Nr. 14. Modell eines Hebammenstuhls

[648] Projekt der Äthermühle – der Zauberabend


Für zwei luftige Komödianten, die den Orest und Pylades sich einander abhören, mußte jeder beide halten, der ihnen aus dem Wirtshaus nachsah, wie sie unten in einer abgemähten Wiese sich in Lauf-Zirkeln umtrieben, mit langen Zweigen in der Hand, um ihre Vergangenheiten gegeneinander auszutauschen. Aber der Tausch war zu schwer. Der Flötenspieler versicherte, sein Reiseroman – so künstlich gespielt auf dem breiten Europa – so niedlich durchflochten mit den seltensten confessions – stets von neuem gehoben durch die Windlade und Hebemaschine der Flûte de travers – wäre zwar für die Magdeburger Zenturiatoren, wenn sie ihm nachschreibend nachgezogen wären, ein Stoff und Fund gewesen, aber nicht für ihn jetzt, der dem Bruder andere Sachen zu sagen habe, besonders zu fragen, besonders über dessen Leben. Etwas von dieser Kürze mocht' ihm auch der Gedanke diktieren, daß in seiner Geschichte Kapitel vorkämen, welche die herzliche Zuneigung, womit der unschuldige, ihn freudig beschauende Jüngling seine erwiderte, in einem so weltunerfahrnen reinen Gemüte eben nicht vermehren könnten; er merkte an[648] sich – da man auf Reisen unverschämt ist –, er sei fast zu Hause.

Walts Lebens-Roman hingegen wäre schnell in einen Universitätsroman zusammengeschrumpft, den er zu Hause auf dem Sessel spielte durch Lesen der Romane, und seine Acta eruditorum in den Gang eingelaufen, den er in den Hörsaal machte und zurück in sein viertes Stockwerk – wenn nicht das van der Kabelsche Testament gewesen wäre; aber durch dieses hob sich der Notar mit seiner Geschichte.

Er wollte den Bruder mit den Notizen davon überraschen; aber dieser versicherte, er wisse schon alles, sei gestern beim Examen gewesen und unter dem Zanke auf dem Pelzapfelbaum gesessen.

Der Notar glühte schamrot, daß Vult seinen Zorn-Kaskatellen und seinen Versen zugehorcht; – er sei wohl, fragt' er verwirrt' schon mit dem Hrn. van der Harnisch angekommen, der mit dem Kandidaten von ihm gesprochen. »Jawohl«, sagte Vult, »denn ich bin jener Edelmann selber.« Walt mußte fortstaunen und fortfragen, wer ihm denn den Adel gegeben. »Ich an Kaisers-Statt«, versetzte dieser, »gleichsam so als augenblicklicher sächsischer Reichsvikarius des guten Kaisers; es ist freilich nur Vikariats-Adel.« – Walt schüttelte moralisch den Kopf. »Und nicht einmal der«, sagte Vult, »sondern etwas ganz Erlaubtes nach Wiarda6, welcher sagt, man könne ohne Bedenken ein ›von‹ entweder vor den Ort oder auch vor den Vater setzen, von welchem man komme; ich konnte mich nach ihm ebensogut Herr von Elterlein umtaufen als Herr von Harnisch. Nennt mich einer gnädiger Herr, so weiß ich schon, daß ich einen Wiener höre, der jeden bürgerlichen Gentlemen so anspricht, und lass' ihm gern seine so unschuldige Sitte.«

»Aber du konntest es gestern aushalten«, sagte Walt, »die Eltern zu sehen und den Jammer der Mutter unter dem Essen über dein Schicksal zu hören, ohne herab und hinein an die besorgten Herzen zu stürzen?«

»So lange saß ich nicht auf dem Baume – – Walt«, sagt' er,[649] plötzlich vor ihn vorspringend – »Sieh mich an! Wie Leute gewöhnlich sonst aus ihren Not- und Ehrenzügen durch Europa heimkommen, besonders wie morsch, wie zerschabt, wie zerschossen gleich Fahnen, braucht dir wohl niemand bei deiner ausgedehnten Lektüre lange zu sagen; – ob es gleich sehr erläutert würde, wenn man dir dazu einen Fahnenträger dieser Art – dir unbekannt, aber aus einem altgräflichen Hause gebürtig und dessen Ahnenbildersaal mit sich als Hogarths Schwanzstück und Finalstock beschließend – wenn man dir jenen Grafen vorhalten könnte, der eben jetzt vollends in London versiert und einst nie mehr Arbeit vor sich finden wird, als wenn er von den Toten auferstehen will und sich seine Glieder, wie ein Frühstück in Paris, in der halben alten Welt zusammenklauben muß, die Wirbelhaare auf den Straßendämmen nach Wien – die Stimme in den Konservatorien zu Rom – seine erste Nase in Neapel, wo sich mehrere Statuen mit zweiten ergänzen – seine anus cerebri (diese Gedächtnis-Sitze nach Hoboken) und seine Zirbeldrüse und mehrere Sachen in der Propaganda des Todes mehr als des Lebens – – Kurz der Tropf (er hat mir den Redefaden verworren) findet nichts auf dem Kirchhof neben sich als das, worein er jetzt wie andere Leichen auf dem St. Innozenz-Kirchhof in Paris, ganz verwandelt ist – das Fett. – – Nun aber beschau mich und die Jünglingsrosen – das Männermark – die Reisebräune – die Augenflammen – das volle Leben: was fehlt mir? Was dir fehlet – etwas zu leben. Notar, ich bin nicht sehr bei Geld.«

»Desto besser«, versetzte Walt so gleichgültig, als kenn' er das Schöpfrad aller Virtuosen ganz gut, das sich immer zu füllen und zu leeren, eigentlich aber nur durch beides umzuschwingen sucht, »ich habe auch nichts, doch haben wir beide die Erbschaft«... Er wollte noch etwas Freigebiges sagen, aber Vult unterfuhr ihn: »Ich wollte vorhin nur andeuten, Freund, daß ich mithin in Ewigkeit nie mich in verlorner Sohnes-Gestalt vor die Mutter stelle – und vollends vor den Vater! – Freilich, könnt' ich mit einer langen Stange von Gold in die Haustüre einschreiten! – Bei Gott, ich wollte sie oft beschenken – ich nahm einmal absichtlich Extrapost, um ihnen eine erkleckliche Spiel-Summe[650] (nicht auf der Flöte, sondern auf der Karte erspielt) zugleich mit meiner Person schneller zu überreichen; leider aber zehr' ichs gerade durch die Schnelle selber auf und muß auf halbem Weg leer umwenden. Glaub es mir, guter Bruder, ob ichs gleich sage. Sooft ich auch nachher ging und flötete, das Geld ging auch flöten.«

»Immer das Geld!« sagte Walt, »die Eltern geht nur ihr Kind, nicht dessen Gaben an; könntest du so scheiden und zumal die liebe Mutter in der langen nagenden Sorge lassen, woraus du mich erlöset?« – »Gut!« sagt' er. »So mög' ihnen denn durch irgendeinen glaubwürdigen Mann aus Amsterdam oder Haag, etwan durch einen Hrn. van der Harnisch, geschrieben werden, ihr schätzbarer Sohn, den er persönlich kenne und schätze, emergiere mehr, habe jetzt Mittel und vor tausenden das Prä und lange künftig an, so wie jetzt aus. Ach was! Ich könnte selber nach Elterlein hinausreiten, Vults Geschichte erzählen und beschwören und falsche Briefe von ihm an mich vorzeigen – die noch dazu wahre wären –, nämlich dem Vater; die Mutter, glaub' ich, erriete mich, oder sie bewegte mich, denn ich liebe sie wohl kindlich! – Scheiden, sagtest du? Ich bleibe ja bei dir, Bruder!«

Das überfiel den Notarius wie eine versteckte Musik, die an einem Geburtstage herausbricht. Er konnte nicht aufhören, zu jubeln und zu loben. Vult aber eröffnete, warum er dableibe, nämlich erstlich und hauptsächlich, um ihm als einem arglosen Singvogel, der besser oben fliegen als unten scharren könne, unter dem adeligen Inkognito gegen die sieben Spitzbuben beizustehen; denn, wie gesagt, er glaube nicht sonderlich an dessen Sieg.

»Du bist freilich«, versetzte Walt betroffen, »ein gereiseter Weltmann, und ich hätte zu wenig gelesen und gesehen, wollt' ich das nicht merken; aber ich hoffe doch, daß ich, wenn ich mir immer meine Eltern vorhalte, wie sie so lange angekettet auf dem dunstigen Ruderschiffe der Schulden ein bitteres Leben befahren, und wenn ich alle meine Kräfte zur Erfüllung der Testaments-Bedingungen zusammennehme, ich hoffe wohl, daß ich dann die Stunde erzwinge, wo ihnen die Ketten entzweigeschlagen[651] und sie auf ein grünes Ufer einer Zuckerinsel ausgeschifft sind und wir uns alle frei unter dem Himmel umarmen. Ja ich hatte bisher gerade die umgekehrte Sorge für die armen Erben selber, an deren Stelle ich mich dachte, wenn ich sie um alles brächte; und nur die Betrachtung machte mich ruhig, daß sie doch die Erbschaft, schlüg' ich sie auch aus, nicht bekämen und daß ja meine Eltern weit ärmer sind und mir näher.«


»Der zweite Grund«, versetzte Vult, »warum ich in Haßlau verbleibe, hat mit dem ersten nichts zu tun, sondern alles bloß mit meiner göttlichen Windmühle, die der blaue Äther treibt, und auf welcher wir beide Brot – du erbst indes immer fort –, soviel wir brauchen, mahlen können. Ich weiß nicht, ob es sonst nicht noch für uns beide etwas so Angenehmes oder Nützliches gibt als eben die Äthermühle, die ich projektieren will; die Frisiermühlen der Tuchscherer, die Bandmühlen der Berner, die Molae asinariae oder Eselsmühlen der Römer kommen nicht in Betracht gegen meine.«

Walt war in größter Spannung und bat sehr darum. »Droben bei einem Glas Krätzer«, versetzte Vult. Sie eilten den Hügel auf zum Wirtshaus. Drinnen taten sich schon an einem Tische, der die Marschalls-, Pagen- und Lakaientafel war, schnelle Freßzangen auf und zu. Der Wein wurde auf einen Stuhl gesetzt ins Freie. Das weiße Tischtuch ihres verschobenen Soupers glänzte schon aus der wandlosen Stube herab. Vult fing damit an, daß er dem Modelle der künftigen Äthermühle das Lob von Walts gestrigen Streckversen vorausschickte – daß er sein Erstaunen bezeugte, wie Walt, bei sonstigem Überwallen im Leben, doch jene Ruhe im Dichten habe, durch welche ein Dichter es dem Wasserrennen der Bayerinnen gleichtut, welche mit einem Scheffel Wasser oder Hippokrene auf dem Kopfe unter der Bedingung wettlaufen, nichts zu verschütten, und daß er fragte, wie er als Jurist zu dieser poetischen Ausbildung gekommen.

Der Notarius trank mit Geschmack den Krätzer und sagte, zweifelnd vor Freude: wenn würklich etwas Poetisches an ihm wäre, auch nur der Flaum einer Dichterschwinge, so käme es freilich von seinem ewigen Bestreben in Leipzig her, in allen vom[652] Jus freigelassenen Stunden an gar nichts zu hangen, an gar nichts aufzuklettern als am hohen Olymp der Musen, dem Göttersitze des Herzens, wiewohl ihm noch niemand recht gegeben als Goldine und der Kandidat; »aber, guter Vult, scherze hier nicht mit mir. Die Mutter nannte dich schon früh den Spaßer. Ist dein Urteil Ernst?« – »Ich will hier den Hals brechen, Tabellio«, versetzte Vult, »bewunder' ich nicht dich und deine Verse aus voller Kunstseele. Hör erst weiter!«

»Ach warum werd ich denn so überglücklich? (unterbrach ihn Walt und trank). Gestern find' ich den Plato, heute dich, gerade zwei Nummern nach meinem Aberglauben. Du hörtest gestern alle Verse?« – Mitten unter dem heftigen Auf- und Abschreiten suchte er immer das Wirtskind, das im Hofe unter der Baute von Kartoffeln-Samenkapseln furchtsam aufguckte, jedesmal sehr anzulächeln, damit es nicht erschräke.

Vult fing, ohne ihm zu antworten, sein Mühlen-Modell folgendermaßen vorzulegen an, sehr unbesorgt, wie jeder Reisende, über ein zufälliges fünftes Ohr:

»Andächtiger Mitbruder und Zwilling! Es gibt Deutsche. Für sie schreiben dergleichen. Jene fassen es nicht ganz, sondern rezensieren es, besonders exzellenten Spaß. Sie wollen der poetischen Schönheitslinie ein Linienblatt unterlegen; dabei soll der Autor noch nebenher ein Amt haben, was aber so schlimm ist, als wenn eine Schwangere die Pocken zugleich hat. Die Kunst sei ihr Weg und Ziel zugleich. Durch den jüdischen Tempel durfte man nach Lightfoot nicht gehen, um bloß nach einem andern Orte zu gelangen; so ist auch ein bloßer Durchgang durch den Musentempel verboten. Man darf nicht den Parnaß passieren, um in ein fettes Tal zu laufen. – Verdammt! Laß mich anders anfangen! zanke nicht! Trinke! – Jetzt:


Walt!


Ich habe nämlich auf meinen Flötenreisen ein satirisches Werk in den Druck gegeben als Manuskript, die grönländischen Prozesse in zwei Bänden anno 1783 bei Voß und Sohn in Berlin.[653] (›Ich erstaune ganz‹, sagte Walt verehrend.) Ich würde dich inzwischen ohne Grund mit Lügen besetzen, wenn ich dir verkündigen wollte, die Bekanntmachung dieser Bände hätte etwan mich oder die Sachen selber im geringsten bekanntgemacht. Nimmt man sechs oder sieben Schergen, zugleich Schächer und Schächter, aus – und hier fallen zwei auf die Allgem. deutsche Bibliothek, die also wohl einer sind –, so hat leider keine Seele die Scripta getadelt und gekannt. Es ist hier – wegen deiner Ungeduld nach der versprochenen Äthermühle – wohl nicht der Ort, es glücklich auseinanderzusetzen warum; – habe genug, wenn ich dir schwöre, daß die Rezensenten Sünder sind, aber arme, echte Gurkenmaler, die sich daher Gurken herausnehmen, Grenzgötter ohne Arme und Beine auf den Grenzhügeln der Wissenschaften, und daß wir alle hinauf und hinab florieren würden, gäb' es nur so viele gute Kunstrichter als Zeitungen, für jede einen, so wie es wirklich so viele meisterhafte Schauspieler gibt als – eine in die andere übergerechnet – Truppen.

Es ist eine der verwünschtesten Sachen. Oft rezensiert die Jugend das Alter, noch öfter das Alter die Jugend, eine Rektors-Schlafhaube kämpfet gegen eine Jünglings-Sturmhaube –

Wie Kochbücher arbeiten sie für den Geschmack, ohne ihn zu haben –

Solchen Sekanten, Kosekanten, Tangenten, Kotangenten kommt alles exzentrisch vor, besonders das Zentrum; der Kurzsichtige findet nach Lambert7den Kometenschwanz viel länger als der Weitsichtige –

Sie wollen den Schiffskiel des Autors lenken, nämlich den ordentlichen Schreib-Kiel, sie wollen den Autor mit ihrem Richterstabe, wie Minerva mit ihrem Zauberstabe den Ulysses, in einen Bettler und Greis verkehren –

Sie wollen die erbärmlichsten Dinge bei Gott – (Des Notars Gesicht zog sich dabei ins lange, weil er wie jeder, der nur gelehrte Zeitungen hält, aber nicht macht und kennt, von einer gewissen Achtung für sie, vielleicht gar einer hoffenden, nicht frei war.)[654] Indes jeder Mensch – fuhr jener fort – sei billig; denn ich darf nicht übersehen, daß es mit Büchern ist wie mit Pökelfleisch, von welchem Huxham dartat, daß es zwar durch mäßiges Salz sich lange halte, aber auch durch zu vieles sogleich faule und stinke Notarius, ich machte das Buch zu gut, mithin zu schlecht.« –

»Du wimmelst von Einfällen (versetzte Walt); scherzhaft zu reden, hast du so viele Windungen und Köpfe wie die lernäische Schlange.«

»Ich bin nicht ohne Witz«, erwiderte Vult in vergeblicher Absicht, daß der Bruder lache, »aber du reißest mich aus dem Zusammenhang. – Was kann ich nun dabei machen? Ich allein nichts; aber mit dir viel, nämlich ein Werk; ein Paar Zwillinge müssen, als ihr eigenes Widerspiel, zusammen einen Einling, ein Buch zeugen, einen trefflichen Doppel-Roman. Ich lache darin, du weinst dabei oder fliegst doch – du bist der Evangelist, ich das Vieh darhinter – jeder hebt den andern – alle Parteien werden befriedigt, Mann und Weib, Hof und Haus, ich und du. – Wirt, mehr Krätzer, aber aufrichtigen! – Und was sagst du nun zu diesem Projekt und Mühlengang – wodurch wir beide herrlich den Mahlgästen Himmelsbrot verschaffen können, und uns Erdenbrot, was sagst du zu dieser Musenroß-Mühle?« – Aber der Notar konnte nichts sagen, er fuhr bloß mit einer Umhalsung an den Projektmacher. Nichts erschüttert den Menschen mehr – zumal den belesenen – als der erste Gedanke seines Drucks. Alte tiefe Wünsche der Brust standen auf einmal aufgewachsen in Walten da und blühten voll; wie in einem südlichen Klima fuhr in ihm jedes nordische Strauchwerk zum Palmenhain auf; er sah sich bereichert und berühmt und wochenlang auf dem poetischen Geburtsstuhl. Er zweifelte in der Entzückung an nichts als an der Möglichkeit und fragte, wie zwei Menschen schreiben könnten, und woher ein romantischer Plan zu nehmen sei.

»Geschichten, Walt, hab' ich auf meinen Reisen an 1001 erlebt, nicht einmal gehört; diese werden sämtlich genommen, sehr gut verschnitten und verkleidet. Wie Zwillinge in ein Dintenfaß tunken? Beaumont und Fletcher, sich hundsfremd, nähten an einem gemeinschaftlichen Schneider-Tische Schauspiele, nach[655] deren Naht und Suturen noch bis heute die Kritiker fühlen und tasten. Bei den spanischen Dichtern hatte oft ein Kind an neun Väter, nämlich eine Komödie, nämlich Autoren. Und im ersten Buch Mosis kannst du es am allerbesten lesen, wenn du den Professor Eichhorn dazu liesest, der allein in der Sündflut drei Autoren annimmt, außer dem vierten im Himmel. Es gibt in jedem epischen Werke Kapitel, worüber der Mensch lachen muß, Ausschweifungen, die das Leben der Helden unterbrechen; diese kann, denk' ich, der Bruder machen und liefern, der die Flöte bläset. Freilich Parität, wie in Reichsstädten, muß sein, die eine Partei muß so viele Zensoren, Büttel, Nachtwächter haben als die andere. Geschieht nun das mit Verstand, so mag wohl ein Werk zu hecken sein, ein Ledas-Ei, das sich sogar vom Wolfischen Homer unterscheidet, an dem so viele Homeriden schrieben und vielleicht Homer selber.« –

»Genug, genug«, rief Walt. »Betrachte lieber den himmlischen Abend um uns her!« In der Tat blühten Lust und Lebens-Lob in allen Augen. Mehrere Gäste, die schon abgegessen, tranken ihren Krug im Freien, alle Stände standen untereinander, die Autoren mitten im tiers-état. Die Fledermäuse schossen als Tropikvögel eines schönen Morgens um die Köpfe. An einer Rosenstaude krochen die Funken der Johanniswürmlein. Die fernen Dorfglocken riefen wie schöne verhallende Zeiten herüber und ins dunkle Hirtengeschrei auf den Feldern hinein. Man brauchte so spät auf allen Wegen, nicht einmal in dem Gehölze, Lichter, und man konnte bei dem Schein der Abendröte die hellen Köpfe deutlich durch das hohe Getreide waten sehen. Die Dämmerung lagerte sich weit und breit nach Westen hinein, mit der scharfen Mond-Krone von Silber auf dem Kopfe; nur hinter dem Hause schlich sich, aber ungesehen, die große hohle Nacht aus Osten heran. In Mitternacht glomm es leise wie Apfelblüte an, und liebliche Blitze aus Morgen spielten herüber in das junge Rot. Die nahen Birken dufteten zu den Brüdern hinab, die Heu-Berge unten dufteten hinauf. Mancher Stern half sich heraus in die Dämmerung und wurde eine Flug-Maschine der Seele.

Vult vergabs dem Notar, daß er kaum zu bleiben wußte. Er[656] hatte so viele Dinge und unter ihnen den Krätzer im Kopfe; denn in diesem entsetzlichen Weine, wahrem Weinbergs-Unkraut für Vult, hatte sich der arme Teufel – dem Wein so hoch klang wie Äther – immer tiefer in seine Jahre zurückgetrunken, ins 20te, 18te und letzlich ins 15te.

Auf Reisen trifft man Leute an, die darauf zurückschwimmen ins erste Jahr, bis an die Quelle. Vormittags predigen es die Äbte in ihren Visitationspredigten: werdet wie die Kinder! Und abends werden sie es samt dem Kloster, und beide lallen kindlich.

»Warum siehst du mich so an, geliebter Vult?« sagte Walt. »Ich denke an die vergangenen Zeiten«, versetzte jener, »wo wir uns so oft geprügelt haben; wie Familienstücke hängen die Bataillenstücke in meiner Brust – ich ärgerte mich damals, daß ich stärker und zorniger war und du mich doch durch deine elastische wütige Schnelle aller Glieder häufig unterbekamst. Die unschuldigen Kinderfreuden kommen nie wieder, Walt!«

Aber der Notar hörte und sah nichts als Apollos flammenden Sonnenwagen in sich rollen, worauf schon die Gestalten seines künftigen Doppelromans kolossalisch standen und kamen; unwillkürlich macht' er große Stücke vom Buche fertig und konnte sie dem verwunderten Bruder zuwerfen. Dieser wollte endlich davon aufhören, aber der Notar drang noch auf den Titel ihres Buchs. Vult schlug Flegeljahre vor; der Notar sagte offen heraus, wie ihm ein Titel widerstehe, der teils so auffallend sei, teils so wild. »Gut, so mag denn die Duplizität der Arbeit schon auf dem ersten Blatte bezeichnet werden, wie es auch ein neuerer beliebter Autor tut, etwan: Hoppelpoppel oder das Herz.« Bei diesem Titel mußte es bleiben.

Beide mengten sich wieder in die Gegenwart ein.

Der Notar nahm ein Glas und drehte sich von der Gesellschaft ab und sagte mit tropfenden Augen zu Vult: »Auf das Glück unserer Eltern und auch der armen Goldine! Sie sitzen jetzt gewiß ohne Licht in der Stube und reden von uns.« – Hierauf zog der Flöten ist sein Instrument hervor und blies der Gesellschaft einige gemeine Schleifer vor. Der lange Wirt tanzte darnach langsam und zerrend mit dem schläfrigen Knaben; manche Gäste[657] regten den Takt-Schenkel; der Notarius weinte dazu selig und sah ins Abendrot. »Ich möchte wohl«, sagt' er dem Bruder ins Ohr, »die armen Fuhrleute sämtlich in Bier freihalten.« – »Wahrscheinlich«, sagte Vult, »würfen sie sich dann aus point d'honneur den Hügel hinunter. Himmel! sie sind ja Krösi gegen uns und sehen herab.« Vult ließ den Wirt plötzlich, statt zu tanzen, servieren; so ungern der Notarius in seine Entzückung hinein essen und käuen wollte.

»Ich denke roher«, sagte Vult, »ich respektiere alles, was zum Magen gehört, diese Montgolfiere des Menschen-Zentaurs; der Realismus ist der Sancho Pansa des Idealismus. – Aber oft geh' ich weit und mache in mir edle Seelen, z.B. weibliche, zum Teil lächerlich, indem ich sie essen und als Selbst-Futterbänke ihre untern Kinnbacken so bewegen lasse, daß sie dem Tier vorschneiden.«

Walt unterdrückte sein Mißfallen an der Rede. Beglückt aßen sie oben vor der ausgebrochenen Wand; die Abendröte war das Tafellicht. Auf einmal rauschte mit verlornem Donnern eine frische Frühlingswolke auf Laub und Gräser herunter, der helle goldne Abendsaum blickte durch die herabtropfende Nacht, die Natur wurde eine einzige Blume und duftete herein, und die erquickte gebadete Nachtigall zog wie einen langen Strahl einen heißen langen Schlag durch die kühle Luft. »Vermissest du jetzt sonderlich«, fragte Vult, »die Parkbäume, den Paruckenbaum, den Gerberbaum – oder hier oben die Bedienten, die Servicen, den Goldteller mit seinem Spiegel, damit darauf die Portion mit falschen Farben schwimme?« – »Wahrlich nicht«, sagte Walt; »sieh, die schönsten Edelsteine setzt die Natur auf den Ring unseres Bundes« – und meinte die Blitze. Die Luftschlösser seiner Zukunft waren golden erleuchtet. Er wollte wieder vom Doppelromane und dem Stoff dazu anfangen – und sagte, er habe hinter der Schäferei heute drei hineinpassende Streckverse gemacht. Aber der Flötenist, einer und derselben Materie bald überdrüssig und nach Rührungen ordentlich des Spaßes bedürftig, fragte ihn: warum er zu Pferde gegangen? »Ich und der Vater«, sagte Walt ernst, »dachten, eh wir von der Erbschaft wußten, ich[658] würde dadurch der Stadt und den Kunden bekannter, weil man unter dem Tore, wie du weißt, nur die Reiter ins Intelligenzblatt setzt.« Da brachte der Flötenist wieder den alten Reiterscherz auf die Bahn und sagte: der Schimmel gehe, wie nach Winkelmann die großen Griechen, stets langsam und gesetzt – er habe nicht den Fehler der Uhren, die immer schneller gehen, je älter sie werden – ja viel leicht sei er nicht älter als Walt, wiewohl ein Pferd stets etwas jünger sein sollte als der Reiter, so wie die Frau jünger als der Mann – ein schönes römisches Sta Viator, Steh, Wegmachender! bleibe der Gaul für den, so darauf sitze....

»O lieber Bruder«, sagte Walt sanft, aber mit der Röte der Empfindlichkeit und Vults Laune noch wenig fassend und belachend, »zieh mich damit nicht mehr auf, was kann ich dafür?«

»Nu, nu, warmer Aschgraukopf«, sagte Vult und fuhr mit der Hand über den Tisch und unter alle seine weiche Locken, streichelnd Haar und Stirn, »lies mir denn deine drei Polymeter vor, die du hinter der Schäferei gelammet.«

Er las folgende:


Das offne Auge des Toten


Blick mich nicht an, kaltes, starres, blindes Auge, du bist ein Toter, ja der Tod. O drücket das Auge zu, ihr Freunde, dann ist es nur Schlummer.


»Warst du so trübe gestimmt an einem so schönen Tage?« fragte Vult. »Selig war ich wie jetzt«, sagte Walt. Da drückte ihm Vult die Hand und sagte bedeutend: »Dann gefällts mir, das ist der Dichter. Weiter!«


Der Kinderball


Wie lächelt, wie hüpfet ihr, blumige Genien, kaum von der Wolke gestiegen! Der Kunst-Tanz und der Wahn schleppt euch nicht, und ihr hüpfet über die Regel hinweg. – Wie, es tritt die Zeit herein und berührt sie? Große Männer und Frauen stehen da? Der kleine Tanz ist erstarrt, sie heben sich zum Gang und schauen einander ernst ins schwere Gesicht? Nein, nein, spielet ihr Kinder, gaukelt nur fort in eurem Traum, es war nur einer von mir.[659]


Die Sonnenblume und die Nachtviole


Am Tage sprach die volle Sonnenblume: »Apollo strahlt, und ich breite mich aus, er wandelt über die Welt, und ich folge ihm nach.« In der Nacht sagte die Viole: »Niedrig steh' ich und verborgen – und blühe in kurzer Nacht; zuweilen schimmert Phöbus' milde Schwester auf mich, da werd' ich gesehen und gebrochen und sterbe an der Brust.«

»Die Nachtviole bleibe die letzte Blume im heutigen Kranz!« sagte Vult gerührt, weil die Kunst geradeso leicht mit ihm spielen konnte als er mit der Natur, und er schied mit einer Umarmung. In Walts Nacht wurden lange Violenbeete gesäet – an das Kopfkissen kamen durch die offne Wand die Düfte der erquickten Landschaft heran und die hellen Morgentöne der Lerche – sooft er das Auge auftat, fiel es in den blauen vollgestirnten Westen, an welchem die späten Sternbilder nacheinander hinunterzogen als Vorläufer des schönen Morgens.

6

Wiarda über deutsche Vor- und Geschlechtsnamen. S. 216–221.

7

Lamberts Beiträge zur Mathematik. III. Bd. S. 236

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 648-660.
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