Funfzehnter Brief

[302] An ebendenselben


So, mein Herr? Fragten Sie mich nur deswegen was ich von dem Reime halte, um mich hernach mit desto größerer Dreustigkeit fragen zu können, was ich von dem »Messias« des Herrn Klopstocks halte? Überhaupt, scheinen Sie mir es schon zu wissen, daß ich mit unter seine Bewunderer gehöre; weil Sie sonst schwerlich Ihre Frage in den Worten des Horaz:


Age, quaeso,

Tu nihil in magno doctus reprehendis Homero?


würden ausgedrückt haben. Aber aus eben den Worten sehe ich auch, daß Sie gern etwas mehr als meinen Beifall hören möchten. Sie wollen so etwas, das einer Kritik nicht ungleich ist. Nicht wahr? Vor acht Tagen würde ich schlechthin geantwortet haben: damit vermenge ich mich nicht. Ich bin Zeit meines Lebens keinem Dinge gramer gewesen, als den Kritiken über Gedichte. Vielleicht, weil ich sie mehr zu besorgen hatte, als andre? Das kann sein. Aber, wie gesagt, vor acht Tagen ungefähr hat mich ein Geist getrieben, welcher ohnfehlbar nicht der beste sein mochte. Er trieb mich, Gedanken auf das Papier zu werfen, die mir schon mehr als einmal in den Kopf gekommen waren. Und diese Gedanken betrafen eben das, weswegen Sie mich jetzo fragen; gleich als wenn ich es voraus gewußt hätte, daß sie mir einmal den Verdruß, einem Freunde etwas abzuschlagen, ersparen würden. Noch liegen sie in dem Konzepte unter hundert Strichen und eben so viel Klecksen begraben. Sie Ihnen also mitzuteilen, muß ich sie notwendig abschreiben, und damit ich sie gewiß abschreibe, so will ich es gleich jetzo tun. Aber Geduld, mein Herr, Geduld werden Sie und ich nötig haben. – – Ich will nur meine Feder erst abküpsen, und alsdenn gleich anfangen.


Über das Heldengedicht der Messias

[302] »Hat der ›Messias‹ die witzigen Köpfe und ihre Richter wirklich getrennt, oder ward er nur der Probierstein, welcher diejenigen, die diese Benennung verdienen, von denen unterscheiden mußte, die widerrechtlich in dem schmeichelhaften Besitze derselben sind? Können unter seinen Tadlern Leute von dem feinsten Geschmacke sein, so wohl als deren unter seinen Bewundrern sind? Oder verraten jene unumgänglich einen Geist, in der Bildung verdorben, das erhabne Schöne zu empfinden, so unumgänglich als diese von ihren eignen Fähigkeiten ein sicheres Zeugnis ablegen? – – Wenn man mir diese Frage zuverlässig entscheiden wollte, so könnte ich mich in dem folgenden darnach richten.

Die Klopstockianer wenigstens haben alles getan, was man von ihnen fordern kann. Die Klopstockianer? – – Warum nicht? Man gönne einem Dichter vom ersten Range die Ehre, die nur zu oft ein sehr mittelmäßiger Weltweise erhält. – – Sie haben die Schönheiten des ›Messias‹ aus einander gesetzt; sie haben die Gründe ihrer Bewundrung angezeigt. Der Herr Prof. Meier hat das Wort geführet; der Verfasser der Ästhetik; der geschickteste von Schönheiten, die man nicht empfindet, zu beweisen, daß man sie empfinden solle.

Das Gegenteil hat auch das Seinige getan. Es hat geschimpft. Man sollte schwören, die Schweizerschen Kunstrichter wären von dieser Partei. Man irrt sich; denn diesesmal sind sie bei sich überzeugt, daß sie Recht haben. Nach und nach hatten es die berühmten Professores G** und T** von ihnen gelernt; und wie man gesehen, recht glücklich. Der gemeine Soldat, der die meisten Prügel bekommen hat, wird der Korporal der die meisten Prügel gibt. Ich glaube aber doch, daß diese wackre Männer, nicht deswegen auf den ›Messias‹ gelästert, weil sie gesehen, daß er vortrefflich sei, sondern weil sie sich der Mühe überheben wollten, zu beweisen, daß er es nicht sei. Ihr Schimpfen war, ohne Zweifel, die Folge aus Vordersätzen, die sie so überzeugend dachten, daß sie meineten, ein jeder müsse sie bei sich empfinden; die sie also verschwiegen.[303]

Ich habe einen Einfall bekommen, der – – vielleicht nicht viel taugt. Ich will einige Gedanken auf das Papier werfen, die ich die Feinde der Klopstockischen Muse nicht mißzudeuten bitte. Sie würden mir eine allzukützliche Ehre erzeigen, wenn sie mich unter ihre Zahl aufschreiben wollten. Ich bin von der Schönheit des ›Messias‹ so überzeugt, als sie es kaum von der Schönheit ihrer eignen Poesie sein können. Das selbst, was ich daran aussetzen will, soll es ihnen beweisen.

Das ist wunderlich, wird man denken. So gar wunderlich nicht. Es gibt eine Art des Tadels, welche dem Getadelten Ehre macht. Man tadelt den Hannibal, daß er nicht Rom belagert. Welchem geringern Feldherrn von allen, die jemals an der Spitze römischer Feinde gewesen sind, macht man diesen Vorwurf? Keinem. Der einzige Hannibal war so weit gekommen, daß er es tun konnte, und nicht tat. Wie viel Siege mußte er vorher erstritten, durch welchen Mut, durch welche Klugheit, durch welche Schnelligkeit im Entschließen mußte er sich in das Recht gesetzt haben, zu desto größern Taten Hoffnung zu machen, je größere er verrichtete, ehe man ihm den über alle Lobsprüche steigenden Tadel machen konnte: und er hat nicht Rom belagert? Man schätzet jeden nach seinen Kräften. Einen elenden Dichter tadelt man gar nicht; mit einem mittelmäßigen verfährt man gelinde; gegen einen großen ist man unerbittlich. Bleibt sich dieser nicht allezeit gleich, entwischt ihm hier und da eine matte Zeile: diese matte Zeile, welche die Zierde eines mittelmäßigen Dichters sein könnte, wird unerträglich: so wie man jeden guten Einfall, den man bei einem gemeinen Kopfe findet, betauert, daß er nicht in einem der Ewigkeit gewidmeten Werke stehet, ob er gleich noch um ein großes ausgeputzt werden müßte, ehe er darinne glänzen könnte.


Sic mihi, qui multum cessat, fit Choerilus ille,

Quem bis terque bonum cum risu miror: et idem

Indignor, quandoque bonus dormitat Homerus.


Horaz


Es ist eben dieselbe Zärtlichkeit des Geistes, welche die Schönheit einer Sache fühlet, und welche die Mängel derselben[304] empfindet. Tadeln und loben, was zu tadeln und zu loben ist, muß also gleich rühmlich sein. Man tue nur beides mit Geschmack. Ich habe oft Kenner Meisterstücke der Bildhauerkunst und Malerei betrachten sehen. Ihr Urteil fing sich mit einer stillen Bewundrung an, und endlich glaubten sie es nicht besser beweisen zu können, daß sie alle Vollkommenheiten des Gegenstandes empfänden, als wenn sie dasjenige anzeigten, was dabei weniger zu bewundern sei. Ihr Aber war schmeichelhafter, als alle Ausrufungen des Pöbels, der sich von dem Erstaunen hinreißen ließ.

Jetzo sehe ich es erst, daß mein Eingang ziemlich weitläuftig ist. Kaum könnte er größer sein, wenn ich auch eine Kritik über den ganzen Messias, über die Gesänge welche schon gedruckt sind, und über die welche noch folgen könnten, vorhätte. Wird er also nicht für die ersten zwanzig Zeilen zu lang sein?

Ich muß mich erklären, warum ich eben diese gewählt habe. Ich sahe es ein, und wer sieht es nicht ein? daß das Gedichte fertig sein müßte, wenn man von der Ökonomie desselben urteilen wollte. Noch ist der Dichter mitten in dem Labyrinthe. Man muß es erwarten, wie er sich heraus findet, ehe man von der Handlung, von ihrer Einheit, von ihrer Vollständigkeit, von ihrer Dauer, von der Verwicklung und Entwicklung, von den Episoden, von den Sitten, von den Maschinen, und von zwanzig andern Sachen etwas sagen kann. Alles, was sich bis jetzt beurteilen läßt, sind die Schönheiten der Teile, von welchen man nur hofft, daß sie ein schönes Ganze ausmachen werden; von den Ausdrücken, von den Beschreibungen, von den Vergleichungen, von den eingestreuten Gesinnungen etc.

Gleichwohl fiel es mir ein, daß ich aus den Beispielen des Homers und Virgils bemerkt zu haben glaubte, ein Heldendichter pflege in dem Eingange seines Gedichts die ganze Einrichtung desselben nicht undeutlich zu verraten. Wenn zum Exempel Maro anhebt:


Arma virumque cano, Trojae qui primus ab oris,

Italiam, fato profugus, Lavinaque venit[305]

Littora: multum ille et terris jactatus et alto

Vi superum, saevae memorem Junonis ob iram,

Multa quoque et bello passus, dum conderet urbem,

Inferretque Deos Latio: genus unde Latinum,

Albanique patres atque altae moenia Romae.


So glaubte ich nicht allein den Held, virum, Trojae qui primus ab oris Italiam venit; seinen Charakter inferretque Deos Latio, als den frommen Äneas; die vornehmsten Maschinen, Fatum, vis superum, Junonis ira; sondern auch die beiden Teile der ganzen Äneide darinne gefunden zu haben, den ersten multum ille et terris jactatus et alto, den zweiten multa quoque et bello passus. Es gefiel mir also, den Eingang des Messias vorzunehmen. Ich wußte, daß die Geschichte zu heilig sei, als daß der Dichter den geringsten wesentlichen Umstand ändern dürfte; ich schmeichelte mir also desto eher etwas daraus zu erraten. Ich fing an zu zergliedern; jeden Gedanken insbesondre, und einen gegen den andern zu betrachten. Nach und nach verlor ich meinen Zweck aus den Augen, weil sich mir andre Anmerkungen anboten, die ich vorher nicht gemacht hatte. Hier sind die vornehmsten davon.


Singe unsterbliche Seele der sündigen Menschen Erlösung,

Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet,

Und durch die er Adams Geschlechte die Liebe der Gottheit

Mit dem Blute des heiligen Bundes von neuen geschenkt hat.

Also geschahe des Ewigen Wille. Vergebens erhub sich

Satan wider den göttlichen Sohn; umsonst stand Judäa

Wider ihn auf: er tats und vollbrachte die große Versöhnung.

Aber, o Werk, das nur Gott allgegenwärtig erkennet,

Darf sich die Dichtkunst auch wohl aus dunkler Ferne dir nähern?

Weihe sie, Geist Schöpfer, vor dem ich im Stillen hier bete.

Führe sie mir, als deine Nachahmerin, voller Entzückung,

Voll unsterblicher Kraft, in verklärter Schönheit entgegen.

Rüste sie mit jener tiefsinnigen einsamen Weisheit,

Mit der du, forschender Geist, die Tiefen Gottes durchschauest:[306]

Also werde ich durch sie Licht und Offenbarungen sehen,

Und die Erlösung des großen Messias würdig besingen.


Man weiß, daß der Eingang eines Heldengedichts aus dem Inhalte und aus der Anrufung besteht. Die oben angeführte Stelle des Virgils ist der Inhalt, die vier darauf folgenden Verse sind die Anrufung. Also auch hier. Der Inhalt geht bis auf, und vollbrachte die große Versöhnung; das übrige ist die Anrufung an den Geist Gottes. Virgil sagt: ich singe die Waffen und den Held; Klopstock sagt: singe unsterbliche Seele. Nichts tut man lieber und gewisser, als das was man sich selbst befohlen hat. Ich weiß also nicht, wie der Herr Professor Meier hat sagen können: Er ruft nicht etwa eine heidnische Muse an, sondern er befiehlt, auf eine ganz neue Art, seiner unsterblichen Seele zu singen. Nicht zu gedenken, daß der Herr Professor den Inhalt und die Anrufung offenbar hier verwechselt, und daß es eine greuliche Torheit würde gewesen sein, wenn Klopstock eine heidnische Muse hätte anrufen wollen; will ich nur sagen, daß alles neue, was in dieser Stelle zu finden ist, in einer grammatikalischen Figur bestehet, nach welcher der Dichter das, was andre im Indicativo sagen, in dem an sich selbst gerichteten Imperativo sagt. Der Sänger des Messias hat überflüssige Schönheiten, als daß man ihm welche andichten müsse, die keine sind. Die erste Zeile würde also, wenn man sie in den gewöhnlichen Ausdruck übersetzt, heißen: Ich unsterbliche Seele, singe der sündigen Menschen Erlösung.

Diese Anmerkung ist eine Kleinigkeit, welche eigentlich den Herrn Prof. Meier betrifft. Ich komme auf eine andre – –«

Nun wahrhaftig, das heiß ich abschreiben. Erlauben Sie mir, daß ich hier ausruhen darf. Ich verspare den Rest zu meinen folgenden Briefen, in welchen ich vielleicht – – Doch ich will nichts versprechen. Es wird sich zeigen. Leben Sie wohl. Ich bin etc.[307]

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 302-308.
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