38. Summula

[271] Wie Katzenberger seinen Gevatter und andere traktiert


Auch Theoda begab sich wieder an die öffentliche Tafel, nämlich zum letzten Male und an dem Arme des Zollers, der, ganz stolz auf die Ehre einer so vornehmen Nachbarschaft und auf den Schein, weniger der Gast des Vaters als der Wirt der Tochter zu sein, sie an ihren Sessel geleitete. Es ist zweifelhaft, ob ihr Entschluß der öffentlichen Erscheinung bloß von ihrer Gevatter-Freude herkam oder von ihrer Achtung gegen Mehlhorn, der ohne ihre Nachbarschaft nur eine sehr kalte an der väterlichen finden konnte; – oder vom Gedanken der Abreise und vom Aufwachen ihres alten Stolzes oder (wer könnt' es wissen) vom Wunsche, an der Tafel einen Fürsten zum ersten Male zu erblicken, oder gar den Hauptmann Theudobach zum letzten Male, oder von der Aussicht in die abends aufleuchtende Eden-Grotte; – oder aus unbekannten Ursachen; sehr zweifelhaft, sag' ich, ist es, aus welcher von so vielen Ursachen ihre Umänderung entsprang, und mein Beweis ist der, daß es wahr scheinlich ist, alle diese Gründe zusammen – samt allen unbekannten – haben mitgewirkt.

Theoda sollte diesmal immer froher werden; noch vor dem Essen sah sie ihren Vater über 100 Vaterunser lang vom Fürsten gehalten und gehört. Der Fürst hörte, wie andere Fürsten, Gelehrte aller Art fast noch lieber und noch länger, als er sie las; vollends einen, der wie Katzenberger nicht sein Landeskind, seine Landesplage oder sonst von ihm abhängig war; er befragte ihn besonders über die Heilkräfte des Brunnens. Der Doktor setzte sie sehr hoch hinauf und sagte, er habe ein kleines chemisches Traktätchen in der Tasche, worin er dargetan, der Maulbronner Brunnen vereinige als Schwefel-Wasser alle Kräfte des Aachner,[271] des Zaysenhauser im Württembergischen und des Wildbads zu Abach, wie schon das häßliche Stinken nach faulen Eiern verspreche. Hier wollt' er das Traktätchen aus der Tasche ziehen, brachte aber dafür einen langen Bärenkinnbacken mit Zähnen halb heraus, den er in der Bärenhöhle schon ohne Hülfe der Illumination aufgefunden und zu sich gesteckt. »Ei, wie böse!« sagt' er, »hab' ich die Untersuchung doch zu Hause gelassen. Aber ich habe immer die Taschen voll anatomischer Präparate!« – Der Fürst, leicht den verpönten Knochendiebstahl und willkürlichen Knochenfraß wahrnehmend, ging lächelnd darüber mit der Bitte hinweg, ihm den Traktat zu senden; und tat die Frage, ob es ihm im Bade gefalle. – »Ungemein,« versetzte er, »ob ich es gleich nicht selber gebrauche; aber für einen Arzt ist schon der Anblick so vieler Preßhaften mit ihrer unterhaltenden Mannigfaltigkeit von Beschwerden, die alle ihre eigne Diagnose verlangen und alle verschieden zu heben sind, eine Art Brunnenbelustigung, gleichsam eine volle Flora von Welkenden. Der ordentliche Brunnenarzt freut sich hier wie ein Lumpensammler, wenn recht viel zerrissen ist; es gibt dann unter dem Lumpenhacker viel verklärtes feines Postpapier in die andere Welt zu liefern, und der Badort ist ein schöner Vorhof zum Kirchhofe.« Den Fürsten wunderte und erfreute am Arzte sehr die Satire auf den eignen Stand, und er lächelte; allein er bedachte nicht, daß eigentlich jeder am meisten über seinen als den ihm bekanntesten, der Hofmann über den Hof, der Autor über das Schriftstellerwesen, ja der Fürst über Seinesgleichen Spott ausgießt, nur ihn aber andern nicht gern erlaubt. – »Raten Sie mir doch, Herr Professor,« fragte der Fürst, »welche Motion ist die beste?« – »Gehen, Durchlaucht, als die rechte Mitte zwischen Reiten und zwischen Fahren«, antwortete Katzenberger. »Aber ich gehe täglich, und es hilft mir wenig«, versetzte der dickleibige Regent. »Wahrscheinlich darum,« sagte der Doktor, »weil Höchstderoselben vielleicht nur mit den Füßen gehen; was zum Teil seine Nachteile hat –« (der Fürst sah ihn fragend an) »denn auch mit den Händen muß zu selber Zeit gegangen und sich bewegt werden, da wir Säugtiere in Rücksicht des Körpers ja Vierfüßer sind, wie Moscati sehr[272] gut, nur mit Übertreibungen, bewiesen.« – Er setzte nun die Sache mehr ins Licht und zeigte »das Venenblut steige ohnehin schwer die Füße herauf, häufe sich aber noch mehr in ihnen an, wenn man sie allein in Bewegung und Reizung setzt; und dann sei für den ganzen übrigen Venenblutumlauf nur schlecht gesorgt.40 Daher müssen durchaus die Oberfüße oder Arme als Mitarbeiter – wenigstens von hohen Personen, die mit ihnen nicht am Sägebocke oder hinter dem Garnweberstuhl oder auf der Drechselbank hantieren wollen – gleich stark mit den Unterfüßen auf- und abgeschleudert werden, zumal da schon nach Haller in seiner Physiologie das einfache Aufheben eines Armes den Puls um viele Schläge verstärke.« – Und hier machte der Doktor dem Fürsten den offizinellen Gang mit gehenden Perpendikelarmen so geschickt vor, daß er, wie ein trabendes Pferd, Ober- und Unterbeine in entgegengesetzter Richtung vorwärts und hinterwärts schlug; – und die ganze Badgesellschaft sah von fernen den unbegreiflichen und unehrerbietigen Schwenkungen des Doktors vor dem Fürsten zu. »In der Tat,« sagte der Fürst lächelnd, »dies muß man versuchen, wenn auch nicht in großer Gesellschaft.« – »Dann«, fuhr der Doktor fort, »kann man noch mehr tun. Da eigentlich das Säuern oder Entkohlen des Blutes das Ziel alles Lustwandelns ist: so halt' ich auf Spaziergängen meinen Mund außerordentlich weit aufgesperrt, um so die Luft stromweise in meine Lungen einzuschütten zum Oxydieren. Ja, ich darf Ihrer Durchlaucht vorschlagen, daß Sie in Zeiten, wo das Wetter nicht zum Gehen ist, dafür recht gut das Reden wählen können, weil dieses das Blut herrlich säuert durch das schnellere Einatmen der Lebensluft und das Ausatmen der Stickluft. Daher erkranken wir Professoren häufig in den Ferien durch Aussetzen der Vorlesungen, mit welchen wir uns zu säuern und zu entkohlen pflegen. Auch der treffliche, in unsern Zeiten zu wenig erwähnte Unzer, Ihro Durchlaucht, bemerkt im achtzigsten Stücke[273] seines Arztes ganz wahr, daß den Verrückten das unaufhörliche Sprechen und Singen die Motion ersetze.« – Da nahm endlich der Fürst von dem berühmten Gelehrten- der seinen Bückling mehr nur mit dem innern Menschen machen konnte, obwohl nur vor einem van Swieten, Sydenham, Haller, Swift – mit größerer Höflichkeit Abschied, als Katzenberger verhältnismäßig erwiderte, ja mit zu großer fast. Warum aber? vielleicht weil überhaupt Fürsten gern dem fremden Gelehrten am höflichsten begegnen – weil ihre Höflichkeit sie noch nichts kostet – weil sie ihn erst angeln wollen – weil ein von innen aus Freigemachter bei ihnen unter die Freiherrn und Freifrauen tritt, d.h. unter ihresgleichen – weil die Sache ohne Folgen (gute ausgenommen) ist – weil die Fürsten gern alles tun, aber nur einmal, auch das Beste – weil die ganze Sache kurz abgetan, und lang abgesprochen wird – weil sie einmal in Erstaunen ihrer Herablassung setzen wollen, welches bei Untertanen sie zu viel kosten würde – weil sie vom Manne später an der Tafel etwas sagen wollen und ihn also vorher etwas sagen lassen müssen – und weil sie eben dasselbe ohne alle Gründe täten, um so mehr da sie den besagten Mann schon halb vergessen, wenn er noch dasteht, und sich nach Jahren nicht gut mehr erinnern, wer der Mensch gewesen – und endlich, weil es doch beim Himmel auch Fürsten gibt, welche, wie Friedrich II., die schönste Ausnahme machen und einen Gelehrten noch höher würdigen als ein Gelehrter.

Indes auch einheimische Schriftsteller könnten die Sache benützen und sich vor solchen von ihren Fürsten, die auf ihnen wie Sultane auf verschnittenen niedergebückten Zwergen sich in den Sattel schwingen wollen, geradezu als Tanzbären aufrichten und auf die Hinterfüße treten. Um so unbegreiflicher bleibt es darum, daß bisher die Ärzte und die Rechtsgelehrten gegen die höhern Stände nicht zehnmal gröber ausfallen, als sie tun, und nicht so grob, als die Virtuosen der Zeichen-, der Ton-, der Schau- und der Tanzkunst längst getan; denn ohne jene, die ja erst Lang-Leben und Wohlleben verschaffen, sind alle Springer und Geiger unbrauchbar, indem alle Philosophen darüber einig sind, daß man, um wohl zu leben, zuvörderst leben müsse. Doch sprech'[274] ich jenen nicht alle Grobheit ab, sondern nur den größten Grad. Etwas anders sind Dichter, Weltweise und Moralisten, ja Prediger (in unsern Tagen); diese können nie höflich genug sein, weil sie nie unentbehrlich genug sind.

Endlich setzte sich der Doktor mit dem Glanze, den er als ein Lichtmagnet an sich gezogen vom Fürsten-Sterne, kalt zu seinem Mehlhorn und seiner Tochter. Der Umgelder hätte beinahe den Hunger verloren vor Anbetung des Fürsten und vor Bewunderung Katzenbergers, der so leicht mit jenem diskuriert hatte. Unter dem Essen lenkte der Doktor die Rede aufs Essen und merkte an, er wundre sich über nichts mehr, als daß man, bei der Seltenheit von Kadavern und vollends von lebendigen Zergliederungen, so wenig den für die Wissenschaft benutze, in dem man selber stecke, besonders im Sommer, wo tote faulen. »Wär' es Ihnen zuwider, Herr Mehlhorn, wenn ich jetzo z.B. den Genuß der Speisen zugleich mit einem Genusse von anatomischen Wahrheiten oder Seelenspeisen begleitete?« – »Mit tausend Wohlgefallen, teuerster Herr Doktor,« sagt' er, »sobald ich nur kapabel bin, Ihrer gelehrten Zunge zu folgen.« – »Sie brauchen bloß zu meinem Sprechen zu käuen; nämlich bloß von der Käufunktion will ich Ihnen einen kleinen wissenschaftlichen Abriß geben, den Sie auf der Stelle gegen Ihre eigne, als gegen lebendiges Urbild, halten sollen. – Nun gut! – Sie käuen jetzt; wissen Sie aber, daß die Hebelgattung, nach welcher die Käumuskeln Ihre beiden Kiefern bewegen (eigentlich nur den untern), durchaus die schlechteste ist, nämlich die sogenannte dritte, d.h. die Last oder der Bolus ist in der größten Entfernung vom Ruhepunkte des Hebels; daher können Sie mit Ihren Hundzähnen keine Nuß aufbeißen, obwohl mit den Weisheitzähnen. Aber weiter! Indem Sie nun den Farsch da auf Ihrem Teller erblicken: so bekommt (bemerken Sie sich jetzt) die Parotis (hier ungefähr liegend) so wie auch die Speicheldrüse des Unterkiefers Erektionen, und endlich gießt sie durch den stenonischen Gang dem Farsche den nötigen Speichel zu, dessen Schaum Sie, wie jeder andere, bloß den ausdehnenden Luftarten verdanken. Ich bitte Sie, lieber Zoller, fortzukäuen, denn nun fließet noch aus dem ductus nasalis und aus[275] den Tränendrüsen alles nach, woraus Sie Hoffnung schöpfen, so viel zu verdauen, als Sie hier verzehren. Nach diesem Seedienst kommt der Landdienst.«

Hier lachte der Zoller über die Maßen, teils um höflich zu erscheinen, teils das Mißbehagen zu verhehlen, womit er unter diesem Privatissimum von Lehr-Kursus alles verschlang; – gleichwohl mußt' er fortfahren, zu genießen. –

»Ich meine unter dem Landdienst dies: jetzt greift Ihr Trompetermuskel ein und treibt den Farsch unter die Zähne – Ihre Zunge und Ihre Backen stehen ihm bei und wenden und schaufeln hin und her – ausbeugen kann der Farsch unmöglich – auswandern ebensowenig, weil Sie ihn mit zwei häutigen Klappen (Wangen im gemeinen Leben) und noch mit dem Ringmuskel oder Sphinkter des Mundes (dies ist nur Ihr erster Sphinkter, nicht Ihr letzter, damit korrespondierender, was sich hier nicht weiter zeigen läßt) auf das schärfste inhaftieren und einklammern – kurz der Farsch wird trefflich zu einem sogenannten Bissen, wie ich sehe, zugehobelt und eingefeuchtet. – Nun haben Sie nichts weiter zu tun (und ich bitte Sie um diese Gefälligkeit), als den fertigen Bolus in die Rachenhöhle, in den Schlundkopf abzuführen. Hier aber hört die Allmacht Ihres Geistes, mein Umgelder, gleichsam an einem Grenzkordon auf, und es kommt nun nicht mehr auf jenes ebenso unerklärliche als erhabne Vermögen der Freiheit (unser Unterschied von den Tieren) an, ob Sie den Farsch-Bissen hinunterschlucken wollen oder nicht (den Sie noch vor wenigen Sekunden auf den Teller speien konnten), sondern Sie müssen, an die Sperrkette oder Trense Ihres Schlundes geheftet, ihn nun hinabschlingen. Jetzt kommt es auf meine gütige Zuhörerschaft an, ob wir den Bissen des Herrn Zollers begleiten wollen auf seinen ersten Wegen, bis wir weiterkommen.« –

Mehlhorn, dem der Farsch so schmeckte wie Teufelsdreck, versetzte »wie gern er seines Parts dergleichen vernehme, brauch' er wohl nicht zu beschwören; aber auf ihn allein komm' es freilich nicht an.« – »Ich darf denn fortfahren?« sagte der Doktor. »Vortrefflicher Herr,« versetzte eine ältliche Dame, »Ihr Diskurs ist gewiß über alles gelehrt, aber unter dem Essen macht er wie[276] desperat.« – »Und dies ist«, erwiderte er, »auch leicht zu erklären; denn ich gestehe, daß ich selber unter allen Empfindungen keine kenne, die stärker, aber auch grundloser ist und die weniger Vernunft annimmt, als der Ekel tut. Nur zwei Beispiele statt tausend! Ich hielt mir im vorigen Herbste ein Paar lebendige Schnepfen, die ich mit unsäglicher Mühe zahm gemacht, teils um sie zu beobachten, teils um sie auszustopfen und zu skelettieren. Da ich nun meinen Gästen gern Ausgesuchtes vorsetze: so bot ich einigen Leckermäulern darunter Schnepfendreck, wie gewöhnlich mit Butter auf Semmelscheiben geröstet, an, und zwar so wie ihn täglich meine beiden Schnepfen unmittelbar lieferten. Aber ich darf Sie als ehrlicher Mann versichern, meine Gnädige, auch kein einziger bezeigte statt einiger Lust etwas anderes als ordentlichen Abscheu vor dem vorgesetzten Dreck; und weshalb eigentlich? Bloß deshalb – nun komm' ich auf unsern Punkt –, weil das Schnepfengedärm nicht mit auf die Semmelscheiben gestrichen war und die Gourmands nur bloßen Netto- und keinen Bruttodreck vor sich erblickten. Ich bitte aber hier jeden vernünftigen Mann zu urteilen, ob ich meine Sumpfvögel – da sie ganz die Kost erhielten (Regenwürmer, Schnecken und Kräuter), aus der Schnepfen von jeher den Liebhabern wieder eine Kost auf den ersten Wegen zugeführt – ob ich, sag' ich, solche etwan abschlachten sollte (wie jener seine Henne, die ihm täglich goldne Eier legte), um gleichsam die Legdärme aufzutischen. – Es kommt mir vor, als ob solche Liebhaber die nußbraunen Locken der schönen Damen am Tische nicht anders nach ihrem Geschmacke finden könnten, als noch in Papilloten eingemacht. – Man denke doch an den Dalai Lama, der seine Verehrer, die größten Fürsten und Glaubige, auch täglich mit seinen eignen Schnepfen-Reliquien beschenkt; aber keinem darunter ist es noch eingefallen, diesen asiatischen Papst wie eine Schnepfe zu schießen oder zu würgen, um ihn in Bausch und Bogen zu haben, sondern man ist zufrieden mit dem, was er geben kann.

Dies ist das eine Beispiel vom Unsinne des Ekels. Aber das stärkere kommt. Wein, Bier, Likör, Brühe, kurz nichts ist uns so rein, so einheimisch und so zugeartet und bleibt so gern tagelang[277] (was nichts Fremdes kann) in unserm Munde als etwas, wovon der Besitzer, wenn es heraus wäre, keine halbe Teetasse trinken könnte – Speichel. Ist aber dies kein wahrer Unsinn, so wär's auch keiner, sondern vernünftig, wenn ich meinen trefflichen Herrn Kollegen Strykius verabscheute aus Ekel, bloß weil er, obwohl mir in Wissenschaft und Streben so verwandt und durch Freundschaft gewissermaßen ein Teil meines Innern, außer mir stände neben meinem Stuhle.«

Daneben war wirklich der Brunnenarzt Strykius im Mute des Wein-Nachtisches getreten. Über des Doktors Mut und Glück bei dem Fürsten und besonders über das Armwerfen des einen und über das Anlächeln des andern konnt' er kaum zu sich kommen; denn er selber lag, kaum von einem Fürstenfinger berührt, wie manche Raupen gebogen und steif da oder fiel wie eine Hangspinne am Faden nieder auf den Boden; und er würde als Geburthelfer eines Kronprinzen unter den fürstlichen Wehen höchstens gesagt haben: wollen Ihre Durchlaucht nicht die hohe Gnade haben, einzutreten in die Geburt und das Licht der Welt erblicken? Auch wollte er seinem Landesherrn von weitem seine innigen Verständnisse mit einem so gelehrten Manne vorzeigen. Aber Katzenberger ließ ihn seinen Schein und sein Annähern ziemlich bezahlen; denn er kam auf einem schwachen, nicht sehr maskierten Umweg auf seinen Rezensenten zurück. – (Der Umweg war bloß die Einschränkung des vorigen Satzes über den Abscheu, nämlich die Bemerkung, daß ihn allerdings sein Kunstrichter, obwohl Handwerk, genoß, anekle.) – Er sprach davon, was wir leider so oft in diesem Werkchen gelesen, von der Sünde, eine Stimme für mehre, für drei Instanzen zu verkaufen, einen geschwornen Meineidigen für eine Jury, einen Judas für elf Apostel. Er brachte dann wieder – was wir alle leider so oft von ihm gehört, so daß ich die Leser fast noch mehr bedaure als mich die alten kalten Einkleidungen seines künftigen Ausprügelns zu Markte und äußerte (denn ich führe nicht alles an), ihn quäle sehr die Wahl, wie ers zu halten habe, da er von der einen Seite recht gut dem Kunstrichter bloß die Haare ausziehen könne, weil nach Aretäus schon bloßes Abscheren Wahnsinn heile (wie an den[278] Titusköpfen der Revolution noch zu sehen), aber da er auch von der andern Seite noch stärker zu Werke gehen und den Kerl, wie Bierflaschen, durch Schrot reinigen könne, welcher Schrot, freilich anders als bei der Flasche, bloß durch einen Schuß in ihn zu bringen wäre, wiewohl man bei Blei des Feindes Gesundheit stets riskiere, weil dasselbe stets vergifte, es fließe nun langsam und süß in Wein aufgelöst in den Magen, oder es fahre im ganzen roh durch Magen und Leib.

»Bon!« versetzte Strykius und verstand Spaß. – »Wer Leben wiedergibt, kann es auch zurücknehmen, und Sie können ermorden, weil Sie oft genug geheilet haben. Doch Scherz beiseite! Ich habe, guter Katzenberger, Ihre köstlichen Werke erst nach den Rezensionen gelesen- –«

– »Ganz natürlich!« unterbrach der Doktor.. »Und ich habe etwas darin gefunden, was ich noch von niemand gehört, daß Sie nämlich einem berühmten Engländer aufs Haar gleichen«, fuhr Strykius fort.

»Wem aufs Haar?« fragt' er.

»Dem wackern Doktor und Romancier Smollet in London. Weniger in Wissenschaft – denn hier weiß ich nicht genau, ob Smollet besondere Vorzüge besessen – als im Humor; wie, Herr Doktor?«

»Prügelszenen«, versetzte er, »hat er allerdings einladend dargestellt, und insofern dürft' ich etwas von ihm haben, wiewohl nicht in theoretischer Darstellung, sondern etwan in praktischer; denn ich frage Sie als Unbefangenen ernstlich, ob es eine größere Halunkerei gibt, als mit sieben Stimmen aus drei Zerberus-Kehl-Köpfen – –«

»Wir kennen dies, Freund. Vielleicht haben wir beide etwas getrunken! wenigstens ich«, sagte Stryk; »Sie bleiben Smolletus secundus. Aber zum Zeichen, wie mich auch das Kleinste an Ihnen interessiert, sag' ich Ihnen ganz leise ins Ohr: Ihre linke Beinkleiderschnalle ist eine stählerne, und die rechte ist bronzen. Sie verzeihen doch, mein Trefflicher, einem Kollegen, der sich gleichfalls nicht von gelehrten Zerstreuungen für frei erklärt, diese freimütige Bemerkung, die ich wahrhaftig bloß wegen einiger[279] Augen und Blicke der erbärmlichsten Gemeinheit gemacht.« – »Schon vor Jahren,« versetzte der Doktor, »seitdem ich von jedem Paare eine Schnalle verloren, hab' ich meine Knie ganz absichtlich so eingeschnallt, weil ich mir immer sagte: da jeder nur eine Schnalle auf einmal bemerken kann und dann eine gleiche voraussetzt: was müßte dies für ein Narr sein, der auf beide Schnallen Jagd machte und so ihren Unterschied sich recht einkeilte? Hatt' ich aber wohl unrecht, mein Freund?« – Katzenberger war mit einem unüberwindlichen Haß gegen das Aufwallen knechtischer Herzlichkeit, gegen jenes ekle Überfließen der Liebedienerei da geplagt, wo er gerade Gallergießungen vorgereizt und erwartet hatte; und hier war er leichter von fremder Süßlichkeit zu erbittern als von Bitterkeiten selber.

Da er nun das Seinige getan, nämlich gesagt, so richtete er die Frage: »Kommt der Leibmedikus Semmelmann doch dem Fürsten nach?« mit einer seltsamen Miene an Strykius, welche fast tun sollte, als wolle sie Erbitterung und Hinterlist verbergen. Strykius starrte plötzlich in eine ganz neue, aber hübsche Perspektive hinein – glaubte zu wittern, daß der Doktor den Leibmedikus Semmelmann für den prügelbaren Rezensenten halte und versetzte: »Künftige Woche!«

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 6, München 1959–1963, S. 271-280.
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