§ 60
Technische Darstellung der Charaktere

[223] Ein Charakter sei mit Form und Materie rein-ausgeschaffen, so stirbt er doch oft unter der technischen Geburt. Häufig dreht und setzt sich, zumal in langen Werken, der Held unter den Händen und Augen des verdrüßlichen Dichters in einen ganz andern Menschen um; besonders drei Helden tuns: der starke spitzet sich auf der Drehscheibe des Töpfers gern zu einem langen dünnen zu; der humoristische nimmt eine gerührte klagende Gestalt an, der Bösewicht vieles Gute; selten ists umgekehrt. So schmilzt der Held in der Delphine von Band zu Band wie eine abgeschossene Bleikugel durch langes Fliegen; so ist der Held St. Preux in der Neuen Heloise nur eine Herabidealisierung des Helden in J. J. Confessions; so legt Wallenstein mitten unter seinen Predigten des Mutes ein Waffenstück nach dem andern von seiner eisernen Rüstung ab, bis er nackt genug für die letzte Wunde dasteht. Achilles richtet sich daher als der Gott der Charaktere auf. In anfangs ungünstigen Verhältnissen für das Handeln, zürnend, murrend, klagend, dann in weichen Trauer-Verhältnissen wächset er doch wie ein Strom von Gesang zu Gesang, braust unter der Erde, bis er breit und glänzend hervorrauscht! – Aber in welches Jahrtausend wird endlich sein Stromsturz (Katarakte) fallen, nämlich wann wird der Homer seines Todes aufstehen? –[223]

Im Homer ist eine solche Stufenfolge von Helden, daß Paris, aus dieser verdunkelnden Nachbarschaft gehoben, an jedem andern Orte als ein kühner Alcibiades auftreten könnte, so wie Cicero, wenn man ihn vom Kapitole aus der Umgebung von Kato, Brutus, Cäsar wegbringen könnte, sich in jedem Rittersaal als ein republikanischer Heros in die Höhe richten würde. In den neuern Werken glücken immer einige Nebenpersonen mehr als der Held in Stärke oder Schärfe des Charakters; so der Sophist im Agathon; so viele Nebenmänner im Wilhelm Meister und in der Delphine; so im Wallenstein; so in wenigen Werken des uns allen sehr wohlbekannten Verfassers. Bei dem Romane erklärt sich einiges aus dem leidenden Charakter des Helden; Leiden schattet niemals so scharf ab als Tun, daher Weiber schwerer zu zeichnen sind.

Die technische Darstellung eines Charakters beruht auf zwei Punkten, auf seiner Zusammensetzung und auf der Geschicht-Fabel, welche entweder sich an ihm, oder an welcher er sich entwickelt.

Jeder Charakter, er sei so chamäleontisch und buntfarbig zusammengemalt, als man will, muß eine Grundfarbe als die Einheit zeigen, welche alles beseelend verknüpft; ein leibnizisches vinculum substantiale, das die Monaden mit Gewalt zusammenhält. Um diesen hüpfenden Punkt legen sich die übrigen geistigen Kräfte als Glieder und Nahrung an. Konnte der Dichter dieses geistige Lebenszentrum nicht lebendig machen sogleich auf der Schwelle des Eintritts: so helfen der toten Masse alle Taten und Begebenheiten nicht in die Höhe; sie wird nie die Quelle einer Tat, sondern jede Tat schafft sie selber von neuem. Ohne den Hauptton (tonica dominante) erhebt sich dann eine Ausweichung nach der andern zum Hauptton. Ist hingegen einmal ein Charakter lebendig da, gleichsam ein primum mobile, das gegen anstrebende Bewegungen von außen sich in der seinigen festhält: so wird er sogar in ungleichartigen Handlungen (z.B. Achilles in der Trauer über Patroklus, Shakespeares wilder Percy in der Milde) die Kraft seiner Spiralfeder gerade im Gegendruck am stärksten offenbaren. Dem wielandischen Diogenes von Sinope[224] und (obwohl weniger) dem ähnlichen Demokrit in den Abderiten mangelt gerade der beseelende Punkt, welcher die Keckheit des Zynismus mit der untergeordneten Herzens-Liebe organisch gewaltsam verbände: dieser regierende Lebenspunkt fehlt auch den Kindern der Natur im goldenen Spiegel, ferner dem Franz Moor und dem Marquis Posa, aber nicht der Fürstin von Eboli. Nur durch die Allmacht des poetischen Lebens können streitende Elemente – z.B. in Woldemar Kraft und Schwäche – verschmolzen werden; so im ähnlichen Tasso von Goethe u.s.w. –

Oft hält die körperliche Gestalt die innere unter dem Elementenstreite kräftig vor und fest; so ruht z.B. in Wielands Geron der Adelige der köstliche Charakter so hoch und so fest auf dessen Leibesgröße wie auf einem Fußgestelle und Thron. Daher hilft im Homer die Wiederkehr seiner leiblichen Beiwörter die Festigkeit seiner Erscheinungen verstärken. Sogar der Widerspruch der Gestalt mit dem Charakter gibt diesem Lichter, z.B. dem Helden Alexander die kleine Statur; der jungfräulich und froh scherzenden Valerie die bleiche Farbe; dem Teufel in Klingers Doktor Faust das schöne Jünglings-Antlitz mit einer steilrechten Stirn-Runzel, nach der geborgten Ähnlichkeit eines gemalten Teufels von Füeßli. – Auch der Abstich des Standes mit dem Charakter kann diesen durch Lichter steigern: ein blöder Charakter, aber auf einem Throne – ein milder, aber auf einem Kriegs- und Siegs-Wagen – ein kecker, aber auf einem Krankenbette, alle heben sich durch die Gegenfarben der äußeren Verhältnisse lebensfarbiger dem Auge zu. – Sogar der Zwiespalt des inneren Verhältnisses, nämlich der Zwiespalt zwischen den herrschenden und den dienenden Gliedern des Charakters gibt durch diese jenen mehr Licht, z.B. bei Cäsar die Milde dem Heldencharakter, oder bei Henri IV. der Leichtsinn; bei Onkel Toby der Menschenliebe das Ehrgefühl. – Freilich glücken Mischungen kämpfender Farben nur dem Maler, nicht dem Farbenreiber. Zwar geradezu widerstreitende Farben und Züge mag der Reiber einem Charakter wohl anstreichen – als unmischbar sind sie für Anschauung und Erinnerung gar nicht am Charakter hangengeblieben –; aber jene leis'-wandelbaren, hin- und herschillernden,[225] halb auslöschenden, halb auftragenden Farben unserer meisten romantischen Schreiber und Reiber geben statt der ganzen umrißnen Gestalt nur einen bunten Klecks.

Ist dieses Herz und Gemüt eines Charakters geschaffen, ist gleichsam dieser Polarstern an den Himmel gesetzt: dann gewinnt die Wahrheit und das Feuer des Wesens gerade durch dessen Wechsel von Polhöhe und Poltiefe. Ich meine dies: jede lebendige Willens-Kraft wird, wenn sie eine edle ist, bald eine göttliche, bald eine menschliche Natur annehmen; und wenn eine unedle – so bald eine menschliche, bald eine teuflische. Der Charakter sei z.B. Stärke oder Ehre, so muß er bald in der Sonnennähe höchster moralischer Standhaftigkeit gehen, welche sich und eignes Glück aufopfert, bald in die Sonnenferne grausamer Selbstsucht geraten, welche den Göttern das fremde schlachtet. Der Charakter sei Liebe, so kann er zwischen göttlicher Aufopferung und menschlicher Erschlaffung ab- und zuschwanken. Darum wird ein sittlicher durch die Schwierigkeit einer solchen Schwankung so schwer. Nur insofern, als eben die Dichtkunst diese südlichen und nördlichen Abweichungen aller Charaktere, wie der Gestirne, in einer schönen leichten Notwendigkeit und Umwechslung schnell und unparteiisch auf- und untergehen lässet, bildet sie uns zur Berechnung, zum Maße-Nehmen und zum Maße- Halten und zum Blicke durch die Welt. Wie keine köstlichste Organisation durch sich das Körperreich, so kann kein Mensch durch sich die Menschheit erschöpfen und vertreten; jeder ist ihr Teil und ihr Spiegel zugleich, keiner das Urbild des Spiegels; folglich – wie im rechten Kunst-Dialog nicht ein Sprecher, sondern alle zusammengenommen die Wahrheit haben und geben so gibt in der Dichtkunst nicht ein Charakter das Höchste und Ganze, sondern jeder und selber der schlimmste hilft geben. Nur der gemeine Schreiber teilt einem verworfnen Charakter alle irrigen Ansichten zu, anstatt der wenigen wahren, die dieser vielleicht am stärksten haben und malen kann.[226]

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 223-227.
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