§ 64
Wert der Geschichtfabel

[233] Wer die Schöpfung der Geschichtfabel für leicht ausgibt, tut es bloß, um sich dieser Schöpfung-Mühe und Wagschaft unter mehr Vorwand durch das Entlehnen aus der Geschichte zu überheben.[233]

Die epische Fabel war ohnehin von jeher die Blüte der Geschichte (z.B. bei Homer, Camoens, Milton, Klopstock), und das Große, was sie brauchte und borgte, konnt' ihr kein Erdichter verleihen; die epische Muse muß eine breite historische Welt haben, um auf ihr stehend eine dichterische zu bewegen.

Die Trauerspiele finden wir beinahe alle aus der Geschichte entnommen; und bloß viele schlechte, selber von Meistern, sind rein erdichtet. Welche Erfindung-Foltern steht nicht schon der gemeine Romanenschreiber aus, der doch auf der breiten Fläche der epischen Fabel umherrinnt und so viel zu seiner Geschichte aus der wirklichen stiehlt, als er nur weiß, obwohl ein anderer nicht! – Daß er eben über die ganze Unendlichkeit möglicher Welten von Ständen, Zeiten, Völkern, Ländern, Zufällen kombinierend zu gebieten und nichts Festes hat als seinen Zweck und seine ihm angebornen Charaktere, diese Fülle drückt den Mann. Wenn er, der jetzo die ersten Zweige sucht, woran sein Gewebe zum Abspinnen gehängt werden muß, bedenkt, welche Waldungen dazu vor ihm liegen – und wie man nach Stahls Kombinationlehre die Permutationzahl findet, wenn man die n Elemente ineinander multipliziert, wie daher drei Spieler im L'hombre 273438880 verschiedene Spiele bekommen können – und wie es dieser Zitation gar nicht bedarf, da ja aus so wenigen Buchstaben alle Sprachen entstanden sind – und wie Jacobi den absoluten Ubiquitisten im Überfluß und Meere des unendlichen Raums gerade keinen ersten Standpunkt zulässet und ausfindet; – und wenn der Mann weiter erwägt, daß er, um nur ein wenig anzufangen und zu versuchen, mit dem Blicke gegen alle Kompaßpunkte der Möglichkeit versuchend ausfliegen und mit einigen Urteilen zurückkommen muß: so ist wohl kein Wunder, daß er lieber das Beste stiehlt, als das Schwerste selber macht; denn hat er endlich alle Endpunkte, alle Charaktere und alle Lagen entschieden und alle Richtungen gerichtet und gezählt: so muß er in der ersten Szene unbekannte Menschen und Bestrebungen erst verkörpern und beseelen.

Ein Dichter, der sich diese Schöpfung aus nichts durch ein fertiges historisches Welt-Teilchen erspart, hat bloß das Entwicklungsystem[234] (Epigenesis) zu befolgen. Dieses muß aber auch ein Dichter durchmachen, der eine Fabel rein erschafft; denn gleich dieser Erdkugel ist die Gestalt, worin seine Schöpfung blühend erscheint, nur die letzte Revolution derselben, welche ihre Vorgängerinnen noch genug durch unterirdische Reste bezeichnet. Es ist unendlich leichter, gegebene Charaktere und Tatsachen zu mischen, zu ordnen, zu ründen, als alles dieses auch zu tun, aber sich beide erst zu geben. Vollends ein Kunstwerk, d.h. eine Gruppierung zum zweiten Male zu gruppieren – z.B. der dritte Verfasser des Ion zu sein (denn die Geschichte war der erste) –, das ist durchaus etwas anderes und Leichteres, als mit der Gewalt der Wirklichkeit eine neue Geschichte aufzudringen.

Denn es kommt noch dazu, daß sich der borgende Dichter zwei Dinge schenken lässet, Charaktere und Wahrscheinlichkeit. Ein bekannt-historischer Charakter, z.B. Sokrates, Cäsar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und setzt sein Kognito voraus; ein Name ist hier eine Menge Situationen. Hier erschafft schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung, welche im Erdichtungfalle erst ihn selber ausschaffen mußten. Denn kein Dichter darf Charakter-Gepräge und Kopf einschmelzen und einen zweiten auf dem Gold ausprägen. Unser Ich empört sich gegen Willkür, an einem fremden verübt; einen Geist kann nur er selber ändern. Wenn Schiller doch einige alte Geister umbog: so hatt' er entweder die Entschuldigung und Hoffnung fremder historischer Unbekanntschaft oder – unrecht. Wozu denn geschichtliche Namen, wenn die Charaktere so umgegossen werden dürften als die Geschichte und folglich nichts Historisches übrig bliebe als willkürliche Ähnlichkeit? Ich sagte noch, Wahrscheinlichkeit borge sich der Dichter von der – Wahrheit. Die Wirklichkeit ist der Despot und unfehlbare Papst des Glaubens. Wissen wir einmal, dieses Wunder ist geschehen: so wird diese Erinnerung dem Dichter, der die historische Unwahrscheinlichkeit zur poetischen Wahrscheinlichkeit erheben muß, die halbe Mühe des Motivierens ersparen – ja er selber wird im dunkeln Vertrauen auf Wahrheit uns mehr zumuten und kecker in uns greifen. Erwartung ist poetischer und kräftiger als Überraschung; aber jene[235] wohnt in der geschichtlichen, diese in der erdichteten Fabel. – Und warum erwählet denn überhaupt der Dichter eine Geschichte, die ihn, insofern er sie erwählt, doch stets auf eine oder die andere Weise beschränkt und ihn noch dazu der Vergleichung bloßstellet? Kann er einen angeben, der nicht die Kräfte der Wirklichkeit anerkenne? – Sobald es einmal einen Unterschied zwischen Erträumen und Erleben zum Vorteil des letzten gibt: so muß er auch dem Dichter zugute kommen, der beide verknüpft. Daher haben denn auch alle Dichter, vom Homer bis zum lustigen Boccaz, die Gestalten der Geschichte in ihre dunkeln Kammern, in ihre Vergrößerung- und Verkleinerung-Spiegel aufgefangen;- sogar der Schöpfer Shakespeare hat es getan. Doch dieser große, zum Weltspiegel gegossene Geist, dessen lebendige Gestalten uns früher überwältigen, als wir die historischen Urstoffe und Ahnen später im Eschenburg und andern Novellisten kennen lernen, kann nicht verglichen werden; wie der zylindrische Hohlspiegel stellet er seine regen, farbigen Gestalten außer sich in die Luft unter fremdes Leben und hält sie fest, indes uns das historische Urbild verschwindet; hingegen die planen und platten Spiegel zeigen nur in sich ein Bild, und zu gleicher Zeit sieht man außer ihnen die Sache, Novelle, Geschichte sichtbar stehen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 233-236.
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