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[122] Ich denke dran mit wehmutsvollem Schmerz,

Wie rettungslos ein königliches Herz,

Indes das Haus in Rauch und Schutt verfliegt,

Tief unter ihm in schnöden Banden liegt.


Goldfarbner Löwe, seufzt' der edle Wein

Seit Jahr und Tag im dunklen Eichenschrein,

Und ob ihm trampelte der graue Wicht,

Ließ keinen Tropfen an das Tageslicht.


Wenn still der Sonnenschein das Haus umfing

Und singend ein Gesell vorüberging,

Ein fröhlich dürstender, mit heißem Blut,

Dann wallt' es unten auf mit süßer Wut:
[122]

»O laßt mich an des Tages goldnen Blick,

Ich bring euch Freiheit, Freude, Lieb und Glück!

Laßt schäumend mich entgegensprühn dem Lied,

Das aus der hellen Menschenkehle zieht!«


Umsonst versprach er reichen Minnelohn,

Gefesselt blieb der goldne Sonnensohn!

Nicht wahr, ihr alle, die ihr Herrscher heißt,

Es ruht sich süß auf unterdrücktem Geist?


Nun wankt und stürzt das morsche Sündenhaus;

Doch unter seinen Trümmern atmet aus,

Vergessen, was so lang das Licht gesucht –

Heil unsrer jungen Reben süßer Frucht!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 122-123.
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