners grub und lud, und wo die zwei Freunde vor den Ohren des blinden Julius nur mit Blicken von der heutigen Zukunft reden durften, stand gegen 4 Uhr ein fächelnder Abendwind auf, der alle hängende Flügel und Häupter erfrischte. Emanuel ließ diese kühlen Wogen herein, die einwiegend und beruhigend über die gebückten Blumen am Fenster liefen und an den schwankenden Falten der Vorhänge niederflossen und verirrt durch das duftende Laubwerk des Zimmers plätscherten. Da kam eine unendliche Stille, eine auflösende Wonne, ein unaussprechliches Sehnen in Emanuels Herz. Seine Kindheitfreuden – die Züge seiner Mutter – die Bilder indischer Gefilde – alle geliebte verstäubte Gestalten – der ganze gleitende Widerschein des Jugendmorgens floß vor ihm glimmend vorüber – eine wehmütige Sehnsucht nach seinem Vaterland, nach seinen gestorbnen Menschen dehnte seinen Busen mit süßen Beklemmungen aus. Dieses immergrüne Palmenlaub[1129] der Jugenderinnerung legte er als kühlendes Kraut um seine und Horions Stirne, und den ganzen ersten Kreis seines Daseins trug er aus dem indischen Eden in dieses enge Gehäuse vor seine zwei letzten Geliebten herüber. Aber da er so die Asche der Freuden – Phönixe auf dem Altar der Abendsonne aufhäufte – da er so am Ausgange über alle hintereinander liegende elysische Felder seines Lebens hinübersah – da vor ihm die ganze Erde und das Leben, mit Morgentau und Morgenrot überzogen, sich in den dämmernden Spielplatz des Menschen verwandelten: so war er seiner Rührung und seines zerschmolznen Herzens nicht mehr mächtig, sondern im seligen Zittern, im bebenden Dank gegen den Ewigen bat er den Blinden, die Flöte zu nehmen und ihm das Lied der Entzückung, das er sich allemal am Morgen des neuen Jahrs und seines Geburttages spielen ließ, als Echo des austönenden Lebens nachzusenden.

Julius nahm die Flöte. Horion ging hinaus unter einen laut rauschenden Baum und sah in die tiefere Abendsonne. Emanuel stellte sich am wehenden Fenster dem Purpurstrom des Abendlichtes entgegen, und das Lied der Entzückung fing an und floß in Strömen in sein Herz und um die eingesunkne Sonne.

Und da die Sphären-Laute von der Sonne auszuwallen schienen, die in der Abendröte wie ein Schwan, in Melodien aufgelöset, in Goldrauch und in Freudentau vor Gott aus Entzücken starb und da vor Emanuel alle Blumen, womit die ewige Güte unser Herz bedeckt, und alle Wonnegefilde, durch die ihre sanfte Hand den ungewissen Menschen führt, wie Engel vorüberflogen – und da er die künftigen Himmel näherrücken sah, in die der Weg des Lebens geht – und da er sah diese unendlichen Arme alle wunde Herzen decken, über alle Jahrtausende reichen, alle Welten tragen und ihn, ihn kleinen Erdensohn doch auch: o da konnte er unmöglich das volle Herz mehr halten, es brach ihm vor Dank, und aus seinen Augen fielen wieder die ersten – Tränen nach langen langen Jahren. Diese heilige Tropfen verwischte er nicht; in ihnen zerlief die Abendröte in ein loderndes Meer; die Flöte verhallete; Viktor fand die schimmernden Augen noch; Emanuel[1130] sagte: »O sieh, ich weine vor Freude über meinen Schöpfer« – – Dann gab es unter den erhobnen Menschen, an dieser heiligen Stätte keine Worte mehr – der Tod hatte seine Gestalt verloren – eine erhabne Trauer betäubte die Schmerzen der Trennung – die Sonne, mit Erde bedeckt, berührte mit ihren aufgerichteten Strahlen den Himmel und die Nacht und den Boden der Wolken – die Erde schimmerte magisch wie eine Traum-Landschaft, und doch war es leicht, aus ihr zu weichen, denn den Himmel bedeckten die andern Traum-Landschaften.

Die Erden der Nacht (die Planeten) traten schon auf, die Sonnen der Nacht (die Fixsterne) gingen schon nach ihnen hervor, der Mond hatte schon das südöstliche Gewitter um sich gehüllt: als Emanuel sah, daß es Zeit sei, die Szenen des Tals zu endigen und auf sein Tabor zu gehen, um dem Tod das Flügelkleid seiner Seele zu geben. Stockend bat er seinen Viktor, ein wenig vorauszugehen, damit er nicht das Trennen vom Blinden sähe und sich etwan durch eine Teilnahme verriete; denn bei dem Blinden hatte Viktor die Reise in die andre Welt nur für eine auf dieser ausgegeben. Er stellte sich unglücklich hinaus vor die verstummten schwülen Gefilde, in denen einmal die Paradieses-Ströme seiner Liebe gegangen waren, auf denen er einmal an Klotildens Seite schönere Abende gesehen hatte; auf der Erde war Totenstille wie in einer Kirche nachts, bloß den Himmel umbrausete ein auf die Erde gekrümmtes Bleigewölk, und der Tod schien von Wolke zu Wolke zu gehen und sie zur Schlacht zu ordnen.

Endlich hört' er Julius' Weinen. Emanuel floh her aus, aber in seinen Augen hingen schwerere Tropfen, als seine vorigen waren. Und da der verlassene Blinde sein dunkles Haupt unter der Haustür von seinen Freunden wegdrehte, entweder weil er ihren Weg nicht wußte oder weil er horchen wollte, welchen sie nähmen, so konnte Viktor dem Gebeugten, der in einer doppelten Nacht wohnte, kaum vor inniger Wehmut zurückrufen: er komme nach zwölf Uhr wieder.

In dem kahlen Abendgruß: »Gute Nacht, schlaft wohl«, den Emanuel gab und bekam, war mehr Tränenstoff als in ganzen Elegien und Abschiedreden: so sehr sind die Worte nur die Inschriften[1131] auf unsern Stunden und die Ripienstimmen und die Bezifferung unserer Grundnoten.

Sobald Emanuel vor den Nachthimmel, vor den daran angeketteten Orkan und vor seinen Totenberg trat: so hoben Engel seine erweichte Seele wieder – er sah den Tod vom Himmel steigen und auf seinem Grabe den Freiheitbaum aufrichten – er sah die freundlichen Sterne näherkommen, und es waren die himmlischen Augen seiner Freunde und aller seligen Wesen. Viktor durfte seine dichterischen Hoffnungen durch keine Gründe stören; vielmehr wurd' er selber von Stunde zu Stunde tiefer in den Glauben an seinen Tod hineingezogen; wenigstens fürchtete er, daß der heutige Entzückung-Sturm die mürbe Wohnung dieses schönen Herzens und seiner Seufzer zertrennen und daß der Tod so lange um die edle Seele schleichen würde, bis er sie an ihren Flügeln, wenn sie in Wonne sie aufrichtete, vom Leben pflücken könnte, wie Kinder den Schmetterling so lang umgehen, bis er auf seiner Blume die Schwingen aneinandergefaltet in die räuberischen Finger erhebt.

Emanuel verschob durch Umwege das Ersteigen des Berges, um seinen gebrochnen Freund, dessen Augen nicht mehr trocken wurden, von einer Sonne in die andre zu heben, damit er in dieser hohen Stellung aus Lichtern herunterblickte auf diese Schattenerde und darauf den befreundeten Leichnam vor Kleinheit kaum bemerkte. »Darum« (sagt' er) »wird ja diese Erde alle Tage verfinstert, wie Käfige der Vögel, damit wir im Dunkeln leichter die höheren Melodien fassen. – Gedanken, die der Tag zu einem dunkeln Rauch und Nebel macht, stehen in der Nacht als Flammen und Lichter um uns, wie die Säule, die über dem Vesuv schwebt, am Tage eine Wolkensäule scheint und in der Nacht eine Feuersäule ist.« Viktor merkte die Absicht zu trösten und wurde desto untröstlicher und schwieg immer.

Sie gingen nicht an der Seite des Berges zur Trauerbirke hinauf, sondern an seinem langsam aufsteigenden Rücken. Sie übersahen das Theater der Nacht, über welches der Mond und das Gewitter verhüllet heraufrückten. Emanuel stand still und sagte: »O blick hinauf und sieh die ewig funkelnden Morgenauen, die um den[1132] Thron des Ewigen liegen! – Hätte aus dem Himmel nie ein Stern geschienen, nur dann würde sich der Mensch ängstlich in den letzten Schlaf auf einer wie ein Leichengewölbe überbauten dunkeln Erde ohne Öffnung legen.« Vor den Augen, die sich an Sonnen hefteten, schweiften blinkende Johanniswürmchen, und eine Fledermaus zischte nach einem grauen Nachtschmetterling – drei Johannisfeuer, vom Aberglauben angeschürt, zogen drei ferne Hügel aus der Nacht – alles Leben schlief unter seinem Blatt, unter seinem Zweig, näher an seiner Mutter, und in den herumgestreueten Träumen waren Gewitter – Fische taumelten wie Leichen auf der Wasserfläche als Vorboten des Donners.

Plötzlich fing Emanuel mit einer unpassenden, nicht genug bezwungnen Stimme an: »Wahrlich wir würden gefaßter neben dem Genius stehen, der die letzten Schlummerkörner auf die Augen unsrer Lieben fallen läßt, wenn sie nachher nicht in Kirchengewölben, in Kirchhöfen, sondern auf Auen ausschliefen, unter dem Himmel, oder als Mumien in Zimmern.... Jetzt, mein Geliebter,« (sie hörten schon das Wehen der Trauerbirke) »herrsche also über deine Phantasie; du wirst neben der Birke meine Ruhehöhle offen sehen – ich habe sie seit vier Wochen mit Blumen ausgesäet und überkleidet, die jetzt meistens blühen – du legst mich morgen ohne alles andre so in meinem Schlafkleide unter die Blumen – und deck es morgen zu – gib aber nicht, du Guter, meinem kleinen Blumenstück solche harte Namen wie andre Menschen – morgen, sag' ich; heute geh sogleich heim zu deinem Julius, wenn ich....« (gestorben bin, wollt' er sagen, konnt' aber die weiche Umschreibung vor Rührung nicht finden.) -

Ach das gebrochne Auge riß Horion mit einem Seufzer heraus aus der kalten offnen Grotte seines Geliebten, und er konnte nicht hinabsehn zu dem Blumenflor darin. Er schluchzete laut und sah aus Tränen zergangen in Emanuels Angesicht, um zu sehen, ob er lebe oder sterbe. Zwei Johanniswürmchen durchkreuzten einander in glimmendem Bogen über dem Grabe, sie senkten sich daneben hin und löschten aus, denn ihr Licht vergeht mit ihrer Bewegung.

In Viktors Wunden griff jetzt der Donner mit seinem ersten Schlag – den östlichen Horizont deckte ein zerfließender Blitz,[1133] und die Flamme lief über die Alpengebirge – die Gewitterstange auf dem Pulverturm schimmerte, seine Gewitterstürmer erklangen, die Irrwische spielten um den Turm, und mitten in der Luft rückte ein schwebender Lichtpunkt fürchterlich auf ihn zu.

In Maienthal wurde elf Uhr ausgerufen – um zwölf Uhr glaubte Emanuel dahin zu sein. – Endlich fiel Emanuel, selber vom fremden Kummer übermannt, an seinen Freund und sagte: »Was hast du mir noch zu sagen, mein Geliebter, mein unaussprechlich teurer Freund? – Meine Stunden sind dahin – unser Lebewohl kömmt – sage deines und störe dann mein Sterben nicht. – Sei still, wenn der Tod den Berg heraufsteigt, und jammere nicht nach, wenn er mich erhebt. – Was hast du mir noch zu sagen, mein ewig Geliebter?« – »Nichts mehr, du Engel des Himmels! ich kann auch nicht«, sagte der verblutete Mensch und legte das gedrückte Haupt mit Tränenströmen auf Emanuels Schulter.

»Nun so brich dein Herz von meinem ab und lebe wohl – sei glücklich, sei gut, sei groß – ich habe dich sehr geliebt, ich werde dich noch einmal lieben und dann unendlich – Guter! Treuer! Sterblicher wie ich! Unsterblicher wie ich!«

Die Gewitterstürmer läuteten heftiger – der schwebende Licht- punkt trat an den Pulverturm – alle eingehüllten Wolken-Vulkane tobten nebeneinander und warfen ihre Flammen zusammen, und die Donner gingen wie Sturmglocken zwischen ihnen – die beiden Menschen lagen aneinander dicht, stumm, keuchend, drückend, zitternd vor dem letzten Wort.

»O sprich noch einmal, mein Horion, und nimm Abschied von deinem Freund – sage nur zu mir: Ruhe wohl! und lasse den Sterbenden.«

Horion sagte: »Ruhe wohl!« und ließ ihn. Seine Tränen hörten auf, und seine Seufzer verstummten. Der Donner schwieg fürchterlich. Die Natur ordnete stumm ihr Chaos im Gewitter. Kein Blitz schimmerte durch das Trauergerüste am Himmel. Bloß das Totengeläute der Gewitterstürmer sprach noch fort, und der Lichtpunkt rückte noch fort.

Unter der weiten Stille lag der Schlaf, die Träume und eines Freundes trostloses Herz.[1134]

In dieser Ewigkeit-Stille trat Emanuel ohne eine fremde Hand an die hohe Pforte, die schwarz hinaufsteigt über die Zeit.

Die Stille ist die Sprache der Geisterwelt, der Sternenhimmel ihr Sprachgitter – aber hinter dem Sternengitter erschien jetzt kein Geist, und Gott nicht.

Es kam die Minute, wo der Mensch seinen Körper ansieht und dann sein Ich und dann schaudert. – Das Ich steht allein neben seinem Schatten – ein Schaumglobus von Wesen zittert, knistert und wird niedriger, und man hört die Bläschen verschwinden und ist eines.

Emanuel schaute hinein in die Ewigkeit, sie sah wie eine lange Nacht aus.

Er sah um sich, ob er keinen Schatten werfe – ein Schatten wirft keinen Schatten.

Ach ein Stummer legt den Menschen in die Wiege, ein Stummer drückt ihn ins Grab. – Wenn er eine Freude hat, sieht es aus, als lachte ein Schlafender – wenn er jammert und weint, sieht es wie das Weinen im Schlafe. – Wir blicken alle zum Himmel auf und bitten um Trost; aber droben im unendlichen Blau ist keine Stimme für unser Herz – nichts erscheint, nichts tröstet uns, nichts antwortet uns. –

Und so sterben wir....

– O Allgütiger! wir sterben froher; allein der arme Emanuel kämpfte in der stillen Finsternis mit grimmigen Gedanken, die er so lange nicht gesehen hatte und die nach seinem erbleichenden Angesicht krallten. Aber diese Larven rennen davon, wenn ein freundliches Bruderangesicht vor dich tritt und dich umarmt. – Horion richtete sich auf und erwärmte den Gebeugten durch einen stummen Abschied wieder. Ein Sturmwind stürzte sich aus dem klaren Westen in die stumme arbeitende Hölle und jagte alle Blitze und alle Donner heraus. Siehe da flog aus dem zurückgewehten Gewölke der lichte Mond wie ein Engel des Friedens in das unbesudelte Blaue heraus – da unterschied sich im Lichte Emanuel von seinem Schatten – da beschien der Mond einen Regenbogen aus blassen Farbenkörnern, der in Südosten (der Pforte nach Ostindien) durch die dunklen Flutsäulen drang und sich über die[1135] Alpen bog – da sah Emanuel die vorige Himmelleiter wieder über die Erdennacht gelehnt – da kam die Entzückung ohne Maß, und er rief mit ausgebreiteten Armen: »Ach dort in Morgen, in Morgen, über die Straße nach dem Vaterland, da schimmert der Triumphbogen, da öffnet sich die Ehrenpforte, da ziehen die Sterbenden hindurch«...

Und da es jetzt zwölf Uhr schlug: so breitete er seine Hände verzückt gegen den Himmel, der blau war über dem Berge, und gegen den Mond, der heiter neben dem Gewitter ruhte, und rief brechend mit seligen Tränen: »Habe Dank, Ewiger, für mein erstes Leben, für alle meine Freuden, für diese schöne Erde.« –

Um Maienthal zogen Julius' Flötentöne, und er sah auf die Erde nieder.

»Und bleibe du gesegnet, du gute Erde, du gutes Mutterland, blühet, ihr Gefilde Hindostans, lebe wohl, du schimmerndes Maienthal mit deinen Blumen und mit deinen Menschen – und ihr Brüder alle, kommt mir nach einem langen Lächeln selig nach. Jetzt, o Ewiger, nimm mich hinauf und tröste die zwei Bleibenden.«

Die Todesengel standen auf allen Wolken und zogen ihre blitzenden Schwerter aus den Nächten – ein Donner schlug hinter dem andern, wie wenn aufgeworfen würde eine Gefängnistür des Erdenlebens nach der andern.

Der schreckliche Lichtpunkt hatte sich verkrochen aus der Mitte der Luft in den Pulverturm.

Die Todesstunde war schon vorüber und doch das Leben noch nicht.

Emanuel zitterte sehnend und bange, weil er noch kein Sterben fühlte – bewegte die Hände, als wenn er sie jemand geben wollte – starrte in die Blitze, als wenn er sie auf sich ziehen wollte....

»Tod! fasse mich,« rief er außer sich – »ihr gestorbnen Freunde! o Vater! o Mutter! brecht ab mein Herz, nehmet mich – ich kann, ich kann nicht mehr leben.« – –

Da fuhr ins Gewitter eine lodernde rasselnde Weltkugel hinauf, und der Pulverturm zerschoß wie eine auseinandergesprengte Hölle. –[1136]

Der Knall warf den flammenden Emanuel erblaßt in sein Blumengrab; der ganze donnernde Osten zitterte; der Mond und der Regenbogen wurden zugehüllt....


Die selige Nachmitternacht


Viktor regte, sinnlos darniedergeworfen, endlich den Arm und tastete damit an das kalte Angesicht, aus dem heute das tolle Totengebein diese Nacht gelesen hatte und das aus dem Grabe ragte, gen Himmel gekehrt. Er warf sich darüber und drückte seins an das bleiche. Eh' noch seine Tränen durch den harten Schmerz sich durchgerissen hatten: trugen die Wolken ihre Sturmfässer und ihre Leichenfackeln zurück, und durchsichtige Schaumflocken überflossen weichend den Mond und senkten sich endlich über das ganze Tal und über das stille Paar in tausend warmen Tropfen nieder, die den Menschen so leicht an seine erinnern. Der von einem der drei Engländer aufgesprengte Pulverturm hatte das Seetreffen der brennenden Wolken zertrennt.

Das zerstückte Gewitter hatte sich in kleinen Wolken herumgezogen und stand über der Mitternachtröte in Nordosten, als die kalte Betäubung die beiden Menschen noch zusammenheftete; endlich kam von oben herab eine heiße Hand zwischen ihre Angesichter, und eine furchtsame Stimme fragte: »Schlafet ihr?«

»O Julius,« (sagte Horion) »komm ins Grab, dein Emanuel ist gestorben«....

Ich mag die grausamen Minuten nicht zählen, die zwei Unglückliche liegen ließen mit dem Stachelgürtel des Jammers an einen Erblaßten gebunden. Aber schönere kamen, die vorher jedes Wölkchen aus dem Himmel drückten und den angelaufnen Mond abwischten und dann die heißen Augen öffneten vor der gereinigten abgekühlten Silbernacht.

»Ach er ist wohl nur ohnmächtig?« sagte Viktor sehr spät. Sie richteten sich seufzend auf. Sie zogen müde den Geliebten aus dem Grabe. Sie wollten ihn in seine Wohnung hinuntertragen, um da die Sonnenwende dieser schönen Seele wie der Johannissonne wieder zu erzwingen. Mit den dünnen Kräften, die ihnen der Gram[1137] noch übrig gelassen, und mit dem wenigen Licht, das noch in zwei nasse Augen kam, rangen sie sich mit dem zerknickten Engel, indes zwei arbeitende Schatten neben ihnen fürchterlich einen dritten im Schimmer trugen, vom Berge in die Wiesen herunter. Hier ging Viktor allein ins Dorf, um vielleicht einen tröstlichern als einen Leichenwagen zu besorgen. Der Blinde hielt sich an einen Birkenbaum, Emanuel schlief wie die andern Blumen, und auf ihnen, vor dem Monde... Aber Julius hörte plötzlich den Toten reden und ihn durch das Gras streifen; und er rannte, von Entsetzen verfolget, davon....

– Genius der Träume! der du durch den neblichten Schlaf der Sterblichen trittst und vor der einsamen, in einen Leichnam gesperrten Seele die glücklichen Inseln der Kindheit heraufziehest, o der du darin unsern verwesten Freunden wieder Wangenblüte gibst und unserm armen wahnsinnigen Herzen vergangne Himmel zeigst und Eden-Widerschein und rinnende Auen auf Wolken! – Magischer Genius! tritt in diese heilige Nacht vor einen Menschen, der nicht schläft, und wende deinen überflorten Spiegel auf mein offnes Auge, damit ich darin die elysische Lichtwelt, die mit unserm Erdschatten kämpfet, in der doppelten Verfinsterung als eine blasse Luna sehe110 und male! –

Die entzückte Stimme des Toten rief: »Sei gegrüßet, du stilles Elysium! o du schimmerndes Land der Ruhe! nimm den neuen Schatten auf- ach wie glimmst du sanft – wie wehest du sanft wie ruhest du sanft«....

Emanuels Augen waren aufgegangen; aber in seinem Gehirn brannte der elysische Wahnsinn, er sei gestorben und erwache in der zweiten Welt. O du Überseliger! dich umfing ja auch ein blinkendes Eden – ach dieses Schimmern, dieses Wehen, dieses Duften, dieses Ruhen war zu schön für eine Erde. Der Mond überwebte mir Silberfäden wie mit fliegendem Sommergespinste das Nacht-Grün – von Blatt zu Blatt, von Bäumen zu Bäumen reichte die Funkendecke des überstrahlten Regens – über allen Wassern wankten flimmernde Nebelbänke – ein leises Wehen warf tropfende[1138] Edelsteine von den Zweigen in die Silberflüsse – die Bäume und die Berge stiegen wie Riesen in die Nacht – der ewige Himmel stand über den fallenden Funken, über den eilenden Düften, über den spielenden Blättern, er allein unveränderlich, mit festen Sonnen, mit dem ewigen Welten-Bogen, groß, kühl, licht und blau. – So glimmte, so duftete, so lispelte, so zauberte niemals ein Tal....

Emanuel umarmte den funkelnden Boden und rief aus der brennenden, der Wonne erliegenden, stockenden Brust: »Ach ist es denn wahr? halt' ich dich wirklich, mein Vaterland? – Ja, in solchen Gefilden der Ruhe werden die Wunden geheilt, die Tränen gestillt, keine Seufzer gefodert, keine Sünden begangen, da zerfließet ja das kleine Menschenherz vor zu voller Wonne und erschafft sich wieder, um wieder zu zerfließen So hab' ich dich längst gedacht, seliges, magisches, blendendes Land, das an meine Erde grenzt... O! liebe Erde, wo bist du wohl?«

Er hob das trunkne Auge in den mit Sternen betaueten Himmel und sah den erniedrigten Mond gelb und matt in Süden hängen; diesen hielt er für die Erde, aus der ihn der Tod in dieses Elysium getragen habe. Hier zerging seine Stimme in Rührung über den geliebten ersten Garten seines Lebens, und er redete die oben über die Sterne fliehende Erde an:

»Kugel der Tränen! Wohnung der Träume! Land voll Schatten und Flecken! – Ach auf deinen breiten Schattenflecken111 werden jetzt die guten Menschen beben und untersinken! ... Ein Ring aus Nebeln112 umkreiset dich, und sie sehen das Elysium nicht..... Ach wie still trägst du durch den seligen stillen Himmel dein Schlachtgeschrei – deine Stürme – deine Gräber; deine Dunstkugel schließet wie ein Sarg alle Klagstimmen um dich ein, und du rinnest mit überdeckten Gebeugten bloß als eine blasse stille Kugel über das Elysium hinüber! ...

– Ach ihr Teuern, mein Horion! mein Julius! ihr seid noch droben im Gewitter, ihr deckt meinen Leichnam zu, ihr blickt weinend gen Himmel und könnt das Elysium nicht sehen... O! daß ihr durch das nasse Gewölk des Lebens schon durch wäret –[1139] aber vielleicht hab' ich schon lange geschlafen und gewacht, vielleicht geht die Zeit auf der Erde anders als in der Ewigkeit – Ach daß ihr hernieder kämet in die stillen Gefilde!« Er sah im magischen vergrößernden Schimmer zwei Gestalten gehen. »O wer ists?« rief er, entgegenfliegend. »O Vater! o Mutter! seid ihr hier?« – Aber da er näher kam: sank er in vier andre Arme und stammelte: »Selig, selig sind wir jetzt, mein Horion! mein Julius!« – Endlich sagt' er: »Wo sind meine Eltern und meine Brüder und Klotilde und die drei Brahminen? Wissen sie nicht, daß ihr Dahore in Elysium ist?«

Viktor sah trostlos dem wahnsinnigen Entzücken seines Geliebten zu und sagte weder Ja noch Nein. Dieser schauete himmlisch-lächelnd und liebe-strömend in Julius' Angesicht und sagte: »Blick mich an, du hast mich auf der Erde nicht gesehen.« – »Du weißt ja, daß ich blind bin, mein Emanuel!« sagte der Blinde. Hier floh der Wahnsinnige mit wegzuckenden Augen und mit einem Seufzer gegen den Mond von den Freunden hinweg und sagte leise zu sich: »Die zwei Gestalten sind nur Schattenträume aus der Erde – ich will sie nicht ansehen, damit sie zerfließen. – So reichet also der Schatten- und der Traumkummer der Erde bis ins Eden herüber. Ich bin wohl noch im Totentraum, denn die Gegend hier sieht wie die Gegenden in meinen Lebensträumen aus – oder ist dieses nur der Vorhof des Himmels, weil ich meine Eltern nicht finde«.... Er sah gegen die hohen Sterne: »Wo steh' ich jetzt unter euch? Neue Himmel liegen an neuen Himmeln. – – Ach sehnet man sich hier denn auch?«

Er seufzete, und wunderte sich, daß er seufzete. Er lehnte sich an den perlenden Blumenhügel, gekehrt mit dem Rücken gegen die geliebten Schatten, und mit den Augen gegen das anglimmende Morgenrot, und suchte und träumte – aber endlich deckte die Morgenkühle die suchenden, geblendeten, brennenden Augen, die heute bald auf Schreckgestalten, bald in Wonnemeere gefallen waren, mit leisem Schlummer und mit ähnlichen Träumen zu.... »Ruhe sanft, du müder Mensch!« sagte sein Freund; aber der Schläfer erglühte mit dem Horizont, und der alte Wahnsinn spielte in ihm weiter....[1140]

Ein Traum und der Morgen legten für ihn ein noch höheres Elysium an.

Ihm träumte, Gott werde von seinem Sonnenthrone steigen und in Gestalt eines unsichtbaren unendlichen Zephyr-Wehens über das Elysium gehen.

Der erste Morgen des Sommers häufte um ihn den Brautschmuck der Erde – er durchzog die Gefilde mit Perlenbänken von Tau und warf über die wühlenden Bäche das Zitter- und Glanzgold des herabgeschwommenen Morgenrots und legte den Büschen das Armgeschmeide von brennenden Tropfen an. – Aber erst als er alle Blumen auseinandergespalten – alle freudigzitternde Vögel in den Glanzhimmel gestreuet – in alle Gipfel Singstimmen gehüllt -als er den verwelkten Mond unter die Erde versenkt und die Sonne wie einen Götterthron über aufgeblühte Wolkenkränze aufgerichtet und über alle Gärten und um alle Wälder ineinandergewundne Regenbogen von Tau gehangen hatte – und als der Selige träumend stammelte: »Allgütiger, Allgütiger, erscheine im Elysium!« – da weckte ihn der langsam fließende Morgenwind und führte ihn in die tausendstimmigen Jubelchöre der Schöpfung hinein und ließ ihn erblindend ins brausende flammende Elysium taumeln. – – –

O siehe! jetzo überfloß ein unermeßliches Atmen kühlend, regend, lispelnd das ganze entbrannte Paradies und die kleinen Blumen bogen sich schweigend nieder und die grünen Ähren walleten säuselnd zusammen und die erhabnen Bäume zitterten und brausten – aber nur die große Brust des Menschen trank den unendlichen Atem in Strömen ein, und Emanuels Herz zerfloß, eh' es sagen konnte: »Das bist du, Alliebender!«

– Du, der du mich hier liesest, leugne Gott nicht, wenn du in den Morgen trittst oder unter den Sternenhimmel, oder wenn du gut oder wenn du glücklich bist! –

– Aber, unglücklicher Emanuel!

Du sahest fünf spielenden Trauermänteln zu und hieltest die schönen Schmetterlinge für selige Psychen. – Du hörtest hinter deinem Hügel in die Erde hauen, als mache man ein Grab. – Du sahest deinen guten Blinden an und sagtest doch: »Schatten![1141] Weiche..... Fürchte dich vor Gott, der vorüberging, und verschwinde!« – Aber du sagtest vorher noch etwas, was ich heute nicht enthülle –

– Mein Herz zittert vor der künftigen Zeile! –

Heulend vor Schmerz, grinsend vor freudiger Wut, sprang das tolle Totengebein in die selige Ebene hinter dem Hügel hervor und trug in seiner Rechten eine abgehauene blutige Hand und schüttelte aus dem linken Stumpfe, dem sein Wahnsinn sie abgehacket hatte, rieselnde Blutbögen und drückte mit dem rechten Arme ein Grabscheit an sich, um die Hand zu begraben, und schrie jubelnd und greinend: »Der Tod erschnappte mich daran, ich hab' sie aber abgezwickt – und wenn er das Grab der Faust sieht, ist er so dumm und denkt, ich lieg' drin... Ach! du da! Leg dich doch in den Sarg zu Bett; er hat dir die Augen ausgebohrt und das Maul mit Moder beklebt Brr!«

»O Allgütiger, du hast mich verdammt!« stammelte Emanuel; aus seiner zermalmten Lunge riß sich das gejagte Blut, und der Trostlose schwankte sterbend auf die vollgebluteten Blumen seines verlornen Himmels nieder....

So nimmt ein Tag dem andern den Himmel, und eh' der beraubte Mensch dort in das letzte Paradies eintritt, hat er hier zu viele verloren! – Ach eine von Wunden geöffnete Brust tragen wir in jede Frühlingluft dieses Lebens und in den Äther des zweiten; und sie muß erst zugeschlossen werden, eh' sie sich füllen kann!....


Der sanfte Abend


Gegen Mittag macht' er die müden Augen auf, aber bloß um sie ins Grab fallen zu lassen, das der Tod neben ihm unter seinem Schlafe aufgeschlossen hatte. Jedoch der eine Wahnsinnige war der Arzneigott des andern gewesen; sein Traum vom Elysium war ausgeträumt, kurz vorher, eh' er erfüllet zu werden schien, und er war wieder vernünftig. Viktor sah aus allen Zeichen, daß wenigstens gegen Sonnenuntergang der Tod mit seinem Obstpflücker diese weiße Frucht von ihrem Gipfel brechen werde; aber er sah es ruhiger als gestern. Da er schon die Proberolle der[1142] Trostlosigkeit gemacht hatte, so sägten die Werkzeuge des Grams keinen neuen Riß ins Herz, sondern gingen nur im alten blutig hin und her. Wer einen im Sarg Erwachten nach Jahren zum zweitenmal hineinträgt, trauert schwerlich so heftig wie das erstemal.

Mit welchen veränderten Augen erwachte Emanuel in der Abendstube, wo er gestern die ersten Tränen vor Freude vergessen hatte! Seine Seele hatte, wie der traurige Baum von Goa, am Tage das nächtliche Gedränge von Blüten fallen lassen; seinem erkalteten Haupte kehrte die Erde nicht mehr die Auen-Seite der Dichtkunst zu, sondern die lichte der kalten Vernunft. Er gestand jetzt, daß er die edlern Teile seines innern Menschen auf Kosten der niedern vollblütig gemacht – daß seine Todes-Hoffnung zu groß gewesen, wie seine dichterischen Flügelfedern – daß er die Erde nicht aus der Erde, sondern zu sehr aus dem Jupiter betrachtet, auf dessen Sternwarte sie zu einem Feuerfunken einkriechen mußte, und daß er also die Erde verloren, ohne doch den Jupiter dafür zu bekommen. Vergeblich widersprach ihm Viktor mit dem wahren Satze, daß der höhere Mensch, gleich den Malern mit Wasserfarben, allezeit sein Lebensstück mit dem Hintergrunde und mit dem Himmel anfange, welchen Ölmaler und niedere Menschen zuletzt machen; seine Antwort war die Klage, daß er leider nicht fortgemalet bis zum Vorgrunde. Endlich warf er sich auch vor, daß er zu viele Umstände bei einer so kleinen Trennung gemacht, als der Tod wenigstens für den, der gehe, sei, da die andern Trennungen auf der Erde doch länger, herber und doppelseitig wären.

Sie kamen dadurch auf die Erkennungen jenseits dieses Theaters. Viktor sagte, er könne Vermutungen über die Erde hinaus nicht so verschreien wie mancher Weise; denn wir müßten doch über die Erde hinaus vermuten und denken, wir möchten bejahen oder verneinen. »Ohne die Fortdauer der Erinnerung« (sagte er) »ist mir die Fortdauer meines Ich so viel wie die eines fremden, d.h. keine; sobald ich mein jetziges Ich vergesse, so könnte ja jedes fremde statt meiner unsterblich sein. Auch folgt der Untergang meiner Erinnerung nicht aus der irdischen Abhängigkeit von meinem Körper; denn diese Abhängigkeit haben alle geistige Kräfte mit ihr[1143] gemein, und es müßte dann aus dieser Abhängigkeit auch der Untergang der andern folgen; und was bliebe denn noch zur Unsterblichkeit übrig?« – Emanuel sagte: der Gedanke der Wiedererkennung, so viel er auch Sinnliches voraussetze, sei so süß und hinreißend, daß, wenn sich die Menschen gewiß davon machen könnten, keiner eine Stunde hier würde zögern wollen, besonders wenn man den Himmels-Gedanken ausmalte, alle große und edle Menschen auf einmal zu finden. »Ich habe mir oft« (sagt' er) »die künftige Erinnerung nach Ähnlichkeit der jetzigen ausgebildet und mußte immer vor Entzückung aufhören, wenn ich mir dachte, wie in jener Erinnerung die Erde zu einer dunkeln Morgen-Aue und unser Leben zu einem weit entrückten, mit Mondschein erhellten Tag eingehen werde. – O wenn wir schon vor dem Bilde einiger Kinderjahre zerfließen, wie sanft wird uns einmal das Bild aller Kinderjahre anblicken.« – Viktor wehrte diese tödlichen Entzückungen ab, und nachdem er zum Übergange gesagt: »Eine Verbindung muß in jedem Fall diese Erde mit der zweiten haben«, kam er auf etwas anders, das ihm in dieser Nacht so aufgefallen war .................

Ich verhüll' es heute noch, was Viktor fragte und was Emanuel entdeckte; die neue Perspektive würde unser Auge zu lange vom großen Kranken abziehen.

Der Blinde hielt ängstlich die heiße Hand desselben in einem fort, um den geliebten Vater nicht zu verlieren; und wenn ihm Emanuel lange sanften Trost über seinen Tod, gleichsam kühle Blätter um die entzündeten Schläfe herumgelegt hatte: so sagte er nichts als innigst flehend: »Ach Vater, wenn ich dich nur gesehen hätte, nur einmal!« –

Emanuel schien gefaßt zu sein; aber er täuschte sich; seine jetzige Gleichgültigkeit gegen die Erde war im Grunde schneidender als die nächtliche, die bloß ein anderer, mit den Zaubertränken der Phantasie vermischter Genuß des Lebens war. In seine Reue über seinen dichterischen Selbermord schien sich fast Freude über die Folgen zu mengen. Daher sagte er mit einem rührend-gewissen Blicke: »heute gegen Abend werd' er gewiß gehen und seine[1144] zwei letzten und besten Freunde nicht mehr mit diesen Verzögerungen des Abschiedes quälen. – Der Genius der Welten werde ihm seine letzten Fehler vergeben und auf die hiesige Entfernung von ihm, die ihm zu lange wurde, dort keine zweite folgen lassen.«

Je länger er sprach, desto mehr rückte das alte Blüten-Eden wieder in seine matte Seele ein. – Jetzt tat er eine sonderbare herzzerschneidende Bitte an seine Freunde. Da bekanntlich das Gehör den Sterbenden am längsten bleibt, indes schon alle andere Sinnen sich gegen die Erde zugeschlossen haben: so sagte Emanuel zu Viktor: »Sobald du siehest, daß es sich mit mir ändern will, so gib deinem Julius die Flöte, und du! spiele mir dann das alte Lied der Entzückung, damit ich an den Tönen sterbe, wie ich schon oft wünschte, und spiele es auch noch einige Minuten nach dem Ende fort.«

Er dachte nun darüber nach, wie schön um seine letzten Gedanken Töne ziehen würden, wie Vogelgesang um die untergehende Sonne; und in seinem erloschenen Geiste flogen wieder die alten Funken auf: »Ach ich werde selig von hinnen ziehen. O meine Seele konnte in dieser Nacht schon diesem Erdboden einen überirdischen Schmuck anlegen und ihn für Eden halten: ach erst wenn der Boden schöner und die Seele größer ist...«

Er wurde wieder ohnmächtig, aber der Puls schlug noch leise. – Und hier in diesem Hinbrüten war es, wo er von der Erde als letzte Gabe den schauderhaft-süßen Traum empfing, in welchen der Körper die Gefühle seiner Kränklichkeit mischte und den er nach seiner Wiederbelebung mit einem neuen Nachträumen erzählte. Es ist der letzte sanfte Dreiklang unsers Körpers mit unserer weichenden Seele, daß er ihr noch in seiner Auflösung (wie wir von Ohnmächtigen, von Scheintoten unter dem Wasser etc. wissen) süße Spiele und Träume zuführt. –


Traum Emanuels, daß alle Seelen eine Wonne vernichte


Er ruhte verklärt in einem durchsichtigen farbicht-dunkeln Tulpenkelch, der ihn hin- und herwiegte, weil ein sanftes Erdbeben die Tulpenlaube auf der gebognen Stütze zu taumeln zwang. Die[1145] Blume stand in einem magnetischen Meer, das den Seligen immer stärker zog; endlich drückte er, hinausgesogen, sie nieder und sank als eine Tauperle aus dem umgebognen Kelche heraus...

Welch eine Farben-Welt! Ein Flockengewimmel von Äthergestalten wie seine stand schwebend über einer weiten Insel, um welche ein rundes Geländer von großen Blumen aufgeblättert spielte – mitten über den Himmel der Insel flogen Abendsonnen hinter Abendsonnen – tiefer neben ihnen liefen weiße Monde nahe am Horizont kreiseten Sterne – und sooft eine Sonne oder ein Mond hinunterflog, schaueten sie himmlisch wie Engelaugen durch die großen Blumen am Ufer hindurch. Die Sonnen wurden von den Monden durch Regenbogen geschieden, und alle Sterne liefen zwischen zwei Regenbogen und stickten silbern die bunte Ringkugel des Himmels. Übereinander stiegen hinauf bunte Wolken, in denen ein Kern von Gold, von Silber, von Edelsteinen brannte – von Schmetterlingflügeln waren Staubwolken abgestreift, die wie fliegende Farben den Boden überhüllten, und aus dem Gewölke blitzten reißende Lichtflüsse, die sich alle ineinander verschlangen...

Und in diesem Farben-Getümmel ging eine süße Stimme umher und sagte überall: Vergehet süßer am Lichte.

Aber die Seelen erblindeten nur und vergingen noch nicht.

Da überfielen Abendwinde und Morgenwinde und Mittagwinde miteinander die Aue und wehten die hell-blauen und goldgrünen Wolken nieder, die aus Blumenduft entstanden waren, und falteten den Blumenring am Horizonte auf und trieben den süßen Rauch an die Herzen der Seligen. Der Blütennebel schlang sie in sich ein, das Herz wurde in die dunkeln Düfte wie in ein Gefühl aus der tiefsten Kindheit eingetaucht und wollte, vom heißen Blumendunste überflossen, darin auseinandertropfen. – Jetzo kam die unbekannte Stimme näher und lispelte sanft: Vergehet süßer am Duft.

Aber die Seelen taumelten nur und vergingen noch nicht.

Tief in der Ewigkeit aus der Mitternacht bog sich auf und nieder ein einziger Ton – ein zweiter stand in Morgen auf – ein dritter in Abend – endlich tönte aus der Ferne der ganze Himmel, und[1146] die Töne überströmten die Insel und ergriffen die erweichten Seelen... Als die Töne auf der Insel waren, weinten alle Menschen vor Wonne und Sehnsucht... Dann liefen plötzlich die Sonnen noch schneller, dann stiegen die Töne noch höher und verloren sich wirbelnd in eine schneidende, unendliche Höhe ach dann gingen alle Wunden der Menschen wieder auf und wärmten sanft mit dem rinnenden Blute jede Brust, die in ihrer Wehmut erstarb – ach dann kam ja alles fliehend vor uns, was wir hier geliebet haben, alles, was wir hier verloren haben, jede teure Stunde, jedes beweinte Gefild', jeder geliebte Mensch, jede Träne und jeder Wunsch. – – Und als die höchsten Töne verstummten und wieder einschnitten und länger verstummten und tiefer einschnitten: so zitterten Harmonikaglocken unter den Menschen, die auf ihnen standen, damit das einschneidende Schwirren jeden Bebenden zerlegte. – Und eine hohe Gestalt, um die ein dunkles Wölkchen zog, trat auf in einem weißen Schleier und sagte melodisch: Vergehet süßer an Tönen.

Ach! sie wären vergangen und gern vergangen an der Wehmut der Melodie, wenn jedes Herz das Herz, nach dem es schmachtete, an seiner Brust gehalten hätte; aber jeder weinte noch einsam ohne seinen Geliebten fort.

Endlich schlug die Gestalt den weißen Schleier auf, und der Engel des Endes stand vor den Menschen. Das Wölkchen, das um ihn ging, war die Zeit – sobald er das Wölkchen ergriffe, so würde ers zerdrücken, und die Zeit und die Menschen wären vernichtet.

Als der Engel des Endes sich entschleiert hatte: lächelte er die Menschen unbeschreiblich lieblich an, um ihr Herz durch Wonne und durch das Lächeln zu zertreiben. Und ein sanftes Licht fiel aus seinen Augen auf alle Gestalten, und jeder sah die Seele vor sich stehen, die er am meisten liebte – und als sie einander vor Liebe sterbend anschaueten und aufgelöset dem Engel nachlächelten: griff er nach dem nahen Wölkchen – aber er erreichte es nicht.

Plötzlich sah jeder neben sich noch einmal Sich – das zweite Ich zitterte durchsichtig neben dem ersten, und beide lächelten sich zerstörend an und wurden miteinander höher – das Herz, das[1147] im Menschen bebte, hing noch einmal bebend im zweiten Ich und sah sich darin sterben. – –

O da mußte jeder von seinem Ich zu seinem Geliebten wegfliehen und, ergriffen von Schauder und Liebe, die Arme um fremde teure Menschen winden. – Und der Engel des Endes öffnete die Arme weit und drückte das ganze Menschengeschlecht in eine Umarmung zusammen. – Da glimmt, duftet, tönt die ganze Au – da stocken die Sonnen, aber die Insel wirbelt sich selber um die Sonnen – die zwei gespaltnen Ich rinnen ineinander ein – die liebenden Seelen fallen aneinander wie Schneeflocken – die Flocken werden zur Wolke – die Wolke schmilzt zur dunkeln Träne. –

Die große Wonneträne, aus uns allen gemacht, schwimmt durchsichtiger und durchsichtiger in der Ewigkeit. –

Endlich sagte leise der Engel des Endes: Sie sind am süßesten vergangen an ihren Geliebten. –

Und er zerdrückte weinend das Wölkchen der Zeit. –


*


In Emanuels Augen glänzten die Fieberbilder des Todes, mit denen sich jeder Schlaf, sogar der letzte, anfängt. Sein Geist hing wiegend in seinen schlaffen Nerven, von sanften Lüften angeweht; denn er war schon in jener zersetzenden Nerven-Entzückung der Ohnmächtigen, der Gebärenden, der Verbluteten, der Sterbenden. Aber seine ausgeleerte Brust stieg leichter auf, sein ziehender Geist dehnte den Lebensfaden dünner aus.

Viktor würde den Trost der dumpfen Betäubung genossen haben, womit übereinander gehäufte Schmerzen uns zusammendrücken, wenn er nicht dem armen Blinden jede Minute diese Schmerzen, d.h. alle Zurüstungen des Todes, hätte sagen müssen. Ach der Blinde besorgte vielleicht, seinem Lehrer zu spät mit dem Liede der Entzückung nachzurufen.

Es kam der Abend. Emanuel wurde stiller und sein Auge starrer, und es schien die Phantasien seines arbeitenden Gehirns in der Stube zu sehen, bis der Goldstreif der vorgesunknen Abendsonne, den ein Spiegel auf ihn richtete, gleichsam wie ein Blitz[1148] durch seine Traumwelt fuhr. Leise, aber mit anderer Stimme sagte er: »In die Sonne!« – Sie verstanden ihn und rückten sein Bette und sein Haupt dem schönen Abendregen der Abendsonne, dem er sonst so oft sein weiches Herz aufgeschlossen hatte, entgegen. Viktor erschrak, als er sah, daß seine Augen der Sonne ungeblendet und unbeweglich offenstanden.

Es war erhaben-still um drei zerrüttete Menschen; bloß ein Abendlüftchen flatterte in den Lindenblättern des Zimmers, und eine Biene zog um die Lindenblüten; aber draußen außerhalb dem Theater der Beängstigung ruhete ein seliger Abend auf den rot übersonnten Fluren unter freudigen, flatternden, singenden, trunknen Wesen.

Emanuel schauete still in die Sonne, die tiefer in die Erde drang; er krallte nicht am Deckbette wie andre, sondern hob seine Arme empor wie zu einem Fluge oder zu einer Umarmung. Viktor nahm seine geliebten Hände, aber sie hingen ohne Druck in seine nieder. Und als die Sonne wie eine lodernde Welt am Gerichtstage untersank in einer aufschießenden letzten Lohe: so blieb der Stille mit kalten Augen an der leeren Stelle der Sonne und merkte den Untergang nicht; und Viktor sah plötzlich wechselnde Blitze der Todessense gelb über das unverrückte Antlitz gehen. – Da gab er zerrüttet dem Julius die Flöte und sagte gebrochen: »Spiele das Lied der Entzückung, jetzt stirbt er.« –

Und Julius preßte mit strömenden verfinsterten Augen den schluchzenden Atem in die Flöte und erhob seine Seufzer zu himmlischen Tönen, um die entrinnende Seele unter ihrer Auswurzelung mit dem Nachklange der ersten Welt, mit dem Vorklange der zweiten Welt zu verhüllen und zu betäuben. –

Und als unter dem Liede ein seliges Lächeln über einen unbekannten Traum das erkaltende Gesicht verklärte – und als bloß eine Zuckung der Hand die Hand des trostlosen Freundes drückte, und bloß die Zuckung mit dem Augenlid winkte und weiter hinab die blassen Lippen öffnete und verging – und als die Abendröte die bleiche Gestalt bedeckte – – siehe da trat der Tod, kalt gegen die Erde und unsern Jammer, eisern, aufgerichtet und stumm, durch den schönen Abend unter die Lindenblüte hin zur[1149] überdeckten Seele im beruhigten Leichnam und reichte die verhüllte Seele mit unermeßlichem Arm von der Erde durch unbekannte Welten hindurch in deine ewige warme väterliche Hand, die uns geschaffen hat – in das Elysium, für das du uns gebildet hast – unter die Verwandten unsers Herzens – in das Land der Ruhe, der Tugend und des Lichts....

Julius stockte aus Schmerz, und Viktor sagte: »Spiele das Lied der Entzückung fort, er ist erst gestorben.« – Unter den Tönen drückte Viktor dem Geliebten die Augen zu und sagte mit einem Herzen über der Erde: »Nun schließet euch zu – der Geist ist über der Erde, dem ihr das Licht gegeben – du blasse geheiligte Gestalt, du geheiligtes Herz, der Engel in dir ist ausgezogen, und du fällst in die Erde zurück.« – Und hier umschlang er noch einmal die leere kalte Hülle und drückte das Herz, das ja nicht mehr schlug, ihn nicht mehr kannte, an sein heißes an; denn die Flötentöne rissen seine bleichen Wunden zu weit auseinander. – O es ist gut, daß bei dem Menschen, wenn er im grimmigen Weh zu festem Eis erstarrt, keine Töne sind: die weichen Töne leckten aus der durchbohrten Brust alles traurige Blut, und der Mensch würde an seinen Qualen sterben, weil er vermöchte, seine Qualen auszudrücken....

– Hier falle mein Vorhang vor alle diese Szenen des Todes, vor Emanuels Grab und vor Horions Schmerz! – Ich und du, mein Leser, wollen nun aus dem fremden Sterbezimmer gehen, um in nähere zu schauen, wo wir selber erliegen, oder wo unsere Teuersten erlagen. Wir wollen in jenen Zimmern unser Totenbette erblicken, aber unser Auge falle nicht nieder; – die Flamme der Liebe und der Tugend lodert aufwärts über die Verwesungen wir sehen um das Totenbette eine Bahre als Ruhebank, auf die alle Lasten abgelegt sind und das auseinandergedrückte Herz auch – wir sehen um das Totenbette eine große unbekannte Gestalt, die vom Ebenbilde Gottes den Erden-Rahmen bricht. – Aber wenn das Herz groß wird neben unserem Ruheort, so wird es weich neben dem fremden. – Wenn du, mein Leser, und wenn ich jetzt mit dieser bewegten Seele in die Zimmer blicken, wo wir die ewigen Wunden der Erde empfingen, so werden uns die blassen[1150] Gestalten, die darin ihre Totenaugen noch einmal gegen uns aufheben, zu sehr erschüttern und verwunden. – Ach, das dürft ihr auch, ihr geliebten Stummen – was haben wir euch denn noch zu geben als eine Träne, die uns schmerzet, als einen Seufzer, der uns beklemmt? Ach wenn der Trauerflor auf unserm Angesicht so bald zerreißet wie der Leichenschleier auf eurem – wenn der Grabmarmor mit eurem Namen sich auf eurer Leiche umkehren muß, um eine neue mit ihrem neuen Namen zu bedecken – o! wenn wir alle die ewige Liebe, das ewige Erinnern so leicht vergessen, das wir euch in eurer letzten Stunde versprochen haben; – ach so ist ja in diesen brausenden Tagen des Lebens eine stille Stunde wie diese heilig und schön, wo wir uns gleichsam an die eingefallnen Gräber mit den Ohren niederlegen und tief aus der Erde, obwohl jeden Tag dunkler, die Stimmen, die wir kennen, rufen hören: »Vergesset uns nicht – vergiß mich nicht, mein Sohn – mein Freund – meine Geliebte, vergiß mich nicht!«

Nein, wir wollen euch auch nicht vergessen. Und wenn es uns immerhin zu wehe tut: so rufe doch jeder von uns in dieser Minute die teuersten Gestalten aus ihren Ruhestätten vor sich und schaue die verwesten Züge, die wieder geöffneten Augen voll Liebe, die so lange geschlossen waren, und das teure aufgedeckte Angesicht recht lange an, bis ihm die alten Erinnerungen an die schönen Tage ihrer Liebe das Herz zerbrechen, und er nicht mehr weinen kann.

109

Im zweiten Stück des 2ten Bandes.

110

Die Sonne wird in ihrer Verfinsterung durch den Mond von uns im beflorten Spiegel angeschaut.

111

Unsere Erdmeere sehen in der Ferne wie die Flecken des Mondes aus.

112

Der Mondhof.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 1125-1151.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Flegeljahre. Eine Biographie

Flegeljahre. Eine Biographie

Ein reicher Mann aus Haßlau hat sein verklausuliertes Testament mit aberwitzigen Auflagen für die Erben versehen. Mindestens eine Träne muss dem Verstorbenen nachgeweint werden, gemeinsame Wohnung soll bezogen werden und so unterschiedliche Berufe wie der des Klavierstimmers, Gärtner und Pfarrers müssen erfolgreich ausgeübt werden, bevor die Erben an den begehrten Nachlass kommen.

386 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon