§ 11
Vielkräftigkeit desselben

[55] Der Glaube von instinkmäßiger Einkräftigkeit des Genies konnte nur durch die Verwechslung des philosophischen und poetischen mit dem Kunsttriebe der Virtuosen kommen und bleiben. Den Malern, Tonkünstlern, ja dem Mechaniker muß allerdings ein Organ angeboren sein, das ihnen die Wirklichkeit zugleich zum[55] Gegenstande und zum Werkzeuge der Darstellung zuführt; die Oberherrschaft eines Organs und einer Kraft, z.B. in Mozart, wirkt alsdann mit der Blindheit und Sicherheit des Instinktes.

Wer das Genie, das Beste, was die Erde hat, den Wecker der schlafenden Jahrhunderte, in »merkliche Stärke der untern Seelenkräfte« setzt, wie Adelung, und wer, wie dieser in seinem Buche über den Stil, sich ein Genie auch ohne Verstand denken kann: der denkt sich es eben – ohne Verstand. Unsere Zeit schenkt mir jeden Krieg mit dieser Sünde gegen den heiligen Geist. Wie verteilen nicht Shakespeare, Schiller u.a. alle einzelne Kräfte an einzelne Charaktere, und wie müssen sie nicht oft auf einer Seite witzig, scharfsinnig, verständig, vernunftend, feurig, gelehrt und alles sein, noch dazu bloß, damit der Glanz dieser Kräfte nur wie Juwelen spiele, nicht wie Licht-Endchen der Notdurft erhelle! – Nur das einseitige Talent gibt wie eine Klaviersaite unter dem Hammerschlage einen Ton; aber das Genie gleicht einer Windharfen-Saite; eine und dieselbe spielet sich selber zu mannigfachem Tönen vor dem mannigfachen Anwehen. Im Genius25 stehen alle Kräfte auf einmal in Blüte; und die Phantasie ist darin nicht die Blume, sondern die Blumengöttin, welche die zusammenstäubenden Blumenkelche für neue Mischungen ordnet, gleichsam die Kraft voll Kräfte. Das Dasein dieser Harmonie und dieser Harmonistin begehren und verbürgen zwei große Erscheinungen des Genius.

25

Dies gilt vom philosophischen ebenfalls, den ich (gegen Kant) vom poetischen nicht spezifisch unterscheiden kann, man sehe die noch nicht widerlegten Gründe davon im Kampaner Tal S. 51 etc. Die erfindenden Philosophen waren alle dichterisch, d.h. die echt-systematischen. Etwas anderes sind die sichtenden, welche aber nie ein organisches System erschaffen, sondern höchstens bekleiden, ernähren, amputieren u.s.w. Der Unterschied der Anwendung verwandter Genialität aber bedarf einer eignen schweren Erforschung.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 55-56.
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