§ 13
Der Instinkt des Menschen

[60] Das Mächtigste im Dichter, welches seinen Werken die gute und die böse Seele einbläset, ist gerade das Unbewußte. Daher wird ein großer wie Shakespeare Schätze öffnen und geben, welche er so wenig wie sein Körperherz selber sehen konnte, da die göttliche Weisheit immer ihr All in der schlafenden Pflanze und im Tierinstinkt ausprägt und in der beweglichen Seele ausspricht. Überhaupt sieht die Besonnenheit nicht das Sehen, sondern nur das abgespiegelte oder zergliederte Auge; und das Spiegeln spiegelt sich nicht. Wären wir uns unserer ganz bewußt, so wären wir unsre Schöpfer und schrankenlos. Ein unauslöschliches Gefühl stellet in uns etwas Dunkles, was nicht unser Geschöpf, sondern unser Schöpfer ist, über alle unsre Geschöpfe. So treten wir, wie es Gott auf Sinai befahl, vor ihn mit einer Decke über den Augen.

Wenn man die Kühnheit hat, über das Unbewußte und Unergründliche zu sprechen: so kann man nur dessen Dasein, nicht dessen Tiefe bestimmen wollen. Zum Glück kann ich im folgenden mit Platons und Jacobis Musenpferden pflügen, obwohl für eignen Samen.

Der Instinkt oder Trieb ist der Sinn der Zukunft; er ist blind, aber nur, wie das Ohr blind ist gegen Licht und das Auge taub gegen Schall. Er bedeutet und enthält seinen Gegenstand ebenso wie die Wirkung der Ursache; und wär' uns das Geheimnis aufgetan, wie die mit der gegebenen Ursache notwendig ganz und zugleich gegebene Wirkung doch in der Zeit erst der Ursache nachfolget: so verständen wir auch, wie der Instinkt zugleich seinen Gegenstand fodert, bestimmt, kennt und doch entbehrt. Jedes Gefühl der Entbehrung setzt die Verwandtschaft mit dem Entbehrten, also schon dessen teilweisen Besitz voraus27; aber doch nur wahre Entbehrung macht den Trieb, eine Ferne die Richtung möglich. Es gibt, wie körperlich-organische, so geistig[60] organische Zirkel; wie z.B. Freiheit und Notwendigkeit oder Wollen und Denken sich wechselseitig voraussetzen.

Nun gibt es im reinen Ich so gut einen Sinn der Zukunft oder Instinkt wie im unreinen Ich und am Tiere, und sein Gegenstand ist zugleich so entlegen als gewiß; es müßte denn gerade im Menschen-Herzen die allgemeine Wahrhaftigkeit der Natur die erste Lüge sagen. Dieser Instinkt des Geistes – welcher seine Gegenstände ewig ahnet und fodert ohne Rücksicht auf Zeit, weil sie über jede hinauswohnen – macht es möglich, daß der Mensch nur die Worte Irdisch, Weltlich, Zeitlich u.s.w. aussprechen und verstehen kann; denn nur jener Instinkt gibt ihnen durch die Gegensätze davon den Sinn. Wenn sogar der gewöhnlichste Mensch das Leben und alles Irdische nur für ein Stück, für einen Teil ansieht: so kann nur eine Anschauung und Voraussetzung eines Ganzen in ihm diese Zerstückung setzen und messen. Sogar dem gemeinsten Realisten, dessen Ideen und Tage sich auf Raupenfüßen und Raupenringen fortwälzen, macht ein unnennbares Etwas das breite Leben zu enge; er muß dieses Leben entweder für ein verworren-tierisches, oder für ein peinlich-lügendes, oder für ein leeres zeit-vertreibendes Spiel ausrufen, oder, wie die ältern Theologen, für ein gemein-lustiges Vorspiel zu einem Himmel-Ernst, für die kindische Schule eines künftigen Throns, folglich für das Widerspiel der Zukunft. So wohnt schon in irdischen, ja erdigen Herzen etwas ihnen Fremdes, wie auf dem Harze die Korallen-Insel, welche vielleicht die frühsten Schöpfung-Wasser absetzten.

Es ist einerlei, wie man diesen überirdischen Engel des innern Lebens, diesen Todesengel des Weltlichen im Menschen nennt oder seine Zeichen aufzählt: genug, wenn man ihn nur nicht in seinen Verkleidungen verkennt. Bald zeigt er sich den in Schuld und Leib tief eingehüllten Menschen als ein Wesen, vor dessen Gegenwert, nicht vor dessen Wirkung wir uns entsetzen28; wir nennen das Gefühl Geisterfurcht, und das Volk sagt bloß: »Die Gestalt, das Ding lässet sich hören«, ja oft, um das Unendliche auszudrücken, bloß: es. Bald zeigt sich der Geist als den Unendlichen,[61] und der Mensch betet. Wär' er nicht, wir wären mit den Gärten der Erde zufrieden; aber er zeigt uns in tiefen Himmeln die rechten Paradiese. – Er zieht die Abendröte vom romantischen Reiche weg, und wir blicken in die schimmernden Mond-Länder voll Nachtblumen, Nachtigallen, Funken, Feen und Spiele hinein.

Es gab zuerst Religion – Todesfurcht- griechisches Schicksal – Aberglauben – und Prophezeiung29 – und den Durst der Liebe den Glauben an einen Teufel – die Romantik, diese verkörperte Geisterwelt, so wie die griechische Mythologie, diese vergötterte Körperwelt.

Was wird nun der göttliche Instinkt in gemeiner Seele vollends werden und tun in der genialen?

27

Denn reine Negation oder Leerheit schlösse jedes entgegengesetzte Bestreben aus, und die negative Größe wirkte wie eine positive.

28

Unsichtbare Loge, I. 278.

29

Prophezeiung, oder deren Ganzes, Allwissenheit, ist nach unserm Gefühl etwas Höheres als bloßes vollständiges Erkennen der Ursache, mit welchem ja der Schluß oder vielmehr die Ansicht der Wirkung sofort gegeben wäre; denn alsdann wäre sie nicht ein Antizipieren oder Vernichten der Zeit, sondern ein bloßes Anschauen, d.h. Erleben derselben.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 60-62.
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