Dienstag der 19. Jenner 1773.

[148] »Ich erwache; das erste mal ohne weder eine lebendige noch todte Mutter mehr in meinem Hause zu finden; ... Ich suche sie umsonst die, bey allen ihren Schwachheiten, außerordentlich redliche Mutter.. auch keinen Schatten mehr sehe ich von ihr. So viel hat sie an mir – so gar wenig ich an ihr gethan. So bald – (so lange auch ihr Leiden für sie, die Leidende, war) so bald ist sie mir verschwunden; auf immer verschwunden, ohne daß ich sie, ohne daß sie mich genossen hätte, wie eine Mutter mit diesen Eigenschaften, und ein Sohn von meiner Gesinnung einander in den fliehenden Tagen eines mühevollen Lebens genießen sollten ... Ach! hätte ich mehr Geschicklichkeit, ach! hätte ich ein nachgebenderes Herz gehabt, ihre Schwachheiten zu verbessern, und mir ihre vortrefflichen Eigenschaften zu nutze zu machen ... Itzt würde die Kenntniß des menschlichen Herzens, die ich einer bessern Erfahrung zu danken habe, mich gelehrt haben, mehr das Gute, das ich so häufig an ihr wahrnahm, zu ergreifen; mehr auf diesen Grund zu bauen, als nur das Fehlerhafte mit Blicken, oder Worten, oder Unwillen zu bestreiten ... und dennoch habe ich dieß[148] sehr selten gethan, – und kann es itzt nicht mehr thun ... welche Vorwürfe würde ich hierüber von mei nem Herzen anzuhören haben, wenn ich sie anzuhören redlich und demüthig genug wäre ... Nun – wenn auch das itzt nicht mehr zu ändern, und in Absicht auf sie selber nachzuhohlen ist ... Ich habe noch fünf Geschwister, Kinder dieser uns nun auf immer entflohenen Mutter – Ich habe noch einen alten guten redlichen schwachen Vater – diesen also will ich nun desto mehr Vergnügen zu verschaffen, diesen nun nützlicher zu seyn, mir bestens angelegen seyn lassen; diesen das vergüten, was ich in so mancher Absicht an meiner Mutter, die dennoch so vorzüglich viel auf mich hielt, und meinen Umgang auf eine für mich beschämendschmeichelhafte Weise suchte und schätzte, – auf eine kaum verantwortliche Weise versäumt habe ... Ich will, – denn Gottes Erbarmen ist nicht nur auf wenige Tage eingeschränkt; denn Jesus Christus ist der Herr über Todte und Lebendige – ich will auch itzt noch dem Vater aller Geister kindlich einfältige Gebete darbringen, daß er ihren Geist auf den Tag Jesu Christi unsträflich darstelle.« – – Dergleichen und ähnliche Gedanken und Empfindungen würde vermuthlich die Welt, würden wenigstens meine Freunde mir an dem ersten Morgen, da ich meine Mutter nicht mehr, weder todt noch lebendig, im[149] Hause finde, zutrauen; – so etwas mit allem Rechte von dem erwarten, der seinem Vaterlande und der ganzen Welt in Prosa und in Versen prediget, und des ewigen Moralisirens nicht müde wird; – aber die Welt, und meine Freunde würden sich entsetzlich geirret haben ...

An diesem ersten mutterlosen Morgen erwachte ich ohne alle Gedanken, ohne alle Empfindung; träge, wie ein seelenloses Stück Fleisch; hart, wie ein Stein; – – wann werde ich aus diesem Schlummer erwachen?1 ... ich konnte kaum aufstehen ... Nach und nach erholte ich mich ein wenig, und ... gieng an meine Arbeit ... Fast den ganzen Tag öconomische Geschäffte; die mir wenig Zeit ließen, an mich selber zu denken.

Nach dem Nachtessen fieng ich noch eine Rechnung an, die mir mein Vater zu machen aufgetragen hatte. Nach 11 Uhr gieng ich[150] zur Ruhe ...

Dienstag der 19. Jenner 1773 .. voll Unzufriedenheit über mich selber, und – dennoch nicht ohne Hoffnung – 1eOg Dt tsc hDn OngO n+e r1sr Tenz ofi nod eono.

Fußnoten

1 Wo ist der Mensch, der seine Geistes Kräfte stets nach Wunsch gebrauchen könnte? der nicht zuweilen mehr Fleisch als Geist wäre? der nicht oft ohne seine Schuld in eine Art von Unempfindlichkeit und Unthätigkeit verfiele? Die denkendsten Köpfe und die empfindsamsten Herzen sind solchen, freylich unangenehmen, aber unvermeidlichen Abwechselungen, vielleicht am meisten unterworfen. Anmerk. des Herausg.


Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. 151.
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