Der Hase und die Schildkröte

[111] Es nützt uns nicht der schnellste Lauf,

Bricht man zur rechten Zeit nicht auf.

Bezeugt wird dies von Schildkröte und Hase.

»Ich wette,« sagte jene einst im Grase

Der Uferwiesen, »daß du nicht so bald wie ich

Das Ziel erreichst.« Vor Lachen wälzte sich

Der leichtfüßige Hase:

»Du bist wohl nicht gescheit, geschwätzige Base!

Nimm Nieswurzkörner ein, sie heilen dich

Vielleicht von deinem Irrwahn noch.«

»Sag, was du willst, ich wette doch!«

Man schloß den Pakt und legte gleich beim Ziel

Den Einsatz nieder. Was – wieviel –

Ist einerlei, auch wer der Richter war im Spiel.

Vier Sprünge brauchte Meister Lampe nur zu machen.

Wie oft schon hatte er, umringt von Hunden,

Im letzten Augenblick mit Spott und Lachen

Aus aller Not sich blitzgeschwind herausgewunden.

Da er nun diesmal glaubte Zeit genug zu haben,

Zu warten und zu ruhn und sich am Kraut zu laben,

So läßt er unbesorgt die Andere traben.

So langsam die auch ist, sie strengt sich kräftig an,

Und kommt, trotz ihres Senatorengangs, voran.

Ihn kümmert's nicht, muß ihm ja doch bei seinem Springen

Im Augenblick der Sieg gelingen.

Der Ruhm des Sieges ist für ihn nur klein,

Unwürdig scheint er ihm zu sein.

Er frißt, er ruht, belustigt sich mit hundert Dingen,

Es drängt ihn nichts. Erst als die Gegnerin

Schon nah beim Ziele ist und beim Gewinn,[112]

Fliegt pfeilgeschwind er hin.

Umsonst! Der Sieg war nicht mehr zu erringen.

Schildkröte kam vor ihm als erste an.

Sie rief: »Nun, bin ich wirklich nicht gescheit?

Was nützte dir denn deine Schnelligkeit?

Ich bin es, die den Preis gewann!

Wie aber säh's mit dir, du Leichtfuß, dann erst aus,

Trügst du auch noch, gleich mir, ein schweres Panzerhaus!«

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 111-113.
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