Klage der Magd

[333] Nun ist der Lenz gekommen,

Nun blühen alle Wiesen,

Nun herrschen Glanz und Freude[333]

Auf Erden weit und breit;

Nur meine böse Herrin,

Sie keift und zetert immer

Noch wie in der betrübten

Und kalten Winterzeit!


Wenn ich am frühen Morgen

Mit aufgewachtem Herzen

Im Garten grab und singe,

Die Welt mir freundlich blickt,

Wirft sie mir aus dem Fenster

Die ungefügen Worte,

Daß rasch in meiner Kehle

Das kleine Lied erstickt.


Und wenn mein Vielgeliebter

Am Hag vorüberwandelt

Und ein paar warme Blicke

Mir in die Seele warf,

Höhnt sie am Mittagsmahle,

Daß ich am untern Ende

Das Auge nicht erheben

Und mich nicht rühren darf,


Daß hungernd ich, mit Tränen,

Das Essen stehenlassen

Und mich hinweg muß wenden

Voll Scham und voll Verdruß

Und weinend im Verborgnen

Die Rinde harten Brotes

Mit all den harten Reden

Hinunterwürgen muß.
[334]

Sogar wenn ich am Sonntag

Will in die Kirche gehen

Und mir ein armes Bändchen

Am Hals nicht übel steht,

Vergiftet sie mir neidisch

Mit ungerechtem Tadel

Die wochenmüde Seele,

Das tröstliche Gebet.


Mag selber sie nur beten,

Daß ihre eignen Kinder

Nicht einmal dienen müssen,

Wenn ihr das Glück entschwand

Und sie als arme Mutter

Wird um die Häuser schleichen,

Wo jene sind geschlagen

Von böser Herrenhand!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 333-335.
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