Wegelied

[177] Drei Ellen gute Bannerseide,

Ein Häuflein Volkes, ehrenwert,

Mit klarem Aug, im Sonntagskleide,

Ist alles, was mein Herz begehrt!

So end ich mit der Morgenhelle

Der Sommernacht beschränkte Ruh

Und wandre rasch dem frischen Quelle

Der vaterländ'schen Freuden zu.


Die Schiffe fahren und die Wagen,

Bekränzt, auf allen Pfaden her;

Die luft'ge Halle seh ich ragen,

Von Steinen nicht noch Sorgen schwer;

Vom Rednersimse schimmert lieblich

Des Festpokales Silberhort:

Heil uns, noch ist bei Freien üblich

Ein leidenschaftlich freies Wort!


Und Wort und Lied, von Mund zu Munde,

Von Herz zu Herzen hallt es hin;

So blüht des Festes Rosenstunde

Und muß mit goldner Wende fliehn!

Und jede Pflicht hat sie erneuet,

Und jede Kraft hat sie gestählt

Und eine Körnersaat gestreuet,

Die nimmer ihre Frucht verhehlt.


Drum weilet, wo im Feierkleide

Ein rüstig Volk zum Feste geht

Und leis die feine Bannerseide

Hoch über ihm zum Himmel weht!

In Vaterlandes Saus und Brause,[178]

Da ist die Freude sündenrein,

Und kehr nicht besser ich nach Hause,

So werd ich auch nicht schlechter sein!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 177-179.
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