An Herrn von G.

den Officier und Dichter

[209] Cyntia lächelt uns zu,

Dir vor allen, Apollischer Sohn,

Denn sie wähnt, Du seyst Endymion,

Er war nicht so angenehm als Du –


Dies schwazt' ich gestern, Corillas!

Und habe nicht gelogen;

Des Tagegottes Schwester saß

Bei weggelegtem Bogen

Auf dem Olympus in dem Kreiß

Der dienstbestellten Nymphen,

Und ihre Stirne silberweiß

Die fing sich an zu rümpfen,

Ihr schönes Auge zog sich klein,

Wie sich ein Auge ziehet,[209]

Wenn man, um recht gewiß zu seyn,

Tief in die Ferne siehet,

Wo etwas wankt, Mensch oder Thier –

Sie wollte Dich erkennen,

Und fing voll inniger Begier

Im Busen an zu brennen,

Und seufzte laut: Endymion! –


Du hast es nicht vernommen,

Mir aber ist der Seufzerton

Sehr kläglich vorgekommen,

Denn ich gab auf die Göttinn Acht.

Sie ward, indem wir gingen,

Im Antliz feuerroth gemacht,

Das Herz wollt ihr zerspringen

Vor Schaam und Reue, daß sie Dich

Gesehen und verkannte

Und mit Endymion verglich –

Und eine Nymphe nannte,

Zu desto größeren Verdruß

Ihr schalkhaft Deine Minne,

Da goß des Schamroths Ueberfluß

Urplötzlich von dem Kinne

Sich auf der Göttinn Busenraum;

Denn ach die Nymphe sagte,

Daß Amors Mutter selber kaum[210]

Sich zu vergleichen wagte

Mit Deiner schönen Schäferinn,

Die blond wie Ceres wäre,

Da sank das Haupt der Luna hin,

Und eine bittre Zähre

Floß zitternd auf ihr Purpurpfühl,

Bis Morpheus sich erbarmte,

Bis durch sein süßes Gaukenspiel

Ihr Schäfer sie umarmte.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 209-211.
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