30. Summula

[211] Tischgebet und Suppe


Der Tumult der Erkenn- und Verkennszene mischte die Eßgäste schon auf dem Gange zur Tafel zu bunten Reihen der Freude zusammen. Der Sternenhimmel, Blasmusik und Bäume voll Lampen und hauptsächlich der abends angekommene und mitsoupierende große Mann bezauberte und vereinigte alles. Viele Mädchen, die Nießens Stücke aus Leihbibliotheken und auf Bühnen hatten kennen lernen, gingen unter dem Schirme wechselnder Schatten ganz nahe und anblickend neben seiner schönen Gestalt vorbei. Als er in seiner Uniform – dem weiblichen Jagd-Tuch oder Rebhühnergarn oder Frauen-Tyras – und mit der hohen Feder (die auf dem Kopfe erhabner aussieht als hinter dem Ohre) so dahinschritt und die Menge überragte wie der ursprüngliche Theudobach (nach Florus) seine Tropäe, und er als das Zwillinggestirn der Weiber, als Dichter und Krieger zugleich, sich durch seinen Himmel bewegte und mit Auge und Stimme so entschieden gegen männliche Wesen und doch mit beiden so scheu und bescheiden gegen weibliche einhertrat: so riß ein allgemeines Verlieben ein; – und hinter ihm sah, da er mit dem fünfschneidigen Melpo menens-Dolch und mit dem Kriegerschwert alles[211] schlug, der Weg wie eine weibliche Wahlstatt aus: der einen war der Kopf, der andern das Auge, der dritten das Herz verwundet. Er aber merkte gar nichts von den sämtlichen Verwundeten, die er hinter sich nachführte. Bisher mehr astronomisch zu den Himmelsternen hinauf- als zu den weiblichen Augensternen herabzusehen gewohnt, zeigte er nicht den geringsten Mut vor einem ganzen Augensternhimmel; und vor einigen, welche den Busen mit nichts bedeckt hatten als mit ein paar Locken und Blumen, wollt' er gar das Hasenpanier ergreifen. Jedoch schickte er seinen Blick heimlich nach dem Mädchen herum, das, ihm so unbekannt, dreist ihm vor einer Menge beigestanden hatte.

Theoda war aber längst durch das Gedränge zu ihrem Vater hingeeilt, wie unter dessen schirmende Fittiche gegen ihr Herz und das Volk. Sie war berauscht und beschämt zugleich, daß sie so öffentlich, mehr eine Leserin als ein Mädchen, sich in den Zweikampf von Männern als Sekundantin gemischt. Erst durch langes Bitten rang sie dem Vater die Erlaubnis ab, ihn dem Dichter vorzustellen, wiewohl ers ein Selber-Spektakelstück nannte.

Neben ihm stand sie, als sie ihren Lebens-Abgott, den bald Lichter, bald Schatten reizend bedeckten, herkommen sah und sie ihm aus der Ferne unbeschämter in das edle Antlitz schauen konnte. Sie stellte mit kindlicher Lust ihren Vater dem berühmten Genius vor. »Meine Tochter« – nahm Katzenberger leicht den Faden auf – »hat mich mit Ihrem Künstlerruhm bekannt gemacht; ich bin zwar auch ein Artista, insofern das Wort Arzt eine verhunzte Verkürzung davon ist; aber, wie gesagt, nur Menschen- und Vieh-Physikus. Daher denk' ich bei einer Hauskrone und Lorbeerkrone mehr an eine Zahnkrone oder bei einem System sehr ans Pfortadersystem, auch Hautsystem, und ein Blasen- und ein Schwanenhals sind bei mir nicht weit genug getrennt. Mir sehen Sie dergleichen wohl nach! Dagegen weis' ich Sie auf meine Tochter an.«

Der Hauptmann machte, d.h. zeigte die größten Augen seines Lebens; er fand in diesem Badeorte zu viel Wirrwarrs-Knoten. Doch aus Dankbarkeit gegen das Mädchen, das heute einen so kühnen Anteil an seinem Schicksale genommen, sagt' er nur:[212] »Das schöne Fräulein, dem ich viel Dank schuldig bin, hat bloß Ihren Namen zu nennen vergessen.«

»So seid ihr Volk;« – wandte sich der Vater an die Tochter- »wenn ihr nur eure Taufnamen habt, unter Briefen und überall; nach des Vaters Namen fragt ihr keinen Deut. Ich und sie heißen Katzenberger, Herr von Theudobach!«

Der Hauptmann, der nach mathematischer Methode aus allen bisherigen Hindeutungen auf einen Briefwechsel mit ihm gar nichts heraussummiert hatte als den Heischesatz, daß man hier erst hinter manches kommen müßte, setzte wie jeder Sternseher fest: »Zeit bringt Rat; ein jeder Stern, besonders ein Bartstern, muß erst einige Zeit rücken, bevor man die Elemente seiner Bahn aufschreibt; folglich rücke der heutige Abendstern nur weiter, so weiß ich manches und rechne weiter.« Man setzte sich zu Tisch und Theoda sich neben den Hauptmann; Erdferne von ihm wäre ihr diesen Abend Wintertod gewesen. Sie hatte noch auf väterliche Nachbarschaft gerechnet; aber der Doktor, der sich von beiden Leuten nichts versprach als einen Abend voll dichterischer Sachen, einen Teich voll schwimmender Blüten ohne Karpfen und Karauschen und Hechte, hatte sich längst weggebettet unten hinab; und vom Doktor hatte sich wieder weit abgebettet der Brunnenarzt Strykius in einer geistigen Ehescheidung von Tische. Theoda schwieg lange neben dem geliebten Manne, aber wie voll Wonne und Reichtum! Und alles um sie her überfüllte ihre Brust! Über die Tafel wölbten sich Kastanienbäume – in die Zweige hing sich goldner Glanz, und die Lichter schlüpften bis an den Gipfel hinauf, über welchen die festen Sterne glänzten – unten im Tale ging ein großer Strom, den die Nacht noch breiter machte, und redete ernst herauf ins lustige Fest – in Morgen standen helle Gebirge, auf denen Sternbilder wie Götter ruhten- und die Ton-Feen der Musik flogen spielend um das Ganze hinunter, hinauf und ins Herz.

Theoda, durch jeden eignen Laut einen vom Dichter zu verscheuchen fürchtend und für ihre sonst scherzende Gesprächigkeit zu ernst bewegt, stimmte wenig mit der redelustigen Gesellschaft zusammen, welche desto lauter und herzhafter sprach, je mehr[213] die Musik tobte; denn Tisch-Musik bringt die Menschen zur Sprache, wie Vögel zum Gesang, teils als Feuer- und Schwungrad der Gefühle, teils als ein Ableiter fremder Spür-Ohren.

Bloß der Hauptmann konnte sein Ich nicht recht mobil machen; er hatte so viele Fragen auf dem Herzen, daß ihm alle Antworten schwer abgingen. Theoda, welche schon nach Nießens Schilderung mehr Angrenzung an Nießische Leichtigkeit erwartet hatte und vollends von einem Dichter, konnte sich die in sich versenkte Einsilbigkeit nur aus einem stillen Tadel ihrer öffentlichen Anerkennung erklären; und sie geriet gar nicht recht in den scherzenden Ton hinein, den Mädchen oft leicht gegen ihre Schreibgötter, auch aus einer mit Seufzern und Wonnen überhäuften Brust, anzustimmen wissen.

Der Brunnenarzt Strykius, der sich ihm mit einem festgenagelten Anlächeln gegenübergesetzt, befiel und befühlte ihn mit mehren Anspielungen und Anspülungen seiner Werke; aber der Hauptmann gab – bei seiner Unwissenheit über den Dichter und darüber, daß man ihn dafür hielt – unglaubliche Quer-Antworten, ohne zu verstehen und ohne zu berichtigen. So gewiß hören die meisten Gesellschafter nur einen, sich selber; – so sehr bringt jeder statt der Ohren bloß die Zunge mit, um recht alles zu schmecken, was über dieselbe geht, Worte oder Bissen. Hat sich ein Mann verhört, folglich nachher versprochen und endlich darauf sich aufs Unrechte und Rechte besonnen: so blickt er verwundert herum und will wissen, wie man seinen zufälligen Unsinn aufgenommen; er sieht aber, daß gar nichts davon vermerkt worden, und er behält dann zornig und eitel den wahren Sinn bei sich, ohne die fremden Köpfe wieder herzustellen in das Integrum des eigenen. Daher verstehen sich wenig andere Menschen als solche, die sich schimpfen, weil sie von einerlei Anschauungen ausgehen.

– – Hier führt mich die lange vorstehende Bemerkung beinahe in die Versuchung, nach vielen Jahren wieder


ein Extrablättchen


zu machen. Denn eben die gedachte Bemerkung hab' ich erst vor einigen Tagen im neuesten Bande des Kometen gelesen; ja ob sie[214] nicht gar (wie fast zu befürchten) noch in einem dritten Buche von mir sich heimlich aufhält, das weiß der Himmel, ich aber am wenigsten. Denn woher sollt' ich nach ein paar Jahrzehenden wissen oder erfahren, was in meinen so zahl- und gedankenreichen Werken steht, da ich sie – ausgenommen unter dem Schreiben – fast gar nicht oder nur zu oberflächlich lese, sobald nicht zweite oder dritte Auflagen gefodert werden, in welchem letzten Falle ich mich sogar rühmen darf, daß ich den Hesperus dreimal (zweimal im achtzehnten Jahrhundert und einmal im neunzehnten) so aufmerksam durchgelesen als irgendein Mitleser aus einer Leihbibliothek, welcher exzerpiert. – Eben seh' ich noch zum Glück' da ich, wie gesagt, mich unter dem Schreiben immer lese, daß ich den Satz oben fragweise angefangen, unten aber wegen seiner unbändigen Länge mit einem Fragzeichen zu schließen vergessen. – – Denn – um zurückzukommen – kann ich wohl bei der Menge wichtiger Bücher, welche die Vergangenheit und das Ausland aus allen Fächern liefern und wovon ich noch dazu die besten, vor vielen Jahren gelesenen wieder durchgehen muß, weil ich sie jetzo besser verstehe, der neuen Supplementbibliotheken in jeder Messe gar nicht zu gedenken – kann ich da wohl Lust und Zeit gewinnen, einen mir so alltäglichen und bis zur Langweile bekannten und auswendig gelernten Autor wie mich in die Hand zu neh men? – Was in unserem Jahrhundert Gelehrte zu lesen haben, welche Berge und Bergketten von Büchern, leidet keine Vergleichung mit irgendeinem andern, ausgenommen mit dem nächsten zwanzigsten, wo sich die Sachen noch schlimmer zeigen, nämlich 200 neue Büchermessen mehr. Wahrlich, da brauch' ich keine Sorbonne, welche mir wie einmal dem Peter Ramus das Verbot auflegt, die eignen Werke zu lesen. Aber warum fahrt, bellt, schnaubt und schnauzt denn irgendein kritischer Schoßhund mich an, wenn ich statt des eignen Lesens nichts wiederhole als zuweilen eigne Gedanken? – Sinds aber vollends Gleichnisse: so möcht' ich nur erst den fremden Mann kennen, der bei meiner Überschwängerung damit solche aus neunundfunfzig Bänden behielte; vollends nun aber der eigne Vater, welchem Gebornes und Ungebornes durcheinanderschießt[215] und der oft (der gute Mann!) zehn ungedruckte Geburten auf dem Papiere ungetauft liegen läßt und dafür eine alte, schon gedruckte unwissend wieder in die Kirche trägt und über das Becken hält. –

Da Strykius, wie gesagt, durch alle Halbantworten Theudobachs nicht aus seinem Mißverständnis, dieser sei der Dichter, herauskam, so ließ er sich auch durch nichts halten, er mußte der ganzen auf dem Gesichte des Hauptmanns konvergierenden Gesellschaft zeigen, daß er selber Verdienst schätze und besitze. – »Das Wetter« (dacht' er bei sich) »soll den Dichter erschlagen, wenn er nicht merkt, daß ich mir etwas aus ihm mache.« – Er knüpfte daher von neuem so an: »Ich darf wohl unberufen im Namen der ganzen Gesellschaft unsere Freude über die Gegenwart eines so berühmten Mannes ausdrücken. – Sie haben zwar bessere Gegenden gezeichnet; aber auch unsere verdient von Ihnen aufgenommen zu werden.«

Der Hauptmann, der, zum Genie-Corps gehörig, sich dabei nichts denken konnte als eine militärische Zeichnung zum Nachteil der Feinde, nicht eine poetische zum Vorteil der Freunde, gab aufgemuntert, weil er endlich doch ein vernünftiges, d.h. ein Handwerks-Wort zu hören und zu reden bekam, zur Antwort: »Wenn hier eine Festung ist, so tu' ichs; jede ist übrigens überwindlich, und mich wunderte besonders, in demselben Buche Anleitung zur unüberwindlichen Verteidigung und zur sieghaftesten Belagerung anzutreffen, wovon ja eines eo ipso falsch sein muß.«

Hier lächelte Strykius verschmitzt, um dem Krieger zu zeigen, daß er die Allegorie ganz gut kapiere; ihm war nämlich, wie allen Prosa-Seelen, nichts geläufiger als die vermoosete Ähnlichkeit zwischen Liebe und Krieg.

Der Hauptmann fuhr etwas verwundert fort: »Mich dünkt durch Approchen, durch die dritte Parallele, wobei man über die Brustwehr fechten kann – durch falsche Angriffe« – (Hier nickte Strykius unaufhörlich zu und wollte immer lächelnder und schalkhafter aussehen) – »und am Ende durch den Generalsturm wird jede Jungfrau von Festung erobert.«[216]

»Ich weiß nicht,« – setzte der Hauptmann, ganz erbittert über den anlachenden Narren, hinzu – »ob Sie wissen, daß ich zum Genie-Corps gehöre.«

»O wer wüßte es nicht von uns,« erwiderte er schelmisch, »und eben das Genie trägt den Köcher voll Liebepfeile.«

Da wurde wie von einem Schlagfluß der Arzt aus seinem Anlächeln weggerafft durch des zürnendroten Hauptmanus Wort: »Herr, Sie sind ein Arzt, und darum verstehen Sie nichts von der Sache.«

Ohne weiteres wandte er sich zu Theoda und fragte mit sanfter Stimme: »Sie, Vortreffliche, scheinen mich zu kennen, aber doch weiß ich nicht wodurch.« – »Durch Ihre Werke«, sagte sie furchtsam.... »Sie hätten die einen gesehen und die andern gelesen....?« sagte er und wollte über den Unterschied zwischen seinen um die Festung gebauten Werken und seinen darin geschriebnen noch ein Wort fallen lassen, als sie ihre Augen gegen ihn aufhob und auftat wie ein Paar Ehrenpforten... Aber beide wurden unterbrochen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 6, München 1959–1963, S. 211-217.
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