Nr. 50. Halber Blasenstein eines Dachshunds

[905] J. P. F. R.s Brief an den Haßlauer Stadtrat


P. P.


Hier übersend ich den trefflichen Testaments-Exekutoren durch den Student und Dichter Sehuster die drei ersten Bände unserer Flegeljahre samt diesem Briefe, der eine Art Vor- und Nachrede vorstellen soll. Von dem geschickten Schön- und Geschwindschreiber Halter, bisherigen Infanteristen beim Regiment Kurprinz – der zum Glücke des elend geschriebenen Manuskripts gerade in diesem Monat aus Bregenz mit freundlichem Abschied und gesunder Schreib-Hand nach Hause an das Schreibpult kam, nachdem er über 4 Jahre sich auf mehreren Schlachtfeldern mit den Franzosen gemessen und geschlagen – von diesem sind, darf ich hoffen, sowohl die drei Bände als dieser Brief so gut geschrieben, daß sie sich lesen lassen; folglich setzen und rezensieren ohnehin.

Will ich mich über das Werk hier bis zu einem gewissen Grade äußern: so müssen einige allgemeine Sentenzen und Gnomen vorausgehen:

Nicht nur zu einer Perücke, auch zu einem Kopfe gehören mehrere Köpfe Ferner: Jedem muß seine Nase in seinen Augen viel größer und verklärter, ja durchsichtiger erscheinen als seinem Nebenmenschen, weil dieser sie mit andern Augen und aus einem viel fernern Standpunkte ansieht –

Weiter: die meisten jetzigen Biographen (worunter auch die Romanciers gehören) haben den Spinnen wohl das Spinnen, aber nicht das Weben abgesehen –

Ferner: die Verdauung spüren, heißet eben keine spüren, sondern vielmehr Unverdaulichkeiten –

Weiter: zur zweiten, bessern Welt, worauf alle Welt aus ist und aufsieht, gehöret auch der Höllenpfuhl samt Teufeln –

Ferner: der Schatten und die Nacht sehen weit mehr als Gestalten und Wirklichkeit aus als das Tageslicht, das doch nur allein existieret und jene scheinen lässet –[905] Und zuletzt: man reiche dem Leser etwas in einer Nuß, so verlangt ers noch enger als Nuß-Öl; man breche für ihn aus der steinigen Schale eine köstliche Mandel, so will er um diese wieder eine Hülse von Zucker haben –

Bloß diese wenigen schwachen Sätze wende ein verehrlicher Stadtrat auf das Buch und sich und den Leser an und frage sich: »Ist noch jetzt die Frage von diesen und jenem?«

Noch vier Punkte hab' ich außerdem zu berühren.

Der erste Punkt ist nicht der erfreulichste. Noch hab ich nicht mehr als Nummern vom Kabelschen Naturalienkabinett (denn dieser Brief ist für den halben Dachshunds-Blasenstein) erschrieben; und fahre schon mit drei Bänden vor, die abzuladen sind; da nun das Kabinett 7203 Nummern in allem besitzt: so müssen endlich sämtliche Flegeljahre so stark ausfallen als die Allgemeine deutsche Bibliothek, welche sich doch von ihnen im Gehalte so sehr unterscheidet. Ich sage letzteres nicht aus Bescheidenheit, sondern weil ichs selber fühle. Indes werd ich nächstens in meinen Vorlesungen über die Kunst, gehalten in der Leipziger Ostermesse 180439 erweisen, erstlich daß (was man ja sieht) und zweitens warum der Epiker (in wessen Gebiet dieses Werk doch zu rubrizieren ist) unendlich lang werde und nur mit dem langen Hebels-Arme den Menschen bewege, anstatt daß der Lyrikus mit dem kurzen gewaltig arbeitet. Ein epischer Tag hat, wie der Reichstag, kaum einen Abend, geschweige einen Garaus; und wie lang Goethes »Dorothea«, die nur einen Tag einnimmt, ist, weiß jeder Deutsche; der Reichsanzeiger würde eine bloße prosaische Geschichte dieser poetischen Geschichte in den Flächenraum einer Buchhändler-Anzeige einzupressen vermögen.

Auch dürfte ein verehrlicher Magistrat noch bedenken, daß die Autoren gleich gespannten Saiten – welche oben und unten, Anfangs und Endes sehr hoch klingen und nur in der Mitte ordentlich – ebenso im Eingange und nachher im Ausgange eines Werkes die weitesten und höchsten Sprünge machen (die immer Platz einnehmen), um sich teils zu zeigen, teils zu empfehlen, in der[906] Mitte aber kurz und gut zu Werke gehen. Sogar diesen Dreiband hab' ich mit Briefen an Testaments-Exekutoren begonnen und beschlossen, um nur zu schimmern. Ich hoffe von den mittlern Bänden der Flegeljahre das Beste, nämlich lyrische Verkürzungen, worin meines Wissens Michelangelo ein wahrer Meister ist.

Der zweite Punkt ist noch verdrüßlicher, weil er die Rezensenten betrifft. Es wird ihnen allen, weiß ich, so schwer werden, sich alles feinen und groben, schon aus dem Titel Flegeljahre geschöpften und abgerahmten Spaßes gegen mich zu erwehren, als es mir wirklich selber, sogar in einem offiziellen Schreiben an verehrliche Exekutoren, sauer ankommt, solchen Personen mit keinen versteckten Retorsionen und Antizipationen des Titels entgegenzugehen. Doch das ließe vielleicht sich hören, wenigstens machen – und durch eine Grobheit wird leicht eine zweite fast zu einer Höflichkeit – Allein, verehrte Väter der Stadt, wie der Vorstädte, man packt Sie an, man fängt mit der Exekution bei den Exekutoren den Prozeß an. »Allgemein«, schreibt man mir sehr kürzlich aus Haßlau, Weimar, Jena, Berlin, Leipzig, »wundert und ärgert man sich hier, daß die Exekutoren des Kabelschen Testaments gerade Dir (Ihnen) die Biographie des Notarius, die nach der testatorischen Klausel ja ebensogut Richardson, Gellerren, Wielanden, Scarron, Hermesen, Marmonteln, Goethen, Lafontainen, Spießen, Voltairen, Klingern, Nikolain, Mds. Staël und Mereau, Schillern, Dyken, Tiecken usw. aufgetragen werden konnte, eben Dir (Ihnen) zugewandt und das herrliche Naturalien-Kabinett dazu, das viele schon besehen.

Freunde und Feinde benannter Autoren wollen – Dich (Sie) ohnehin – den Haßlauer Magistrat in Journalen verdammt her untersetzen und heimschicken. Doch bitt' ich Dich (Sie), mich nicht zu nennen. Ein künftiger Rezensent schwur hoch: er wolle nicht ehrlich sein, wenn er ehrlich bleibe bei so bewandten Umständen.«

Hiergegen lässet sich nie etwas machen, ausgenommen Antikritiken, die aber ins Unendliche gehen; denn ein Hund billt das Echo an; es tritt der alte Zyklus von Jücken und Kratzen und von Kratzen und Jücken ein. Das sind aber böse Historien; und der[907] Autor leidet dabei unsäglich; er hat immer einen Namen zu verlieren, und nur der Rezensent einen zu gewinnen; er lobt sich überhaupt das Lob und feiert so ungern nach seinem Namenstage noch einen Ekelnamens-Tag. Es ist ihm terribel und so unangenehm als irgend etwas, daß das deutsche Publikum von sei nen Autoren, wie das englische von seinen Bären, wünscht, sie nicht nur tanzen, sondern auch gehetzt zu sehen. Ein jeder Autor hat doch – oder solls haben – so viel Stolz als irgendein Peha oder Tezet oder Iks oder ein anderer Kapital-Letter von Klopstock in dessen grammatikalischen Gesprächen, besonders da er ja der Chef dieser aufgeblasenen XXIIer Union oder dieser grande Bande des 24 Violons ou les vingt-quatre ist, die er in Glieder stellt auf dem Papier, wie er nur will.

Allerdings gäb' es ein gutes Mittel und Projekt dagegen, hochedler Stadtrat, wenn es angenommen würde. Hundertmal hab' ich gedacht: könnte nicht eine Kompanie wackerer Autoren von einerlei Grundsätzen und Lorbeerkränzen zusammentreten und soviel aufbringen, daß sie sich ihren eignen Rezensenten hielten, ihn studieren ließen und salarierten, aber unter der Bedingung, daß der Kerl nur allein seine Brotherren öffentlich in den gangbaren Zeitungen streng, aber unparteiisch und nach den wenigen ästhetischen Grundsätzen beurteilte, die ein solcher Famulant und Valet de Fantaisie haben und behalten kann? – Wenn sich eine solche Ordonnanz sozusagen in seiner Chefsmanier einschlösse, nichts weiter triebe und wüßte: sollte sie sich nicht niedersetzen und hinschreiben können: »Da und da, so und so ist die Sache; und wers leugnet, ist so gewiß ein Vieh als ein Affe.«


– Einigermaßen, verehrlicher Stadtrat, hab' ich einen Anschlag; und er betrifft eben den jungen Mann, der Ihnen die Flegeljahre persönlich überbringt. Der Mensch heißt eigentlich Schuster, hat aber den dumpfen Namen durch ein Strichelchen mehr in den hellern Sehuster umgeprägt. Anfänglich stößet er vielleicht einen wohlweisen Rat etwas ab durch sein Äußeres, durch den verworren-grimmigen Blick, Schweden- und Igelkopf, greulichen Backenbart und durch die Ähnlichkeiten, die er mit sogenannten[908] Grobianen gemein hat. Heimlich aber ist er höflich, und er hat überhaupt seine Menschen, die er veneriert. Ich mochte diesen Schuster etwa 14 Tage, nachdem er sein Gymnasium als ein scheuer stiller leiser Mensch verlassen, der eben keinen besonderen Zyklopen und Enak versprach, 14 Tage darauf in Jena wieder gefunden haben – Himmel! wer stand vor mir? Ein Fürst, ein Gigant, ein Flegel, aber ein edler, ein Atlas, der den Himmel trug, den er schuf, setzend eine neue Welt, zersetzend die alte! Und doch hatt' er kaum zu hören angefangen und wußte eigentlich nichts Erhebliches; er war noch ein ausgestreckt-liegender Hahn, über dessen Kopf und Schnabel Schelling seine Gleicher-Linie mit Kreide gezogen, und der unverrückt, ja verrückt darauf hinstarrt und nicht auf kann; aber eben er war schon viel und mehr, das fühlt' er, als er verstand und schien. Dieses beweiset beiläufig, daß es ebensogut im geistigen Reiche eine schnelle Methode, den innern Menschen in 14 Tagen zu einem großen Manne aufzufüttern, geben müsse, als es die ähnliche im körperlichen gibt, eine Gans, schwebend gehangen, die Augen verbunden, die Ohren verstopft, durch Nähren in nicht längerer Zeit so weit zu bringen und zu mästen, daß die Leber 4 Pfund wiegt.

In der Tat bestimmte mich dieses, da der gute Gigant nichts hat außer Kräfte, mit vier andern belletristischen herrlichen Verfassern – (ich werde ihnen nie die Schuhriemen auflösen – gesetzt, sie verlangtens) – aus der Sache zu sprechen und sie zu fragen, ob wir uns nicht könnten zusammenschlagen und ihn auf den nötigsten Akademien für unser Geld absolvieren lassen: »Wir hobeln Sehustern«, sagt' ich, »ganz nach unsern Werken zu, oder vielmehr er hat seine deduzierenden Theorien nach dem Meister und andern Stücken seiner Kostherren einzurichten, um einstens imstande zu sein, als unser Fixstern-Trabant, Brautführer und Chevalier d'honneur unserer fünf Musen, kurz als unser Rezensier-Markeur in den verschiedenen Zeitungen, die die Welt jetzt mithält, zu beurteilen und zu schätzen.«

Das nahm man an. Und wir Fünfer hatten wahrhaftig keine Ursache, unsere Ausgaben zu bereuen, als wir später, im ersten Semester hörten, daß er die Polaritäten und die Indifferenz leiden[909] könne, daß er ein transzendenter Äquilibrist sei und ein polarischer Eis-Bär, daß er die Menschen indifferenziere, sich aber potenziere, daß er zwar kein Dichter, kein Arzt und kein Philosoph sei, aber, was vielleicht mehr ist, alles dieses zusammengenommen. Und in der Tat nannt' er uns bald darauf in seinen Rezensionen die fünf Direktoren, ja die fünf Sinne der gelehrten Welt, ich soll darunter der Geschmack sein, le Goût, el Gusto40 spricht aber doch verdammt frei von jedem andern. »Gesetzt, mein feuriger Schuster«, wandt' ich einstens ein, als er hingeschrieben hatte, er sehe voraus, in 4 oder 5 Jahren sei Goethe so tief herunter als gegenwärtig Wieland – »O was?« versetzt' er, »ich stecke zuweilen einen Kometen-Kern ins blaue Äther-Feld und bekümmere mich nicht, ob er aufgeht und fliegt als Feuer-Blume. An der Himmels-Achse der Unendlichkeit sind die Pole zugleich Gleicher, alles ist eines, Hr. Legaz.!«

Nun halten vier Treffer der Literatur (fünf würd' ich sagen, wär' ich nicht darunter) bei einem Hochedlen Rate um das Maushackische Legat, das eben für arme Studenten aufgeht, für den guten Ohnehosen an; denn letzteres ist er, wechselnd eigentlich und uneigentlich, gleichsam als differenziere und indifferenziere er auch hier und wähle Realismus und Idealismus beliebig als zwei Wechselstandpunkte aus einem dritten. Ich meine aber so: er hat nichts. Sein Marquisat de Quinet41 wirft zu wenig ab er braucht zu viele erregende Potenzen, wenn er selber eine sein soll, und Weinberge sind die Terrassentreppe zu seinem Musenberg – wir fünf Marquis verspüren das Ernähren eines sechsten auch stark; – Wiese man nun aber Sehustern das Maushackische Legat zu: so könnt' ers pro forma in Jena oder Bamberg verzehren; und dabei gemächlich beurteilen, einige bekränzen und ganz weg haben, unzählige kaum von der Seite ansehen, die Gemeinheit herzlich verachten, viele Sachen deduzieren, wie z.B. den Roman, den Humor, die Poesie, aus vier oder fünf Termen und Schreibern, und völlig unter die sogenannten ganzen[910] Leute gehören. Der selige Maushack selber – den ich zwar nicht kenne, der aber doch von der andern Welt muß endlich profitieret haben – würde droben, wenn er von diesen Früchten seines Nachlasses hörte, seelenvergnügt sagen: »Herzlich gönn' ich der wilden Fliege drunten das Legat, bloß weil sie um eine Welt früher als ich von dem Reflexions-Punkte weggeflogen.«

O Gott, Stadtrat! was wäre noch zu sagen, würd' es nicht gedruckt! Ein Autor gibt lauter Nüsse aufzubeißen, welche dem Gehirne gleichen, das nach Le Camus ihnen gleicht, und die also drei Häute haben; wer aber schälet sie ab? – Ein bekannter Autor ist allerdings bescheiden; das ist aber eben sein Unglück, daß niemand weiß, wie bescheiden man ist, da man von sich nicht sprechen und es sagen kann. Er könnte seinem Stiefelknecht hundert Livreefarben anstreichen, er könnte den Eisen-Fang seines Windofens zu seinem brennenden Namenszug verschweifen und ringeln lassen, aber niemand weiß es, daß ers nicht tut. Erwägt man vollends, wie viele Schlachten Bonaparte, sowohl in als außer Europa, ausstand und lieferte, bloß damit nur einmal sein Name richtig geschrieben würde, ohne das U, wofür er jetzt den Franzosen jenes X macht, jenes algebraische Zeichen der unbekannten Größe, erwägt man also, mit welcher Mühe ein Name gemacht und mit wie leichter er wieder ausgewischt wird: so ists wahrlich ein matter Trost, daß es in Rücksicht des Verkennens auch andern größten Männern nicht besser ergangen, z.B. dem großen Gottsched, der selber sogar im Gellertischen Leipzig so manches erlitt, was man hier nicht wiederholen will.

Der vierte Punkt, wovon ich einem hochedlen Magistrate zu schreiben versprach, ist gerade ein närrischer, den der junge Schuster am besten ausfechten würde in öffentlichen Blättern.

Ein hochedler Stadtmagistrat wünschte nämlich von weitem, daß das Werk etwas verweint und beweglich verfasset würde. Aber wie war das noch tunlich in unsern Tagen, Verehrteste, die ein wahrer einziger heller Tag sind, wo die Aufklärung als ein eingeklemmter angezündeter Strick fortglimmt, an welchem an öffentlichen Orten jedes Tabakkollegium seine Köpfe anzündet? – Wer öffentlich noch ein wenig empfinden darf und der ist zu[911] beneiden –, das sind entweder die Buchhändler in ihren Bücher-Geburts-Anzeigen, indem man alle etwanige Empfindsamkeit darin mit dem Eigennutz entschuldigen kann; oder es sinds die lachenden Erben in ihren Todes-Anzeigen, wo aus demselben Grunde der Korkzieher der Tränen darf eingeschraubt und angezogen werden. Sonst aber hat man gegen Weinen, besonders wahres, viel – die Tränenkrüge sind zerschlagen, die weinenden Marienbilder umgeworfen von zeitiger Titanomanie – die besten Wasserwerke sind noch früher angelegt als die Bergwerke, welche davon auszutrocknen sind – wie in Schmelz-Hütten ist in die Seelenschmelz-Hütten, in die Romane, einen Tropfen Wasser zu bringen streng verboten, weil ein Tropfen das Glut- und Fluß-Kupfer zertrümmernd auftreibt – der Mensch fängt überhaupt an, und zwar bei den Tränen (nach Hirschen und Krokodilen zu schließen), das Tierische abzulegen, und das Menschliche anzunehmen, wo man bei dem Lachen anfängt, so daß jetzt eine poetische Zauberin, wie sonst eine prosaische Hexe, daran eben erkannt wird, daß sie nicht weinen kann.

Kurz, Rührung wird gegenwärtig nicht verstattet – leichter eine Rückenmarksdürre als eine Augenwassersucht; – und wir Autoren gestehen es uns manchmal untereinander heimlich in Briefen, wie erbärmlich wir uns oft wenden und winden, damit wir bei Rühr-Anlässen (wir müssen selber darüber lachen) keinen Tropfen fahren lassen.

Ich schließe diese Zeilen ungern; aber der Ohnehosen Schuster steht hinter dem Kopisten, Halter, schon gestiefelt und wartet auf die Kopie derselben mit der Jagdtasche; denn es wäre kaum zu sagen, was ich den trefflichen Testaments-Vollstreckern noch zu sagen hätte über das Werk. Mög' ich und die Welt nicht zu lange bei Ihnen auf die nächsten fünfhundert Nummern passen müssen! Nachgerade gegen den vierten Band spinnt sich in der Biographie ordentlich merkbar eine Art von Interesse an. Denn nun müssen die kostbarsten Sachen kommen und im Anzug sein; und ich brenne nach Nummern. Überall stehen Tellerfallen, und Dampfkugeln fliegen, Wildrufdreher schleichen, Hummerscheren klaffen Walts und Winas neuester Bund ist seltsam und kann unmöglich[912] lange bleiben ohne die größten Stürme, die bändelang rasen von Messe zu Messe – Jakobinens Nachtvisite muß konfuse Folgen haben oder kanns doch – der Larvenherr muß entlarvt werden (wiewohl ich ihn wahrlich errate; denn er ist mir zu kenntlich) – Vult hat seinen Schmollgeist, ist erlogen von Adel, lebt von Luft, stürmt so leicht – der testierende Elsasser ist ganz hergestellt und sieht zum Schalloch heraus – die meisten Erben minieren gewiß, ich seh' aber, bekenn' ich, noch nichts – des Helden Vater sitzt zu Hause und rennt und verschuldet Haus und Hof-Paßvogel, Harprecht, Glanz, Knoll müssen sich sehen lassen und graben noch unter der Erde – guter Gott, welche eine der verwickeltsten Geschichten, die ich kenne! Walt soll Pfarrer werden, und ich begreife nicht wie, und hundert andere Dinge nicht besser – der Graf Klothar will heiraten, kommt zurück und findet beim Himmel eine neue Wirtschaft und Historie, die ihm natürlich etwas frappieret – Walt will unendlich gut und willig bleiben und ein zartes Gottes-Lamm, und soll daraus ein Schaf, ein Hammel werden, unter Wollen-Scheren, unter Schlachtmessern – Schlingen, Flammen, Feinde, Freunde, Himmel, Höllen, wohin man nur sieht!......

– Allerdings, verehrlichster Stadtrat! hat eine solche Geschichte noch kein Dichter gehabt; aber ein Jammer ist es eben und ein noch unbestimmliches Unglück für die ganze schöne Literatur, daß sie wahr ist – daß mir so etwas nicht früher eingefallen als zugefallen – daß ich unglückliche Haut, an Testaments-Klauseln und Naturalien-Nummern gefesselt gehend wie an klein-schrittigem Weiberarm, nichts von romantischen Gaben und Blüten (indem ich doch auch unter den Romanciers mitlaufe) künstlich pelzen darf auf solchen Stamm. – – O Kritiker! Kritiker, wär's meine Geschichte, wie wollt' ich sie für euch erfinden und schrauben und verwirren und quirlen und kräuseln! Würfe ich z.B. etwan nur ein schmales Schlachtfeld in eine solche göttliche Verwicklung – ein paar Gräber – einen Schlegelschen Revenant des Euripidischen Ions42 – fünf Schaufeln voll italischer Erde oder sonst klassischer – einen schwachen Ehebruch – einen Klostergarten[913] samt Nonnen – von einem Tollhause die Ketten, wenn nicht die Häusler – ein paar Maler und deren Stücke – und den Henker und alles; – – – ich glaube, Vollstrecker, es fiele anders aus als jetzt, wo ich bloß nur nachschreibend zusehen muß, wie die Sachen gehen und aus Haßlau kommen, ohne daß ich, im möglichen Falle ungewöhnlicher Langweile, etwas anderes für die Welt und für Hrn. Cotta in der Gewalt hätte als wahres Mitleiden mit beiden, fast zu sehr vom Gewissen und sonst eingeklemmt und angepfählt.

– Aber mein Rezensent, der junge Schuster, der eben zwischen Schreiber und Abschreiber steht, treibt außerordentlich und will fort und sieht verdrüßlich nach dem Gottesacker hinaus. Noch schlüßlich ersuch' ich die Vollstrecker, falls schwere Kapitel, die besondere Kraft und Stimmung fordern, im Anzuge sein sollten, mir sie bald und jetzt zu schicken, wo gerade meine Lokale (wozu auch mein Leib zu rechnen), mein Schreibfenster, das den ganzen Ilzgrund beherrscht (denn ich wohne im Grunerschen Hause in der Gymnasiumsstraße), und das Blühen der Meinigen (worunter mein empirisches Ich mit gehört) mich sichtbar unterstützen; ja ich würde – wenn nicht solche Selbst-Personalien eher vor ein Publikum als vor einen Stadtrat gehörten – dazu selber den gedachten Gottesacker schlagen, wo man eben jetzt (es ist Sonntags 12 Uhr) halb in der Salvatorskirche, halb auf deren Kirchhofe im Sonnenscheine zwischen Kindern, Schmetterlingen, Sitz-Gräbern und fliegenden Blättern des Herbstes den singenden, orgelnden und redenden Gottesdienst so hält, daß ich alles hier am Schreibtische höre.

Ich könnte dabei manches empfinden; aber Rezensent drängt erbärmlich – weil die Tage kürzer werden –, und er ist schuld, daß ich in größter Eile mit der größten Hochachtung erharre

eines Hochedlen Stadtrats

Koburg, den 23. Okt. 1803.

J. P. Fr. Richter.[914]

39

in der Michaelis-Messe 1804.

40

Für den Sprachforscher ist le Goust von el Gusto das Anagramm, oder umgekehrt, und welche Sprache versetzte die andere?

41

So nannte Scarron seinen Ehrensold vom Buchhändler Quinet.

42

Ion heißt der Kommende.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 905-915.
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