145. Zykel

[820] In der Dämmerung kam er auf dem Berge an, wo er die Stadt, die der Zirkus und die Bühne seiner Kräfte werden sollte, überschauen konnte, aber mit andern Augen als sonst; – Er gehört nun einer deutschen Heimat an – die Menschen um ihn sind seine Landesverwandte – die ahnenden Ideale, die er sich einst bei der Krönung seines Bruders von den warmen Strahlen entwarf, womit ein Fürst als ein Gestirn Länder beleuchten und befruchten kann, waren jetzt in seine Hände zur Erfüllung gelegt – sein frommer, von Landes-Enkeln noch gesegneter Vater zeigte ihm die reine Sonnenbahn seiner Fürsten-Pflicht – nur Taten geben dem Leben Stärke, nur Maß ihm Reiz – Er dachte an die um ihn her in Gräber gelegten eingesunknen Menschen, zwar hart und unfruchtbar wie Felsen, aber auch hoch wie Felsen, an die vom Schicksal geopferten Menschen, welche die Milchstraße der Unendlichkeit und den Regenbogen der Phantasie zum Bogen ihrer Hand gebrauchen wollten, ohne je eine Sehne darüberziehen zu[820] können. – »Warum ging ich denn nicht auch unter wie jene, die ich achtete? Wallete in mir nicht auch jener Schaum des Übermaßes und überzog die Klarheit?«

Das Schicksal trieb jetzt wieder Spiele der Wiederholung mit ihm: ein flammender Wagen rollte auf einem seitwärts vom Prinzengarten ablaufenden Wege davon; langsam rückte der Leichenwagen des Bruders mit seinen Totenlichtern den Blumenbühler Berg hinan. »Den langsamen Wagen kenn' ich, wer ist der schnelle?« fragte Albano den Lektor. »Herr von Cesara hat uns verlassen«, versetzt' er. Albano schwieg, aber er empfand den letzten Schmerz, den ihm der Ritter geben wollte. Er bat den Lektor sehr, ihn allein den Weg nach Blumenbühl gehen zu lassen, weil er lauter Umwege nehme.

Er wollte im Tartarus das Grabmal des Vater-Herzens ohne Brust besuchen. Als er durch die lärmvolle Vorstadt ging, sah ihn ein alter Mann lange starr an, floh plötzlich mit Schrecken davon und rief einer Frau, die ihm begegnete, zu: »Der Alte geht um!« Der Mann war in der Jugend ein Bedienter des alten Fürsten gewesen, war blind und vor kurzem wieder heil geworden; darum sah er den ähnlichen Sohn für den Vater an. – In der Stadt war die gewöhnliche Volksfreude über Wechsel laut. In einem Hause war ein Kinderball, in einem andern eine Treppe von Sprichwörterspielern; indes die Landtrauer jeden Tanzsaal und jede Bühne verschloß. Aus Roquairols Stube sahen fremde lustige Musensöhne heraus. Im Wirtshause des Spaniers hatte ein Knabe die Dohle an einem Faden. Einige Leute hört' er im Vorbeigehen sagen: »Wer hätte sich das träumen lassen?« – »Ganz natürlich,« (versetzte der andere) »ich mauerte damals auch mit an der fürstlichen Gruft und sah Ihn wie dich.« In der Bergstadt waren am Trauer-Schloß alle Fensterreihen hell beleuchtet, als geb' es ein froheres Fest. Im Hause des Ministers waren alle finster, oben unter den Statuen des Dachs schlich ein einziges Lichtchen umher.

»Nein,« (dachte Albano) »ich brauche nicht nachzusinnen, warum sank ich nicht auch mit unter. O genug, genug fiel von mir in die Gräber – Ich muß mich doch ewig nach allen entflohenen[821] Menschen sehnen; – wie Taucher schwimmen die Toten unten mit und halten mein Lebensschiff oder tragen die Anker.« Draußen sah er die alte Leichenseherin auf dem Blumenbühler Wege stehen, die ihm einst bei der Begleitung des Kahlkopfs begegnete; sie schauete starr hinauf dem erleuchteten Leichenwagen nach und glaubte, Träume zu denken und die Zukunft, als sie der Wirklichkeit zuschauete. Überall lagen in seiner Bahn die zuckenden Spinnenfüße, welche der erdrückten Tarantel der Vergangenheit ausgerissen waren. Durch einen Flor sah er das Leben liegen, wiewohl es kein schwarzer, sondern ein grüner war.

Sehnsüchtig kam er im Tartarus, aber schaudernd vor ihm, weil ihm die Vergangenheit mit ihren Geistern nachzog, auf dem herrnhutischen Gottesacker an, wo in einem Garten ohne Blumen, den eingesunkne, eingeschlafne Trauerbirken umstanden, der weiße Altar mit dem Vater-Herzen und der goldnen Inschrift schimmerte: »Nimm mein letztes Opfer, Allgütiger!« Vor dem in eine Brust von Stein geschlossenen Herzen, das sich mit nichts regte, nicht mit einem Stäubchen, tat er sein kindliches Gebet zu Gott und fühlte, daß er seine Eltern würde geliebt haben, und schwur sich, ihnen zu gefallen, wenn ihre hohen Augen sich noch in das tiefe Tal des Lebens richten. Er drückte den kalten Stein wie eine Brust an sich; und ging mit sanften Schritten weg, als ginge der Greis neben ihm in seiner eignen, ihm so ähnlichen Gestalt.

Er sah auf von seinem Wege zum Berge, wo ihn der Vater abends am Pfingst- und Abendmahlstage gefunden, wie zu einem Tabor der Vergangenheit; und im Gange durch das Birkenwäldchen erinnerte er sich noch wohl der Stelle221, wo einst zwei Stimmen, seine Eltern, seinen Namen ausgesprochen hatten. So von der heiligen Vergangenheit eingeweiht, kam er in seinem Kindheits-Dörfchen an und sah die Kirche wie das Wehrfritzische Haus von Lichtern erfüllt, obwohl jene zu traurigem Zweck und dieses zum frohen der Gäste.[822]

221

Titan, 1. Bd. S. 78.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 820-823.
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