Dankbares Leben

[107] Wie schön, wie schön ist dieses kurze Leben,

Wenn es eröffnet alle seine Quellen!

Die Tage gleichen klaren Silberwellen,

Die sich mit Macht zu überholen streben.


Was gestern freudig mocht das Herz erheben,

Wir müssen's lächelnd heute rückwärts stellen;

Wenn die Erfahrungen des Geistes schwellen,

Erlebnisse gleich Blumen sie durchweben.


So mag man breiter stets den Strom erschauen,

Auch tiefer mählich sehn den Grund wir winken

Und lernen täglich mehr der Flut vertrauen.
[107]

Nun zierliche Geschirre, sie zu trinken,

Leiht, Götter! uns, und Marmor, um zu bauen

Den festen Damm zur Rechten und zur Linken!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 107-108.
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