§ 17
Das Plastische oder Objektive der Poesie

[71] Vier Hauptfarben der griechischen Dichter werden von dem Rückblick auf ihr Volk gefunden und erklärt.

Die erste ist ihre Plastik oder Objektivität. Es ist bekannt, wie in den griechischen Gedichten alle Gestalten wie gehende Dädalus-Statuen voll Körper und Bewegung auf der Erde erscheinen, indes neuere Formen mehr im Himmel wie Wolken fließen, deren große, aber wogende Umrisse sich in jeder zweiten Phantasie willkürlich gestalten. Jene plastischen Formen der Dichter (vielleicht ebensooft Töchter als Mütter der wirklichen Statuen und Gemälde, denen der Dichter überall begegnete) kommen mit der Allmacht der Künstler im Nackten aus einer Quelle. Nämlich nicht die bloße Gelegenheit, das Nackte zu studieren, stellte den griechischen Künstler über den neuern – denn warum erreicht dieser jenen denn nicht in den immer nackten Gesichtern und Händen, zu welchen er, glücklicher als jener, noch dazu die idealen Formen hat, die der Grieche ihm und sich gebären mußte? –,[71] sondern jene sinnliche Empfänglichkeit tat es, womit das Kind, der Wilde, der Landmann jeden Körper in ein viel lebendigeres Auge aufnimmt als der zerfaserte Kultur-Mensch, der hinter dem sinnlichen Auge steht mit einem geistigen Sehrohre.

Ebenso faßte der dichtende Grieche, noch ein Jüngling der Welt, Gegenwart und Vorzeit, Natur und Götter in ein frisches und noch dazu feuriges Auge; – die Götter, die er glaubte, seine heroische Ahnen-Zeit, die ihn stolz machte, alle Wechsel der Menschheit ergriffen wie Eltern und Geliebte sein junges Herz – und er verlor sein Ich in seinen Gegenstand.

Aus dem kräftigen Eindruck wird Liebe und Anteil; die rechte Liebe aber ist stets objektiv und verwechselt und vermischt sich mit ihrem Gegenstande. In allen Volksliedern und überall auf Morgenstufen, wo der Mensch noch rechten Anteil nimmt – z.B. in den Erzählungen der Kinder und Wilden und der Volkssänger und noch mehr der anbetenden vier Evangelisten –, will der Maler nur seinen Gegenstand darreichen, nicht sich und seine Gestelle und Malerstöcke. Rührend ist oft dieses griechische Selbst-Vergessen, selber da, wo der Verfasser sich seiner, aber nur als Objekt des Objektes erinnert; so hätte z.B. kein neuer Künstler sich so einfach und bedeutungslos hingestellt als Phidias sich auf das Schild seiner Minerva, nämlich als einen alten Mann, der einen Stein wirft. Daher ist aus den neuern Dichtern viel vom Charakter der Verfasser zu erraten; aber man errate z.B. den individuellen Sophokles aus seinen Werken, wenn man kann!

Dies ist die schöne Objektivität der Unbesonnenheit oder der Liebe. Dann bringt die Zeit die wilde Subjektivität derselben, oder des Rausches und Genusses, der seinen Gegenstand verschlingt und nur sich zeigt. Dann kommt die nicht viel bessere Objektivität einer herzlosen Besonnenheit, welche heimlich nur an sich denkt und stets einen Maler malt; welche das Objektiv-Glas am Auge hält, das Okuler-Glas aber gegen das Objekt und dadurch dieses ins Unendliche zurückstellet. Allerdings ist noch eine Besonnenheit übrig, die höhere und höchste, welche wieder durch einen heiligen Geist der Liebe, aber einer göttlichen allumfassenden getrieben, objektiv wird.[72]

Die Griechen glaubten, was sie sangen, Götter und Heroen. So willkürlich sie auch beide episch und dramatisch verflochten: so unwillkürlich blieb doch der Glaube an ihre Wahrheit; wie ja die neuern Dichter einen Cäsar, Kato, Wallenstein u.s.w. für die Dichtkunst aus der Wirklichkeit, nicht für die Wirklichkeit aus der Dichtkunst beweisen. Der Glaube aber gibt Anteil, dieser gibt Kraft und Opfer des Ich. Aus der matten Wirkung der Mythologie auf die neuere Dichtkunst, und so aller Götter-Lehren, der indischen, nordischen, der christlichen, der Maria und aller Heiligen, ersieht man die Wirkung des Unglaubens daran. Freilich will und muß man jetzo durch eine zusammenfassende philosophische Beschreibung des wahrhaft Göttlichen, welches den Mythen aller Religionen in jeder Brust zum Grunde liegt, d.h. durch einen philosophischen unbestimmten Enthusiasmus den persönlichen bestimmten dichterischen zu ersetzen suchen; indes bleibt doch die neuere Poeten-Zeit, welche den Glauben aller Völker, Götter, Heiligen, Heroen aufhäuft, aus Mangel an einem einzigen Gott, dem breiten Saturn sehr ähnlich, der sieben Trabanten und zwei Ringe zum Leuchten besitzt und dennoch ein mattes kaltes Blei-Licht wirft, bloß weil der Planet von der warmen Sonne etwas zu weit abstehet; ich möchte lieber der kleine, heiße, helle Merkur sein, der keine Monde, aber auch keine Flecken hat, und der sich immer in die nahe Sonne verliert.

Wenig kann daher das stärkste Geschrei nach Objektivität aus den verschiedenen Musen- und andern Sitzen verfangen und in die Höhe helfen, da zu Objektivität durchaus Objekte gehören, diese aber neuerer Zeiten teils fehlen, teils sinken, teils (durch einen scharfen Idealismus) gar wegschmelzen im Ich. Himmel, wie viel anders greift der herzige, trauende Naturglaube nach seinen Gegenständen, gleichsam nach Geschwistern des Lebens, als der laue Nichtglaube, der mühsam sich erst einen zeitigen kurzen Köhlerglauben verordnet, um damit das Nicht-Ich (durchsichtiger und unpoetischer kann kein Name sein) zu einem halben Objekte anzuschwärzen und es in die Dichtung einzuschwärzen! Daher tut der Idealismus in dieser Rücksicht der romantischen Poesie so viele Dienste, als er der plastischen versagt und als die Romane[73] ihm früher erwiesen, wenn es wahr ist, daß Berkeley durch diese auf seinen Idealismus gekommen, wie dessen Biograph behauptet.

Der Grieche sah selber und erlebte selber das Leben; er sah die Kriege, die Länder, die Jahrszeiten, und las sie nicht; daher sein scharfer Umriß der Wirklichkeit; so daß man aus der Odyssee eine Topographie und Küsten-Karten ziehen kann. Die Neuern hingegen bekommen aus dem Buchladen die Dichtkunst samt den wenigen darin enthaltenen und vergrößerten Objekten, und sie bedienen sich dieser zum Genusse jener; ebenso werden mit zusammengesetzten Mikroskopen sogleich einige Objekte, ein Floh, ein Mückenfuß und dergl., dazu verkauft, damit man die Vergrößerungen der Gläser dagegen prüfe. Der neue Dichter trägt sich daher auf seinen Spaziergängen die Natur für den Objektenträger seiner objektiven Poesie zusammen.

Der griechische Jugend-Blick richtete sich als solcher am meisten auf die Körperwelt; in dieser sind aber die Umrisse schärfer als in der Geisterwelt; und dies gibt den Griechen eine neue Leichtigkeit der Plastik. Aber noch mehr! Mit der Mythologie war ihnen eine vergötterte Natur, eine poetische Gottes-Stadt sogleich gegeben, welche sie bloß zu bewohnen und zu bevölkern, nicht aber erst zu erbauen brauchten. Sie konnten da verkörpern, wo wir nur abbildern oder gar abstrahieren; da vergöttern, wo wir kaum beseelen; und konnten mit Göttern die Berge und die Haine und die Ströme füllen und heiligen, denen wir mühsam personifizierende Seelen einblasen. Sie gewannen den großen Vorzug, daß alle ihre Körper lebendig und veredelt, und alle ihre Geister verkörpert waren. Der Mythus hob jede Lyra dem schreitenden Epos und Drama näher.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 71-74.
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