109. Zykel

[613] Albano fährt in der Beschreibung seiner Reise so fort:


»Eine helle Nacht ohnegleichen! Die Sterne allein erhellten schon die Erde, und die Milchstraße war silbern. Eine einzige, mit Weinblüten durchflochtene Allee führte der Prachtstadt zu. Überall hörte man Menschen, bald nahes Reden, bald fernes Singen. Aus schwarzen Kastanienwäldern auf mondhellen Hügeln riefen die Nachtigallen einander zu. Ein armes schlafendes Mädchen, das wir mitgenommen, hörte das Tönen bis in den Traum hinab und sang nach und blickte, wenn es sich damit geweckt, verwirrt und süßlächelnd umher, mit dem ganzen Ton und Traum noch in der Brust. Singend rollte auf einem dünnen leichten Wagen mit zwei Rädern ein Fuhrmann, auf der Deichsel stehend, lustig vorüber. – Weiber trugen in der Kühle schon große Körbe voll Blumen nach der Stadt; – in den Fernen neben uns dufteten ganze Paradiese aus Blumenkelchen; und das Herz und die Brust sogen zugleich den Liebestrank der süßen Luft.[613] Der Mond war hell wie eine Sonne an den hohen Himmel heraufgezogen, und der Horizont wurde von Sternen vergoldet – und am ganzen wolkenlosen Himmel stand die düstere Wolkensäule des Vesuvs in Osten allein.

Tief in der Nacht nach zwei Uhr rollten wir in und durch die lange Prachtstadt, worin noch der lebendige Tag fortblühte. Heitere Menschen füllten die Straßen – die Balkons warfen sich Gesänge zu – auf den Dächern blühten Blumen und Bäume zwischen Lampen, und die Horen-Glöckchen vermehrten den Tag, und der Mond schien zu wärmen. Nur zuweilen schlief ein Mensch zwischen den Säulengängen gleichsam an seinem Mittagsschlafe. – Dian, aller Verhältnisse kundig, ließ an einem Hause auf der Süd- und Meerseite halten und ging tief in die Stadt, um durch alte Bekannte die Abfahrt nach der Insel zu berichtigen, damit man gerade bei Sonnenaufgang aus dem Meere herüber die herrliche Stadt mit ihrem Golf und ihren langen Küsten am reichsten auffassete. Die Ischianerin wickelte sich in ihren blauen Schleier gegen Mücken und entschlief am schwarzsandigen Ufer.

Ich ging allein auf und ab, für mich gabs keine Nacht und kein Haus. Das Meer schlief, die Erde schien wach. Ich sah in dem eiligen Schimmer (der Mond sank schon dem Posilippo zu) an dieser göttlichen Grenzstadt der Wasserwelt, an diesem aufsteigenden Gebürg von Palästen hinauf, bis wo das hohe Sant Elmo-Schloß weiß aus dem grünen Strauße blickt. Mit zwei Armen umfassete die Erde das schöne Meer, auf ihrem rechten, auf dem Posilippo, trug sie blühende Weinberge weit in die Wellen, und auf dem linken hielt sie Städte und umspannte seine Wogen und seine Schiffe und zog sie an ihre Brust heran. Wie eine Sphinx lag dunkel das zackige Kapri am Horizont im Wasser und bewachte die Pforte des Golfs. Hinter der Stadt rauchte im Äther der Vulkan, und zuweilen spielten Funken zwischen den Sternen.

Jetzt sank der Mond hinter die Ulmen des Posilipps hinab, die Stadt verfinsterte sich, das Getöse der Nacht verklang, Fischer stiegen aus, löschten ihre Fackeln und legten sich ans Ufer, die Erde schien einzuschlafen, aber das Meer aufzuwachen. Ein Wind[614] von der sorrentinischen Küste trieb die stillen Wellen auf – heller schimmerte Sorrentos Sichel vom Monde zurück und vom Morgen zugleich wie silberne Fluren – Vesuvs Rauchsäule wurde abgeweht, und vom Feuerberg zog sich eine lange reine Morgenröte über die Küste hinauf wie über eine fremde Welt.

O es war der dämmernde Morgen, voll von jugendlichen Ahnungen! Spricht nicht die Landschaft, der Berg, die Küste gleich einem Echo desto mehr Silben zur Seele, je ferner sie sind? Wie jung fühlt' ich die Welt und mich, und der ganze Morgen meines Lebens war in diesen gedrängt!

Mein Freund kam – alles war berichtigt – die Schiffer angekommen – Agata wurde zur Freude geweckt – und wir stiegen ein, als die Morgenröte die Gebürge entzündete, und aufgebläht von Morgenlüften, flog das Schiffchen ins Meer hinaus.

Ehe wir noch um das Vorgebürg des Posilippo herumschifften, warf der Krater des Vesuvs den glühenden Sohn, die Sonne, langsam in den Himmel, und Meer und Erde entbrannten. Neapels halber Erdgürtel mit morgenroten Palästen, sein Marktplatz von flatternden Schiffen, das Gewimmel seiner Landhäuser an den Bergen und am Ufer hinauf und sein grünender Thron von S. Elmo standen stolz zwischen zwei Bergen, vor dem Meere.

Da wir um den Posilippo kamen, stand Ischias Epomeo wie ein Riese des Meers in der Ferne, mit einem Wald umgürtet und mit kahlem weißen Haupt. Allmählich erschienen auf der unermeßlichen Ebene die Inseln nacheinander wie zerstreuete Dörfer, und wild drangen und wateten die Vorgebürge in das Meer. Jetzt tat sich, gewaltiger und lebendiger als das vertrocknete vereinzelte starre Land, das Wasserreich auf, dessen Kräfte alle, von den Strömen und Wellen an bis zum Tropfen, zusammengreifen und sich zugleich bewegen. – Allmächtiges und doch sanftes Element! Grimmig schießest du auf die Länder und verschlingst sie, und mit deinen aushöhlenden Polypenarmen liegst du an der ganzen Kugel. Aber du bändigst die wilden Ströme und zerschmilzest sie zu Wellen, sanft spielest du mit deinen kleinen Kindern, den Inseln, und spielest an der Hand, die aus der leichten[615] Gondel hängt, und schickst deine kleinen Wellen, die vor uns spielen, dann uns tragen, und dann hinter uns spielen.

Als wir vor dem kleinen Nisita vorbeikamen, wo einst Brutus und Kato nach Cäsars Tod Schutzwehr suchten – als wir vor dem zauberischen Baja und dem Zauberschlosse, wo einst drei Römer die Teilung der Welt beschlossen, und vor dem ganzen Vorgebürge vorübergingen, wo die Landhäuser der großen Römer standen, und als wir nach dem Berge von Cuma hinabsahen, hinter welchem Scipio Afrikanus in seinem Linternum lebte und starb: so ergriff mich das hohe Leben der alten Großen, und ich sagte zu meinem Freunde: ›Welche Menschen waren das! Kaum erfahren wir es gelegentlich im Plinius oder Cicero, daß einer von ihnen dort ein Landhaus hat, oder daß es ein schönes Neapel gibt – mitten aus dem Freudenmeer der Natur wachsen und tragen ihre Lorbeern so gut wie aus dem Eismeere Deutschlands und Englands, oder aus Arabiens Sand – in Wüsten und in Paradiesen schlugen ihre starken Herzen gleich fort, und für diese Weltseelen gab es keine Wohnung, außer die Welt. Nur bei solchen Seelen sind Empfindungen fast mehr wert als Taten, ein Römer konnte hier groß vor Freude weinen! Dian, sage, was kann der neuere Mensch dafür, daß er so spät lebt hinter ihren Ruinen?‹

Jugend und Ruinen, einstürzende Vergangenheit und ewige Lebensfülle bedeckten das misenische Gestade und die ganze unabsehliche Küste – an die zerbrochnen Aschenkrüge toter Götter, an die zerstückten Tempel Merkurs, Dianens spielte die fröhliche leichte Welle und die ewige Sonne – alte einsame Brückenpfeiler im Meer, einsame Tempelsäulen und Bogen sprachen im üppigen Lebensglanze das ernste Wort – die alten heiligen Namen der elysäischen Felder, des Avernus, des toten Meers wohnten noch auf der Küste – Felsen- und Tempeltrümmer lagen untereinander auf der bunten Lava – alles blühte und lebte, das Mädchen und die Schiffer sangen – die Berge und die Inseln standen groß im jungen feurigen Tage – Delphine zogen spielend neben uns – singende Lerchen wirbelten sich im Äther über ihre engen Inseln heraus – und aus allen Enden des Horizonts kamen[616] Schiffe herauf und flogen pfeilschnell dahin. Es war die göttliche Überfülle und Vermischung der Welt vor mir, brausende Saiten des Lebens waren über den Saitensteg des Vesuvs und Posilipps herüber bis an den Epomeo gespannt.

Plötzlich donnerte es einmal durch den blauen Himmel über das Meer her. Das Mädchen fragte mich: ›Warum werdet Ihr bleich? es ist nur der Vesuv.‹ Da war ein Gott mir nahe, ja Himmel, Erde und Meer traten als drei Gottheiten vor mich – von einem göttlichen Morgensturm wurde das Traumbuch des Lebens rauschend aufgeblättert, und überall las ich unsere Träume und ihre Auslegungen.

Nach einiger Zeit kamen wir an ein langes, den Norden verschlingendes Land, gleichsam der Fuß eines einzigen Berges, es war schon das holde Ischia, und ich stieg selig-trunken aus, und da erst dacht' ich an das Versprechen, daß ich da eine Schwester finden sollte.«

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 613-617.
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