Nr. 6. Kupfernickel

[605] Quod Deus Vultiana


Nach dem Ende der Geschichte trat der Flötenist mit grimmigem Gesicht an den betrübten Schulmeister, fragend: »Wäret Ihr nicht wert, daß ich sogleich ins Prisma sähe und Euch darin als lange Leiche anträfe? Wie, Ihr moralischer Mikrolog, Ihr moralischer esprit de bagatelle, Ihr konntet Euch aus Furcht vor schätzbaren Weissagungen erfrechen, gegen Euer Gewissen die Geheimnisse zweier bedeutender Brüder und Eltern aus dem Laub herauszuziehen? Es soll Euch gereuen, wenn ich Euch entdecke, daß ich kein wahres Wort gesagt und daß ich die Geheimnisse nicht vom Prisma, sondern von dem davongelaufenen Flötenisten Vult selber erfahren, der ein ganz anderer Mensch ist. Ich habe mit dem Manne im andern Elterlein, nämlich im Bergstädtlein bei Annaberg, vereint geblasen. Damit ich aber nach dem bisherigen Weismachen der Gesellschaft glaubhaft werde, so will ichs ihr so beschwören: ewig verdammt will ich sein, kenn' ich ihn nicht und habe ich nicht alles von ihm.«

Es war kein Meineid; denn er war ja jener entlaufne Vult selber, aber ein starker Schelm.

Der Kandidat nahm alles friedlich hin, weil ihn eine neue Lage, in welche er sich immer so schnell geworfen fühlte, daß er keine Sekunde Zeit zum Ausarbeiten eines moralischen Modells und Lineals bekam, über alles abstieß. Es gab wenige Kasuisten und Pastoraltheologen, die er nicht gelesen, sogar den Talmud, bloß um selig zu werden.

Er hielt mit jedem Steckbrief seine eigne Person zusammen, um, im Falle sie zufällig der begehrten gleichsähe, sofort juristisch und sittlich gesattelt zu sein, so wie er sich häufig des Mords, der Notzucht und anderer Fraischfälle heimlich aus Spaß anklagte, um sich darein zu finden, falls ein Bösewicht öffentlich dasselbe täte im Ernst.

Er versetzte daher nur, daß er dem Bruder Gottwalt keine frohere Nachricht bringen könne als die von Vults Leben, da er[605] den Flüchtling unendlich liebe. »So, lebt die Fliege noch?« fiel der Wirt ein. »Wir hielten sie sämtlich für krepiert. Wie sah er denn aus, gnädiger Herr?«

»Sehr wie ich (versetzte Vult und sah bedeutend trinkende Dikasterianten an), falls nicht das Geschlecht einen Unterschied macht; denn ich könnte wohl ebensogut eine verkleidete Ritterin d'Eon sein als diese bekannte Frau, Messieurs, – ob wir gleich davon abbrechen wollen. – Vult selber ist wohl der artigste Mann und der schönste, ohne es aber zu wissen, dem ich je ins Gesicht gesehen, nur zu ernst und zu gelehrt, nämlich für einen Musikus. Sie alle sollten ihn sehen, das heißet hören. – Und doch so bescheiden, wie schon gesagt. ›Der Musikdirektor der Sphärenmusik werd ich doch nie‹, sagt' er einst, sich verbeugend die Flöte weglegend, und meinte wahrscheinlich Gott. Jeder konnte mit ihm so frei reden wie mit einem russischen Kaiser, der in Kaiserspracht in die Kulisse von der Bühne kommt und fühlt, daß ihn Kotzebue geschaffen und er diesen. – Er war herzensgut und voll Liebe, nur aber zu aufgebracht auf sämtliche Menschen. Ich weiß, daß er Fliegen, die ihn plagten, einen Flügel auszupfte und sie auf die Stube warf mit den Worten: ›Kriecht! die Stube ist für euch und mich weit genug‹, indes er gleichwohl mehreren ältlichen Herren ins Gesicht sagte, sie wären siebenfache Spitzbuben, alte, obwohl in Milch eingeweichte Heringe, die sich dadurch für frische gäben; inzwischen, setzt' er sogleich dazu, er hoffe, sie deuteten ihn nicht falsch, und bewies ihnen jede Artigkeit. – Unsere erste Bekanntschaft machte sich, als er von einer fürstlichen Versteigerung herkam und einen erstandenen Nachttopf aus Silber öffentlich so närrisch vor sich her- und heimtrug, daß jede Gasse stutzig wurde, wodurch er ging. – Ich wollte, er wäre mit hier und besuchte die Seinigen. – Ich habe eine so besondere Liebhaberei für die Harnische, als meine Namensvettern, daß ich sogar im Leipziger Reichsanzeiger mir ihren Stammbaum und Stammwald bestimmt ausbat ohne Effekt.«

Jetzt schied er kurz und höflich und ging auf sein Zimmer, nachdem er bei allem milden Scheine eines Mannes von Welt den ganzen Tag alles getan, was er gewollt. Er roch ohne Anstand an[606] Fensterblumen vorübergehend; – er rückte auf dem Markte einem bettelnden Judenjungen seinen schlechten Bettel-Stil vor und zeigte ihm öffentlich, wie er anzuhalten habe – er setzte seinen französischen Paß in keinen deutschen um, bloß deshalb, um unter dem Stadttore die sämtliche Torschreiberei dadurch in Zank und Buchstabieren zu verflechten, indes er still dabei wartete und sagte, er steife sich auf seinen Paß – und am ersten Tage machte er den Scherz der Zauberschlägerei, von welcher oben der Wirt dem Kandidaten ins Ohr erzählt hatte. Er wußte nämlich ganz allein in seinem Zimmer ein solches Kunst-Geräusch zu erregen, daß es die vorübergehende Scharwache hörte und schwur, eine Schlägerei zwischen fünf Mann falle im zweiten Stocke vor; als sie straffertig hinaufeilte und die Türe aufriß, drehte sich Quod Deus Vult vor dem Rasierspiegel mit eingeseiftem Gesichte ganz verwundert halb um und fragte, indem er das Messer hoch hielt, verdrüßlich, ob man etwas suche; – ja nachts repetierte er die akustische Schlägerei und fuhr die hineinguckende Obrigkeit aus dem Bette schlaftrunken mit den Worten an: »Wer Henker steht draußen und stört die Menschen im ersten Schlafe?«

Dies alles kam daher, daß er in jeder kleinen Stadt zuerst den Regimentsstab wenig schätzte, dann Obrigkeit und Hof, etwa Bürger aber mehr. Bei einer solchen in Lustigkeit eingekleideten Verachtung konnt' ers nicht von sich erhalten, sich den Kleinstädtern, die ihn in seinen glänzenden Tagen unter Großstädtern nicht gesehen, in diesen überwölkten als Bauerssohn aus Elterlein zu zeigen; lieber adelte er sich selber eigenhändig.

Nach Haßlau war er nur gekommen, um ein Konzert zu geben, dann nach Elterlein zu laufen und Eltern und Geschwister inkognito zu sehen, aber durchaus ungesehen. Unmöglich wars ihm, daß er nach einem Dezennium Abwesenheit, worin er über so viele europäische Städte wie eine elektrische Korkspinne, ohne zu spinnen und zu fangen, gesprungen war, wieder vor seinen dürftigen Eltern erscheinen sollte, aber nämlich, o Himmel, als was?

Als dürftiger Querpfeifer in langer Strumpfhose, gelbem Studentenkollet und grünem Reisehut und mit nichts in der[607] Tasche (wenige Spezies ausgenommen) als mit einem Spiel gesiegelter Entrée-Karten für künftige Flötenkonzerte? – »Nein«, sagt' er, »eh' ich das täte, lieber wollt' ich täglich Essig aus Kupfer trinken, oder eine Fischotter an meiner Brust großsäugen, oder eine kantianische Messe lesen oder hören, eine Ostermesse«. Denn wenn er auch zuletzt den phantastischen Vater endlich zu überwältigen hoffen konnte durch einige Musik-Stunden und durch Erzählungen aus fremden Ländern: so blieb doch die unbestechliche Mutter unverändert übrig mit ihren kalten hellen Augen, mit ihren eindringenden Fragen, die seine Vergangenheit samt seiner Zukunft unerbittlich zergliederten.

Aber jetzt seit dem Abend und hundert andern Stunden hatte sich alles in ihm verändert – aus dem fremden Zimmer brachte er die ruhige Oberfläche und eine bewegte Tiefe in das seinige hinauf. – Walts Liebe gegen ihn hatt' ihn ordentlich angegriffen – dessen poetische Morgensonne wollt' er ganz nahe besehen und drehen und an ihre Achse Erddiameter und an ihre Kraft Licht- und Wärme-Messer anlegen- Kabels Testament gab dem Poeten noch mehr Gewicht – – Kurz, Vult konnte kaum den künftigen Tag erwarten, um nach Elterlein zu laufen, heimlich Walts Notariats-Examen zu behorchen und alle zu beschauen und am Ende sich dem Bruder zu entdecken, wenn ers verdiente. Mit welcher Ungeduld der gegenwärtige Schreiber auf den offiziellen, den Helden endlich aus seinen tiefen Spiegeln hervorziehenden Bericht des folgenden Kapitels mag gepasset haben, ermesse die Welt aus ihrer.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 605-608.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Flegeljahre
Flegeljahre; Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie
Flegeljahre. Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie (insel taschenbuch)
Flegeljahre: Roman (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon