32. Summula

[219] Erkennszene


Der Hauptmann las sehr lange im Briefe und in der Rezension, um Licht genug zu bekommen. Lange durchsah er Nießens Bildnis vor der allgemeinen deutschen Bibliothek, dessen Ähnlichkeit ihm nicht recht einleuchten wollte; weil diese überhaupt Köpfe vorne vor dem Titelblatte nicht viel kenntlicher darstellte als im Werke selber. Doch wird damit nichts gegen den gebliebenen Wert eines Werkes gesagt, das von jedem guten Kopfe Deutschlands ohne Ausnahme wenigstens eine volle Seite, noch dazu mit Namens-Unterschrift aufweist, nämlich die mit seinem Kopfe vorne vor dem Titelblatte. Der Hauptmann, der so plötzlich aus der Sonnenfinsternis in den hellen Mittag herabfiel, wandte sich gar nicht an Theoda, sondern zuerst an die Tischgesellschaft – erklärte laut, nicht er sei der große Dichter, sondern Herr von Nieß – er habe zwar etwas geschrieben, über die alte holländische Fortifikation – aber er ersuche also jeden, die Bewunderung, die er ihm zugedacht, zurückzunehmen und der Behörde zu schenken. – Darauf riß er ein Blättchen aus der Schreibtafel und schrieb an Herrn von Nieß: er nehme gern sein unschuldiges Mißverständnis zurück, stehe aber zu jeder andern Genugtuung bereit.

Als dies alles bekannt wurde – und dem Brunnenarzt zuerst –, so brachte dieser jeden Abgrund versilbernde Mondschein sogleich zwei laute Toasts aus: »Einen Toast auf den Mathematiker von Theudobach! – Einen Toast auf den Dichter Theudobach von Nieß!« rief er. – So tanzte der frohe Mann nicht nur nach jeder Flöte, sondern wie H-n nach jeder Flötenuhr, die eben ausschlägt, und auf die vorige schnelle Anrede des Hauptmanns an ihn, welche, aus der Tafelsprache in die Schlachtsprache übersetzt, doch nur sagen wollte: krepiere! – – versetzte er freudig: auf Ihr langes Leben! – –

Jetzt endlich kehrte sich Theudobach an die Jungfrau, welche auf ihre Kosten ihn mit dem Sonnenlehn eines großen Dichters belehnet hatte, und wand, indem er schmerzlich und vergeblich über Gutmachen nachsann, die bittende Frage herauf: wie alle[219] diese Mißverständnisse möglich gewesen? »Ich bitte Sie,« sagte sie mit müder Stimme, »meinen Vater zu fragen, der alles weiß.« Er schwieg. Trauerndes Nachdenken auf dem starken Männergesicht rührte die Jungfrau immer stärker; ihre Seele litt zu viel und konnte wieder nicht alle Zeichen verbergen, welche die fremde Teilnahme vermehrten. Hastig stand sie endlich auf – sagte ihrem Vater etwas ins Ohr – dieser nickte, und sie verschwand.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 6, München 1959–1963, S. 219-220.
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