V.

[160] Über den Tod nach dem Tode; oder der Geburttag


Das Schloß des Jünglings, dessen Taufname Ernst uns genügen mag, ruhte einem großen englischen Garten im Schoß, und der Garten wieder einer stolzen Ebene voll Berghäupter. Darin sollte sein Geburttag von seiner Mutter, von mir und – wenn sie noch morgens käme – von seiner Verlobten schön gefeiert werden; auch niemand hatte etwas darwider, ausgenommen der Festheilige selber. Ich nenn' ihn so, weil er oft sagte: er wünschte um keinen Preis irgendein Schutzheiliger oder gar die Maria zu sein, wenn er an seinem Namenstage das widrige Preisen und Posaunen der Menschen im Himmel hören müßte; wiewohl es mit dem Allerheiligsten – oder richtiger mit dem Alleinheiligen – noch schlimmer stehe. Ordentlich mit der Härte des Egoismus gegen Feindseligkeiten konnt' er Freundseligkeiten anfallen und berennen; ein Geburttag, sagt' er, wenn es nicht ein fremder wäre, sei vollends dumm. Lasset den Jüngling! Eine rechte Jungfrau ist euch eine Heilige, warum nicht der rechte Jüngling ein Heiliger? – Beide sind unschuldige höhere Kinder, denen nur nach der Laubknospe auch die Blütenknospe zerspringt. Ein Jüngling ist ein Lebens- Trunkener, und darum glüht er – wie einer, der sich durch physische Trunkenheit die jugendliche zurückholt – vom Wangen- und vom Herzensfeuer des Mutes und der weichsten Liebe zugleich. Die menschliche Natur muß tiefgegründete Güte haben, da sie gerade in den beiden Zuständen des Rausches, die sie verdoppeln und vor den Vergrößerspiegel bringen, statt vergrößerter Mängel nichts enthüllt als das Schönste und Beste gereift, nämlich Blume und Frucht, Liebe und Mut.

Der schön-widerspenstige Jüngling, der, wie meistens Jünglinge, nichts von seinem morgendlichen Wiegenfeste wußte, sollte[160] am Morgen von der Ankunft seiner Verlobten und seines Festes zugleich überrascht werden mit einer neuen hellen Welt; wir sprachen zusammen tief in die Nacht, aber Gespräche an dem Vigilien- und heiligen Abende einer geschloßnen Lebensfrist werden leicht ernst. Unversehends hatten wir uns wieder in den Staub unsers alten Kampfplatzes verlaufen; er behauptete: man werde in der zweiten Welt wieder sterben und in der dritten u.s.w. Ich versetzte, man müßte gar nicht sagen zweite, sondern andere Welt; – nach dem Zerbröckeln unseres körperlichen Rindenhauses sei ja die sinnliche Laufbahn abgeschlossen, die Erwartung einer neuen sinnlichen, gleichsam ihrer Wiederholung in einer höhern Oktave, werde bloß von der Phantasie untergeschoben, die ihre Welten nur mit den Armen der fünf Sinne baue und halte – und wir dächten wie die sinesischen Tataren, die ihre Toten mit goldpapierenen Häusern und Gerätschaften, im Vertrauen auf deren Verwirklichung droben, aussteuern, und besonders sei die Seelenwanderung außerhalb der Erde durch die Leiber auf andern Sternen ganz unstatthaft, schon nach Seite 106 im Kampanertal.

Ernst warf mir den ganzen rein-blauen Sternenhimmel vor uns ein, dessen Welten ja ein solcher jüngster Tag unseres Todes alle so einschmelze, daß aus dessen ganzer versperrter Unendlichkeit uns bloß das einzige Erd-Sternchen wäre offen geblieben. Ich antwortete: dies folge zwar nicht – da wir nicht alle Wege der Erkenntnis neben unsern fünfen kennen, und da wir Blindgeborne die Sonne durch den Tod der Gefühlnerven verlieren, und doch durch das Erwecken der Sehnerven wieder bekommen können –; aber gesetzt, so sei es, so wären wir dann nur ebenso von den Welten wie jetzo von den zahllosen Jahrtausenden vor uns geschieden. – Hingen die Sterne näher und als Erdmassen vor uns, oder sähen wir außer denen droben zugleich die drunten: so wäre man schwerlich auf die Hoffnung dieser himmlischen Völkerwanderungen verfallen und hätte unserer heiligsten Sehnsucht nicht die Richtung nach einer bloß metaphorischen Höhe gegeben – Der celtische Himmel aus Wolken und der jetzige aus Welten wären uns nur in der Größe verschieden, ja der griechische sei besser, der die schattige träumerische Unterwelt einnehme.[161]

Ernst versetzte mystisch, es gäbe ein absolutes Oben, welches im Siege über die Schwerkraft, in der Freiheit bestehe, und das die Flammen und die Wurzelkeime auf dem Avers und Revers unserer Kugel suchen. – Gegen meinen Unglauben an eine zweite Verkörperung und Menschwerdung fragt' er: ob das Erkennen und das sittliche Handeln ohne irgendeine möglich sei – – »Bei endlichen Wesen meinen Sie ohnehin,« setzt' ich darzu; »denn vom unendlichen ists gewiß«- und wenn das künftig sein könnte, warum man denn überhaupt die erste hiesige umbekommen? Aber das völlige Ausscheiden aus unserer Körperwelt sei undenkbar, insofern der Tod es vollführen solle, der sie ja, wie der Schlaf und die Ohnmacht, nicht dadurch für den Geist aufhebe, daß er sie verändere; und wenn einmal das Gehirn eine Tastatur des Geistes war, so behalte er doch nach dessen Zersetzung noch die Körper übrig, wodurch und worin dasselbe zersetzt geworden; zumal da keine Kraft im Universum zu verlieren sei. – »Das Universum ist der Körper unsers Körpers,« fuhr er fort, »aber kann nicht unser Körper wieder die Hülle einer Hülle sein und so fort? Für die Phantasie wird es faßlicher, wenn man ihr es auszumalen gibt, daß, da jede mikroskopische Vergrößerung eine wahre, nur aber zu kleine ist29, unser Leib ein wandelnder organischer Kolossus und Weltbau ist; ein Weltgebäude voll rinnender Blutkugeln, voll elektrischer, magnetischer und galvanischer Ströme, ein Universum, dessen Universalgeist und Gott das Ich ist. Aber wie die Schmetterlingpsyche eine Haut nach der andern absprengt, die Ei-Haut, die vielen Raupen-Häute, die Puppenhaut,[162] und endlich doch mit dem schön bemalten Papillonkörper vorbricht: so kann ja unsere Psyche den muskulösen, dann den nervösen Überzug durchreißen und doch mit ätherischem glänzenden Gefieder steigen. Schon hier bereiten ihr oft Bergluft, Getränke, Krankheit ein dünneres Element, worin sie leichter und mit den aufgehobenen Flügeln halb außer der Welle flatternd schwimmt; wie muß sie nicht erst im hohen Äther, im leichten weißen Brautkleide des zweiten Lebens, fliegen und eilen?« –

Aus der Wirklichkeit war freilich gegen diese Möglichkeit, den goldnen Widerschein derselben, nichts zu schließen. Dabei hatte der feurige Jüngling nach Landesart der Schwärmer Einwürfe verschiedener Gattung wie ausländische Truppen in eine Linie gestellt. Ich macht' es nachher nicht besser, als ich triplizierte. Aber er ließ mich noch nicht dazu kommen; sondern trug erst diese Möglichkeit gar nach: »Wir kennen nur die äußersten Überzieh-Kleider der Seele, aber nicht ihr letztes und nächstes, ihr Hemde. Unter allen Erscheinungen von Verstorbenen sind z.B. die von eben Verstorbenen oder von Sterbenden am schwersten rein abzuleugnen; die unzähligen Toten der Jahrtausende verhüllen sich uns, aber der Tote der Stunde trägt gleichsam noch Erdenstaub genug an sich, um damit noch einmal im Sonnenstrahl des Lebens vor einem geliebten Auge zu spielen.«

Ich wollte beinahe entgegensetzen, warum uns keine verstorbne Tierseelen erschienen, und daß die Erscheinung bloß verwandter Sterbenden und Gestorbenen ja deutlich ihre Ursache und Erklärung, nämlich die Täuschung der Liebe und Furcht ansage, aber ich unterließ den Zweifel; über Geistererscheinungen wurde ohnehin bisher noch nicht mit rechter Religion und Freiheit zugleich geurteilt, und am wenigsten können gegen sie, so wie gegen den tierischen Magnetismus, negative Erfahrungen entscheiden, die eben darum gar keine sind. Mich besticht jeder Gebildete, der Geistererscheinungen glaubt, weil er mich an die religiösere deutsche Zeit erinnert, wo man sie ebenso fest glaubte als aushielt. Ich triplizierte aber nun auf alles vorige: man nehme das Körperkleid so fein gewoben an, als man wolle, so verhalte sichs doch zum Ich wie der unorganisierte Rock zum organischen[163] Leibe; ein einziger irdischer Nerve sei aber schon der Sperrstrick vor der andern Welt, und ein einziges Erdstäubchen ziehe die ganze Erde, unser ganzes irdisches Treiben nach sich; das Leben nach dem Tode sei dann eines vor demselben und der Gestorbene vom Lebenden nur dadurch verschieden, daß er hinter dem Alter alt und aus dem Neunziger ein Millionär werde; wir hiesige Nacht-Raupen verwandeln uns dann nicht in Schmetterlinge, sondern in Tag-Raupen und fressen und kriechen dann bloß im Sonnenschein. »Aber«, fuhr ich im Enthusiasmus fort, »was wir begehren, und was allein zu beweisen ist, das muß etwas anderes sein; die Welt des moralischen Herzens klingt, wie ein Ton, unsichtbar und zum Wehen unwirksam in der groben der Sinnen;- will denn unsere Liebe, unsere Freude, unsere Gottes-Ahnung etwas, was auf einer harten Körper-Welt, sei es auch die schönste, erscheinen kann? Die schönste, die ich in dieser Art kenne, ist die der Phantasie, dieser rechten Weltschöpferin; und doch muß eben diese allgewaltige Weltseele alle ihre Weltkugeln, damit sie Zauberlicht gewinnen, mit der Morgenröte und Milchstraße der künftigen Unendlichkeit ahnend umziehen. Wie die Geister-Furcht sich vor wahnsinnigen neuen Schmerzen entsetzt, die nicht vor dem Einflusse, sondern vor der bloßen Gegenwart des Gegenstandes beben und die uns gar keine Gestalt dieses Mittaglebens machen oder heilen könnte: so gibt es auch eine Geister-Hoffnung und Geister-Liebe, die nicht Wirkungen, sondern Dasein der Wesen begehrt, und welche keiner irdischen Freude abborgt, sondern höchstens den besten heimlich darleiht. Unser armes, wunden-volles Herz habe sich auch nach allen Seiten noch so oft wieder geschlossen, so bleibt doch daran eine angeborne Wunde offen, die nur in einem andern Elemente des Daseins zufällt, wie sich am ungebornen Kinderherzen die eiförmige Öffnung erst verschließet, wenn es ein leichteres Leben atmet. Darum wendet sich ja unsere obere Blattseite, wie bei Blumen, sooft man sie auch gegen den irdischen Boden umdrehe, immer wieder gegen ihre Himmelseite herum.«

»Angeborne Wunde!« wiederholte der Jüngling mit einem Seufzer. »Unsere Wunde oder unser Himmel ist offen,« sagt' ich[164] angefeuert, »dies ist eins und kein Wortspiel. Oder soll der Tod auch in jener Welt uns wie sklavische Krieger immer wieder von neuem einquartieren? – Wir, jetzt der Libellen-Nymphe gleich, deren vier Flügel sichtbar in den Scheiden kleben, sollen einmal nur neue Scheiden aus alten ziehen und dieses Ausscheiden Fliegen heißen? Und wenn wir, vor der Sündflut des Irdischen uns rettend, zu heiligern Bergen geflohen, sollen wir auf jedem wie auf dem Pilatusberge wieder einem See begegnen? Und die Ewigkeit wäre bloß ein ewiger Vorhalt auf der Dissonanz?«

Jetzt kam der Jüngling durch mich zu sich, und er fragte mich kalt: »Demnach müßte ich doch irgend eine Original-Vorstellung vom andern Leben geben können; weil nur dieses Urbild jedes Urteil über ein Nachbild rechtfertigen könne.« –

Ich antwortete: Könnt' ich das künftige Leben beschreiben, so hätt' ich es und der, der mich verstände; der neugeborne Säugling aber drängte sich durstend nach einer Kost, die er nicht chemisch prophezeien könne, und die doch der Instinkt verbürge und treffe. Von der andern Welt sprechen wir jetzo wie Blinde vor dem Starstechen von der sichtbaren – alle Malereien ihres Morgenrots würden wie bei jenem Blinden auf Definitionen vom Trompetenton hinauslaufen.

Hier spräche aber – versetzte der Jüngling – der Blinde doch nur zum Blinden, und Ähnliches orientierte sich durch Ähnliches. Aber eben darum, da kein Sinn durch die vier andern (und hier sollen sie gar über Nicht- und Über-Sinne richten) gegeben sei, und das so wenig, z.B. durch alle Farbenebenen ein Ton, daß wir diesen für ein Ich unter den sprachlosen Flächen halten würden, wenn sich nicht Geruch, Geschmack, Gefühl ebenso schneidend und selbständig wie der Ton von den Farben schieden; und da doch diese fünf unähnliche Weltteile sich zusammenknüpften und unterstützten: so sei aus ihrer irdischen Entfernung von einem künftigen sechsten, siebenten u.s.w. gar nichts gegen das Dasein und Verhältnis eines ähnlich-unähnlichen eben besagten sechsten, siebenten u.s.w. zu folgern; umgekehrt vielmehr alles dafür.

Das war etwas, und doch nur einseitig und halbseitig. »Das Herz«, sagt' ich, »braucht aber etwas anderes als Sinnen; man[165] geb' uns tausend neue: der Lebensfaden bleibt doch auf dieselbe Weise leer-verglimmend, der leichte Punkt des Augenblicks lodert an ihm hinauf, und der lebendige Funke läuft zwischen dünner Asche und leerer weißer Zukunft. Die Zeit ist ein Augenblick, unser Erden-Sein wie unser Erden-Gang ein Fall durch Augenblick in Augenblick. Unser Sehnen wird uns für dessen Gegenstand, so wie der wirkliche Durst im Traum für sein wirkliches Löschen im Wachen, Bürge, sooft auch der Traum mit geträumtem Trinken hinhalte. Ja diese Ähnlichkeit wird Gleichheit; denn gerade dann, wann dieses Leben am reichsten austeilt, z.B. in der Jugend, und wie eine Sonne uns mit Morgenrot und Mittaglichtern und Mondschein blendet, gerade dann, wenn das Leben unsere höchsten Wünsche ausfüllt, da erscheint das fremde Sehnen am stärksten, und nur um ein ebenes Paradies des Erdbodens wölbt sich der tiefe gestirnte Himmel der Sehnsucht am größten. Woher dies sogar bei den geistigsten Seligkeiten? Eher sollte man das Sehnen erwarten von der Leere.«

– »Die Sehnsucht konnte ja ihr eigener Gegenstand sein«- versetzte Ernst.

»Ich begehre« (antwortete ich gleichsam zur Parodie) »keine Antwort auf meine Frage, ob man nach Dürsten dürsten würde, ohne getrunkenes oder zu trinkendes Wasser: sondern Sie fahren fort.«

»Ich antwortete eben,« – versetzte er – »daß, wenn wir nach Ihren Behauptungen mit der ganzen sogenannten andern Welt schon in der hiesigen leben und ausdauern und jene als einen himmlischen Regenbogen des Friedens schon über diese spannen: so könnte sich dies ja so fort vererben von Erde zu Erde (wir brächten immer die andere Welt dahin mit).«

»Dann«, erwiderte ich, »wär's einerlei, wo man lebte, und kein Weiser könnte etwas Höheres verlangen vom Leben, als es fort zu erleben, d.h. neue Geburttage.«

»Sehen wir uns denn wieder, wenn wir aus der Zeit in die Ewigkeit gehen?« fiel die liebe Mutter ein; denn das liebende Herz der Weiber sucht in der Zukunft zuerst das Geliebte; daher hört man diese sorgende Frage nach Wiedersehen zuerst von ihnen.[166] »Was göttlich ist an der Liebe, das kann nie untergehen,« sagt' ich, »oder sonst, da das Irdische ohnehin vermodert, bliebe gar Nichts. Aber der altchristliche Ausdruck: aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit, das ist der rechte; hinter dem Leben gibts keine Zeit, so wenig wie vor dem Leben; über das andere Leben lässet sich so wenig etwas darüber hinaus denken als über den Urgrund alles Seins.«

Ernst wandte noch schnell ein: »und doch spreche man von Fortdauer und wolle mit diesem Zeitpleonasmus alle Zeit vernichten; aber gesetzt, warum wolle man denn vor der Ewigkeit vorher, für welche Millionen Jahre nicht mehr wären als achtzig, uns nur letzte, nicht auch die Millionen zugestehen?« Ich mußte dies einräumen und sogar noch fester machen, indem ich versetzte: »dies komme denn und Trillionen dahinter; denn so gut der Schöpfer hier unsere Spiel- und Laufbahn über eine Erde gehen ließ, so kann er sie noch über tausend Erden ziehen, nur muß der Weg ein Sonnenziel haben, oder wir jagen ewig einem rückenden Regenbogen nach.«

Wir waren nun einander freundlich, wie vorher feindlich, nähergerückt und hörten auf mit Recht; ein solcher Streit kann nur abgebrochen, nicht abgeschlossen werden, er lässet, wie die ganze Philosophie, nur Waffenstillstände, nicht Friedenschlüsse zu. Alle Untersuchungen sollten daher wie die platonischen und lessingischen poetisch, nämlich dramatisch sein, damit sich hinter dem Reichtum der Ansichten die Ansicht des Autors versteckt erhielte, weil der blinde Gläubige so gern und zuerst diese als eine Autorität aufsucht und annimmt, um sich dann in ruhigem Besitze aller übrigen nur zu deren Verteidigern und Geschäftträgern statt zu Richtern zu machen.30

Ich wende mich wieder zur Geschichte, die freilich in so vielen Schlußketten kaum drei Schritte tut. Ich und die alte fromme Mutter hatten uns beredet, den Jüngling zum Geburttag, wie[167] den Montaigne, mit Musik zu wecken, womit sich andere einschläfern. Bloß mit einer Flöte wollt' ich ihn herausblasen aus dem dunklen Reich. Am Morgen, da ich diese in die Hand genommen, kam schon seine verlobte Ernestine angerollt, welche deshalb die ganze Nacht gefahren war. Es stand noch nichts weiter vom Morgen am Himmel – nicht drei Auroras-Sonnenblumen – als der kühle weiße Morgenstern. Aber der Wiegenfest-Schläfer, den ich ins Leben blasen wollte, war gar noch nicht daraus gekommen, sondern hatte die Nachmitternacht und den Vormorgen im Freien verwacht. Wir hatten aus der Ernestinischen Überraschung eine noch schönere für ihn bilden wollen, und glaubten uns durch eine schlimmere um jede andere gebracht.

Ich sucht' ihn im Park und fand ihn endlich, doch im – Schlafe; er hatte sich auf der anmutigsten Moosbank gesetzt, wahrscheinlich um der Nachtigall und der Kaskade hinter seinem Rücken zuzuhören und den Strom und den Morgen vor sich zu sehen, aber der Abendkrieg und die Morgenkühle und Sonnennähe hatten wieder die Sinnentore langsam zugezogen. Das Morgenrot glühte auf seinem gesundroten Gesicht, und Träume zitterten durch die zarten Fibern. Ernestine allein stellte sich mit Augen voll Freudentropfen vor die ruhige Gestalt. Ich fing von ferne leise Flötentöne an, die noch wie Mattgold in seine Traumaurora zu verweben waren. Die Sonne brannte immer heller ins Morgengewölk hinauf. Plötzlich regt' er bange die Arme – seine Lippe zuckte – sein Augenrand quoll weinend über – die Flötentöne bebten auf seinen Zügen nach. – Da fürchtete Ernestine, ihn quäle ein harter Traum; sie winkte mir, ihn mit Tönen zu erlösen, und legte, seine Hände nehmend, ihre schöne Wange leise an seine Brust. Er fuhr aus dem Traum – er sah Ernestine groß an und kam, als gehöre sie in den Traum-Wahnsinn, durch ihr freundliches liebes Antlitz wieder in denselben zurück – bis ihn endlich das Wort und das Licht zu allen Freuden wach und lebendig machte.

Hört nun seinen Traum.


[168] Der Tod in der letzten zweiten Welt


Endlich sind wir im Vorhofe der Ewigkeit und sterben nur noch einmal, sagten die Seelen, und dann sind wir bei Gott. Aber wie rinnend und flatternd ist das Land der Seelen! Im ganzen Himmel waren Sonnen, die ein Menschenantlitz hatten, umhergelegt, sie sahen uns bloß mit einem Mondlicht an, eine nach der andern ging bloß in der Höhe unbegreiflich unter, aber an keinem Erdenrand und wurde vorher ihre eigne Abendröte. Jetzo sind nur noch tausend Mondsonnen lebendig, sagten wir; wenn die letzte im Zenith einsinkt, so geht Gott auf und tagt. Nach jeder versiegten Sonne wurden unsere Gestalten verkleinert. Wir sind doch keine Träumer mehr wie auf der Erde, sondern schon Nachtwandler, und wir müssen bald erwachen, sagte ich; ja, wenn wir aber erst kleine Kinder sind, sagten die andern. Die Körperwelt wurde immer flüssiger und rann leicht. Mit bloßen Gedanken bogen wir goldne Bäume nieder und rückten Gartenberge von tauigen Auen weg. Ein Eisberg, aus dichtem Mondlicht gegossen, stand mitten unter Rosen, ich nahm meine Gedanken und löste ihn auf und goß ihn gleißend über die breite Rosenflur. Ich stand vor einem glatten blauen Palast ohne Tore, und mein Herz klopfte sehnsüchtig davor; siehe, wie vor dem Erdbeben Türen aufspringen und Uhren schlagen, so tat sich vor meinem Herzklopfen der Tempel auseinander; siehe, mein Erdenleben blühte darin an seinen Wänden, in Bilderchen angemalt, kleine Harmonikaglöckchen schlugen meine Jugendstunden nach; und ich weinte, und ein alter Erden-Garten war an der Wand, und ich rief: schon darin, schon in jenen grauen Zeiten drunten sehnte sich dein armes Herz wie jetzt, ach, das wird lange!-

Da segelte die weißschuppige endlose Schlange durch die hohen Blumen an mich heran, um sich unaufhörlich um mich zu gürten, aber ich nahm unter ihrem Aufsprunge meine Gedanken und wand die Schlange unausgesetzt als Perlenschnur um meinen Leib; da vertropften wieder diese Perlen als Tränen: gut, sagt' ich, ich weinte ja schon vorhin, eh' sie kam, und noch viel länger.

»Es ist schon Ewigkeit,« sagten einige, »denn die Körper gehorchen dem Sehnen; die Raupen auf Blumen fliegen als Schmetterlinge[169] auf, wenn wirs denken – der dicke Schlaf kommt, sogleich wird er ein durchsichtiger Traum – wir blicken ins dunkle Grab und schlagen es durch mit dem Augenfunken, und unten sieht aus dem zweiten Himmel ein mildes Sonnengesicht herauf.« – »Nein, es ist erst Zeit,« sagten die andern, »seht nach dem Zifferblatt.« – Auf einer weißen hohen Gesetztafel flogen noch die wimmelnden Kugelschatten umlaufender Welten durcheinander.

Nur die Töne allein konnten wir nicht verändern, denn sie sind selber Seelen, sagten wir. Sie waren schon auf der alten tiefen Erde bei uns gewesen und waren uns nachgegangen durch die Sonne, durch den Sirius und den unendlichen Sternen-Weg; sie waren die Engel Gottes, die uns von seinen Himmelhöhen erzählten, daß das Herz vor lauter Sehnsucht in seinen eignen Tränen starb.

Jetzt zog die Ewigkeit näher. Die Sonnen rings am Himmel-Rand waren alle eingegangen, und nur noch einige sanfte blickten miteinander an der dunkeln Höhe zusammen. Wir waren alle Kinder geworden, und der eine sagte zum andern: Du kennst mich und ich dich sehr gut, aber wir haben keine Namen. Helle gespannte Farben erklangen; hohe Töne blitzten oben im Flug, und die tiefern ließen am Boden Blumen fallen. Es donnerte; jetzo bricht das Welten-Eis, sagten wir, es wird schmelzen und rinnen und verrinnen. Wo bleibt aber mein kleines, auf der Erde verstorbenes Kind? sagte selber eines. Es schwimmt in seiner Wiege auf dem Weltenmeer daher, antwortete das andere.

Nun stand nur noch eine Sonne mild und bleich am gewölbten Blau. – Der rollende Eisdonner verlief sich zu tiefen Tönen und endlich zu fernen Melodien. – In Abend stiegen goldne Wolken aus dem Boden gen Himmel, und Sternbilder schlichen sich hinter ihnen zu Boden nieder. – In Morgen stand die Ewigkeit hinter den letzten vergehenden Wolken, es war eine große verhüllte Glut hinter einer im Sturme umgetriebnen Regenwolke. Aber die Kinder sahen nur noch hinauf zur letzten Sonne, die oben untergehen wollte. – Da kamen die Töne, in denen ihre letzten Welten sprachen und starben; und die Kinder weinten alle, weil sie ihre lieben alten Erden-Melodien hörten, und sie[170] beteten kindisch so zu Gott: »Wir sind ja deine Kinder, Vater, wir sind in allen Welten gestorben, und wir weinen immer noch fort, weil wir ja nicht zu dir, zu der ewigen Liebe und Freude kommen. – O wurde nicht der Himmel so tausendmal oft höher über uns, und so tausendmal tiefer, und unser liebes Erdelein verschwand bald rechts, bald links, und wir blieben immer allein? Höre, wie die guten Töne für uns beten!« –

Plötzlich glomm hoch in der fernen Unendlichkeit die goldne Flügelspitze eines unsichtbaren Engels an – die schmachtend bebenden Kinder wurden unsichtbarer, wie Saiten, wenn sie zittern und tönen, und verklangen im Gebete... Da fing die letzte Sonne oben zu lächeln an und schlug blaue Augen auf – Der Engel mit roten ausgebreiteten Feuerflügeln rauschte herunter, um mit ihnen die Welten-Aurora wegzustreifen, die um Gott hing... Und siehe die letzte Sonne stand als Gott unten bei mir, die Welten waren verschwunden, und ich sah nichts weiter – und erwachte...

Aber der Jüngling erwachte mit seiner Geliebten an der Brust, und sie lächelte angeschmiegt in sein Auge empor. Gegenüber fuhr die Morgenröte auseinander, die Erden-Sonne trat zwischen ihre Goldberge und warf schnell einen Flammenschleier über die entzückten Augen, und die lächelnde Mutter kam zur Seligkeit; der Strom floß schneller, der Wasserfall sprang lauter, und die Nachtigallen sagten alles inbrünstiger, was ich hier sage. »O Freunde« – sagte Ernst, von dem Traume und allem begeistert, und wollte gleichsam durch das Aufopfern des Gestern und durch das Einstimmen in den mütterlichen Glauben an eine Ewigkeit ohne Tod dankbar die liebende Rücksicht auf sein Glück abwenden und belohnen – »o Freunde, wie licht ist das Leben! Das Wachen ist nicht bloß ein hellerer Traum; dieser Affe unsers heiligen Bewußtseins stirbt vor den Füßen des wachen innern Menschen, das geträumte Erwachen wird vom wahren vernichtet. – Und so werden einmal von der Ewigkeit alle unsere Träume über sie vertilgt.« –

Und hier endige der endlose Streit! Eine Braut weint selig über den ersten Geburttag des Herzens, das nun dem ihrigen[171] bleibt; aber das wiedergeborne weint selig über die sympathetische Seligkeit des fremden; so muß es sein, und so gehören wir der Liebe an. Ernestine fragte in sanfter Rührung: »Kann es denn droben etwas Höheres geben als die Liebe?« – Wahr, Ernestine! Nur in ihr – und in einigen andern seltenen Blitzen des Lebens- reicht die Wirklichkeit blühend in unser innres Land der Seelen herein, und die äußere Welt fällt in eins zusammen mit der künftigen; die Liebe ist unser hiesiges Seegesicht31, und die tiefen Küsten unserer Welt erheben sich vor der alten.

Mit dieser Gesinnung wurde das schöne Fest froher gefeiert. Unser ganzes Leben ist ein nie wiederkommender Geburttag der Ewigkeit, den wir darum heiliger und freudiger begehen sollten. Dem ganzen Tage hing der frühe Tauglanz an – der Abend fand den Morgen noch im Schimmer, und der Mond spiegelte sich im Sonnentau – die Sterne zogen in das Herz herab und erleuchteten die schönsten Nachtstücke darin – und was wollen wir Menschen denn weiter? – –[172]

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 6, München 1959–1963, S. 160-173.
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