Die klagenden Musen und Apoll

[191] Jüngst sah ich der Latona Sohn

Hoch auf dem steilen Helicon

Und alle Musen vor ihm knieen.

Sie baten: Sag uns, Pythius!

Kennst Du die Nymphe dort an deines Berges Fuß?

Wenn ward ihr deine Gunst verliehen?


Wenn gabst du ihren Schläfen Glanz?

Sie prahlt mit einem Lorbeerkranz,

Den sie schon deiner Huld entrissen;

Ihr Stolz erfrechet sich so gar,

Und sagt es öffentlich der weisen Menschenschaar:

Es kämen Musen sie zu küssen.
[191]

Sie leugts zu unsrer aller Hohn,

Urania weiß nichts davon,

Polymnia wird dir mit Schwüren

Beim Styx betheueren, daß sie nicht

Den Mund, der viel zu kühn, viel zu verwegen spricht,

Gewürdiget hat anzurühren.


Da lächelte der Gott und sprach;

Steht auf, Geliebten! eure Schmach

Wird ohne meinen Arm gerochen;

Die ganze Welt, die fühlen kann,

Und fein zu horchen weiß, hörts ihren Tönen an,

Daß nie mein Geist aus ihr gesprochen;


Daß keine Muse sie geküßt,

Und daß sie so verblendet ist

Wie Ixion, der einst entzücket

In seinen Arm die Wolke zog,

Und dann geschwätzig von der großen Juno log,

Er hätte sie ans Herz gedrücket.
[192]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 191-193.
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