Vierte Viertelstunde
Eine Literaturzeitung ohne Gründe

[505] Die Literaturzeitung ohne Gründe hätte sonst am besten in Weimar geschrieben werden können – so wie die deutsche Geschichte überhaupt und die übrige dazu –, und zwar von drei Männern im Feuer oder voll Feuer. Herder, Wieland und Goethe verbrüderten sich in hoher Eigentümlichkeit der Weltanschauung, daß sie an allen Völkern und Zeiten und menschlichen Großverwandlungen die Rechte, die Vorzüge, die Strahlen und die Flecken mit einer parteilosen Allseitigkeit erkannten und anerkannten, gleichsam als Nachahmer der drei unterirdischen Totenrichter. Diesen Kosmopolitismus des Blicks282 hatte Schiller weder für Völker, noch weniger für die Musen der Völker mit ihnen gemein, so wie Klopstock nicht einmal den engern mit Schiller.

Die weltbürgerliche Vielseitigkeit wurde nun eine ästhetische,[505] und die drei Könige brachten gern jeder genialen wundertätigen Geburt in der Krippe zwischen den Tieren seiner Zeit Myrrhen und Weihrauch. Von Herder stieg es zu Wieland (wenigstens in dessen Spätjahren), bis zu Goethe empor. Mitten unter diesen drei Männern im genialen Feuer stand als der vierte, wie jener Engel, Lessing, der sie alle übertraf, und der zugleich Sternes Werke, Jacobis Allwill, Hippels Lebensläufe, Calderon, Hans Sachs und Klopstock, wie die Römer alle Götter fremder Völker, verehrte.

Von solchen parteilosen Männern – wie er und Goethe vorzüglich –, welche wie die Peterskirche zu Rom einen besondern Beichtstuhl für alle fremde Völker hatten, könnte nun die Literaturzeitung ohne Gründe, die ich vorschlage, am besten geschrieben werden. Mein vollständiger Plan des neuen Journals ist dieser: Der Rezensent setzt den Titel des Werks, das er zu beurteilen hat, hin und fährt dann so fort: es gefällt mir – oder: es ist elend – oder: ein treffliches Buch – oder: ein langweiliges, oder wie er sonst sein Urteil motivieren und aussprechen will. Die Gründe, womit er sein Urteil belegt, sind seine Werke oder sein Name. Unähnlich andern Rezensenten, von welchen der Name wie von mehren Negerfürsten nicht genannt werden darf, solange sie regieren, ist ein solcher Rezensent dem Proteus ähnlich, der eben bloß in seiner eignen Gestalt, aber in keiner angenommenen die Wahrheit aussprach.

Ja könnten nicht auch andere Schriftsteller, obwohl von tieferem Wert, doch von einer genugsamen Vielbändigkeit, die ihrem bloßen Urteile statt der Gründe diente, könnten nicht auch solche ein Journal ohne Gründe schreiben, z.B. ich selber? – Könnt' ich nicht mehren vor Jahren herausgekommenen Werken, die mir nicht Lob genug erhalten zu haben geschienen, noch einiges nachschicken und ohne alles kritische Auseinandersetzen und Motivieren beurteilen? Und könnt' ich also z.B. nicht lobend anführen:

1) Lydiens Kinderjahre. Ein Beitrag zur Erziehungskunde – eine mit den feinsten und lehrreichsten Beobachtungen durchwebte Erziehgeschichte mit allen Reizen eines Romans, von einer leider schon hinübergegangenen Ch. Schütze – Oder ferner das[506] 2) kritisch-etymologische medizinische Lexikon von Ludwig August Kraus – ein in einer sonst schätzbaren Literaturzeitung mehr von Tatzen als von Händen über der Taufschüssel gehaltenes Werk, das durch Kürze, Fülle, Heiterkeit und fertige Hülfleistung wenigstens den Dilettanten der Kunst und der Sprache unentbehrlich ist – Oder ferner

3) Schützes Reise nach Karlsbad – ein Meisterstückchen der liebenswürdigsten Laune, zwar gelobt, aber noch nicht genug – Oder ferner die

4) Hammelsburger Reisen von Lange – ein gaukelnder Springbrunnen von komischen Erfindungen, der sie oft aus dem Wasserschatze der Sprache wunderbar emportreibt – noch abgerechnet, daß das spitze Satyrhorn sich zuweilen umstürzt und ausleert als ein Füllhorn historischer Gelehrsamkeit – Oder ferner den

5) Torso, einen satirischen Roman in vier Bändchen – ein Rumpfparlament, das mit seinen ironischen Akten nicht sowohl die allgemeinen Torheiten als die dem urdeutschen Reichs-Körper und dessen Reichs-Geiste immatrikulierten Narrheiten der Titelsucht, des Landadelstolzes, der Kleinlichkeit verfolgt – Oder auch (denn ich führte absichtlich gerade drei komische Werke an, weil der Deutsche unter allen Schriftstellern keine so leicht vergißt, wenn er ihnen auch nachlacht, als vorlachende, wie z.B. den sel. Musäus, so wie er keine länger besucht als predigende) – oder auch

6) des enzyklopädischen Wörterbuchs zweite, in drei Bänden vollendete Auflage, deren ungeheueren Kunstwörter-Umfang sogar der Gelehrte neben dem ebenfalls ungeheuern Wörterumfange seiner Wissenschaft nicht ganz in seinem Gedächtnisse beherbergen, sondern nur gastweise aufnehmen kann, zu welchem allen in der neuen Auflage noch die Überschwängerung mit einem geographischen Lexikon gekommen – Oder endlich

7) Schopenhauers Welt als Vorstellung und Wille, – ein genialphilosophisches, kühnes, vielseitiges Werk voll Scharfsinn und Tiefsinn, aber mit einer oft trost- und bodenlosen Tiefe – vergleichbar dem melancholischen See in Norwegen, auf dem man in seiner finstern Ringmauer von steilen Felsen nie die Sonne,[507] sondern in der Tiefe nur den gestirnten Taghimmel erblickt, und über welchen kein Vogel und keine Woge zieht283 Zum Glück kann ich das Buch nur loben, nicht unterschreiben.

– Hier sei indessen das Loben zu Ende; denn es gehört weit mehr Mut, nämlich gelehrter Gehalt dazu, als ich je im längsten Leben noch erringen kann, um das Lob zu verdoppeln, das z.B. einem Werke wie Barths »Urgeschichte Teutschlands« für seine historisch-gelehrte Schatzkammer, für seine Gewichtsprache und für den hohen, des Gegenstandes würdigen, freien Sinn gebührt.

282

Vielleicht aber mit dem Unterschiede, daß Wieland am besten den Charakter historischer Personen (z.B. des Kaiser Augustus) aufgriff, Herder den Charakter der Massen, als Völker und Zeiten, und Goethe beides.

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Die letzte Zeile werden Leser des originellen Buchs bildlich-treffend finden, da dessen Resultate sich oft in unbeweglichen Fohismus und Quietismus verlieren.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 505-508.
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