[333] Nun ist der Lenz gekommen,
Nun blühen alle Wiesen,
Nun herrschen Glanz und Freude[333]
Auf Erden weit und breit;
Nur meine böse Herrin,
Sie keift und zetert immer
Noch wie in der betrübten
Und kalten Winterzeit!
Wenn ich am frühen Morgen
Mit aufgewachtem Herzen
Im Garten grab und singe,
Die Welt mir freundlich blickt,
Wirft sie mir aus dem Fenster
Die ungefügen Worte,
Daß rasch in meiner Kehle
Das kleine Lied erstickt.
Und wenn mein Vielgeliebter
Am Hag vorüberwandelt
Und ein paar warme Blicke
Mir in die Seele warf,
Höhnt sie am Mittagsmahle,
Daß ich am untern Ende
Das Auge nicht erheben
Und mich nicht rühren darf,
Daß hungernd ich, mit Tränen,
Das Essen stehenlassen
Und mich hinweg muß wenden
Voll Scham und voll Verdruß
Und weinend im Verborgnen
Die Rinde harten Brotes
Mit all den harten Reden
Hinunterwürgen muß.
[334]
Sogar wenn ich am Sonntag
Will in die Kirche gehen
Und mir ein armes Bändchen
Am Hals nicht übel steht,
Vergiftet sie mir neidisch
Mit ungerechtem Tadel
Die wochenmüde Seele,
Das tröstliche Gebet.
Mag selber sie nur beten,
Daß ihre eignen Kinder
Nicht einmal dienen müssen,
Wenn ihr das Glück entschwand
Und sie als arme Mutter
Wird um die Häuser schleichen,
Wo jene sind geschlagen
Von böser Herrenhand!
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Gesammelte Gedichte
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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