Der weinende Amor,

bey Betrachtung einer Bildsäule zu Charlottenburg im Garten

[332] (Den 16ten des Heumonaths 1761.)


Was fehlt doch dem allmächtgen Götterkinde,

Das alle Welt zu drohen scheint,

Cytherens Sohn? Was that er denn für Sünde?

Er ward gestraft, und weint?


Die Thräne redet von der rechten Backen

In stummer Sprache, Schmerz herab!

Von Pfeilen leer hängt ihm der Köcher auf dem Nacken;

Die grosse Venus gab


Ihm einen Kelch voll Mutterzorn zu schmecken:

Sie nahm ihm Pfeile. Was empfand

Sein Stolz? Wie schaamvoll steht er sich das Auge decken,

Mit seiner linken Hand?
[333]

Mit Bitterkeit schilt sie auf ihn hernieder,

Fühlt seine nasse Klagen nicht.

Ach! keinen Pfeil giebt sie dem armen Knaben wieder?

Nein, Spott ins Angesicht!


Er nennt ihr seines Bogens größte Thaten,

Und alle Helden, die er zwang,

Daß sie ihr opferten und ihre Hülfe baten,

Wann sie sein Pfeil durchdrang!


Ja, spricht sie, schweig, du nutzenloser Knabe,

Was hilft mir Hercul, was Achill?

Wann ich den Helden nicht zu meinen Füssen habe,

Der nicht empfinden will?


Nur Heldenlorbeer will er sich erfechten,

Dem Mars folgt er und dem Apoll,

Die mit vereinter Hand ihm eine Crone flechten,

Die ewig strahlen soll!
[334]

Soll meiner Macht ein Sohn der Erde lachen?

Ich hieß den Donnergott zum Schwan,

Zum Stier, ich hieß ihn sich zur goldnen Wolke machen,

Mir völlig unterthan.


Geh' Bube, fern von meinen Augen eile!

Ist Friedrich mehr, als Jupiter?

Ja – schluchzte Amor, gieb mir – Mutter – meine Pfeile!

Mehr als ein Gott ist er!

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 332-335.
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