Gotthold Ephraim Lessing

Abhandlungen

von dem weinerlichen oder

rührenden Lustspiele

Neuerungen machen, kann sowohl der Charakter eines großen Geistes, als eines kleinen sein. Jener verläßt das alte, weil es unzulänglich, oder gar falsch ist; dieser, weil es alt ist. Was bei jenem die Einsicht veranlaßt, veranlaßt bei diesem der Ekel. Das Genie will mehr tun als sein Vorgänger; der Affe des Genies nur etwas anders.

Beide lassen sich nicht immer auf den ersten Blick von einander unterscheiden. Bald macht die flatterhafte Liebe zu Veränderungen, daß man aus Gefälligkeit diesen für jenes gelten läßt; und bald die hartnäckige Pedanterei, daß man, voll unwissenden Stolzes, jenes zu diesem erniedriget. Genaue Beurteilung muß mit der lautersten Unparteilichkeit verbunden sein, wenn der aufgeworfene Kunstrichter weder aus wollüstiger Nachsicht, noch aus neidischem Eigendünkel fehlen soll.

Diese allgemeine Betrachtung findet hier ganz natürlich ihren Platz, da ich von den Neuerungen reden will, welche zu unsern Zeiten in der Dramatischen Dichtkunst sind gemacht worden. Weder das Lustspiel, noch das Trauerspiel, ist davon verschont geblieben. Das erstere hat man um einige Staffeln erhöhet, und das andre um einige herabgesetzt. Dort glaubte man, daß die Welt lange genug in dem Lustspiele gelacht und abgeschmackte Laster ausgezischt habe; man kam also auf den Einfall, die Welt endlich einmal auch darinne weinen und an stillen Tugenden ein edles Vergnügen[12] finden zu lassen. Hier hielt man es für unbillig, daß nur Regenten und hohe Standespersonen in uns Schrecken und Mitleiden erwecken sollten; man suchte sich also aus dem Mittelstande Helden, und schnallte ihnen den tragischen Stiefel an, in dem man sie sonst, nur ihn lächerlich zu machen, gesehen hatte.

Die erste Veränderung brachte dasjenige hervor, was seine Anhänger das rührende Lustspiel, und seine Widersacher das weinerliche nennen.

Aus der zweiten Veränderung entstand das bürgerliche Trauerspiel.

Jene ist von den Franzosen und diese von den Engländern gemacht worden. Ich wollte fast sagen, daß sie beide aus dem besondern Naturelle dieser Völker entsprungen zu sein scheinen. Der Franzose ist ein Geschöpf, das immer größer scheinen will, als es ist. Der Engländer ist ein anders, welches alles große zu sich hernieder ziehen will. Dem einen ward es verdrüßlich, sich immer auf der lächerlichen Seite vorgestellt zu sehen; ein heimlicher Ehrgeiz trieb ihn, seines gleichen aus einem edeln Gesichtspunkte zu zeigen. Dem andern war es ärgerlich, gekrönten Häuptern viel voraus zu lassen; er glaubte bei sich zu fühlen, daß gewaltsame Leidenschaften und erhabne Ge danken nicht mehr für sie, als für einen aus seinen Mitteln wären.

Dieses ist vielleicht nur ein leerer Gedanke; aber genug, daß es doch wenigstens ein Gedanke ist. – – Ich will für diesesmal nur die erste Veränderung zu dem Gegenstande meiner Betrachtungen machen, und die Beurteilung der zweiten auf einen andern Ort sparen.

Ich habe schon gesagt, daß man ihr einen doppelten Namen beilegt, welchen ich auch so gar in der Überschrift gebraucht habe, um mich nicht durch die bloße Anwendung des einen, so schlecht weg gegen den Begriff des andern zu erklären. Das weinerliche Lustspiel ist die Benennung derjenigen, welche wider diese neue Gattung eingenommen sind. Ich glaube, ob schon nicht hier, sondern anderwärts, das Wort weinerlich, um das Französische larmoyant auszudrücken, am ersten gebraucht zu haben. Und ich wüßte es[13] noch jetzt nicht besser zu übersetzen, wenn anders der spöttische Nebenbegriff, den man damit hat verbinden wollen, nicht verloren gehen sollte. Man sieht dieses an der zweiten Benennung, wo ihre Verteidiger ihre Rechnung dabei gefunden haben, ihn gänzlich wegzulassen. Ein rührendes Lustspiel läßt uns an ein sehr schönes Werk denken, da ein weinerliches, ich weiß nicht was für ein kleines Ungeheuer zu versprechen scheinet.

Aus diesen verschiedenen Benennungen ist genugsam, glaub ich, zu schließen, daß die Sache selbst eine doppelte Seite haben müsse, wo man ihr bald zu viel, und bald zu wenig tun könne. Sie muß eine gute Seite haben, sonst würden sich nicht so viel schöne und scharfsinnige Geister für sie erklären: sie muß aber auch eine schlechte haben, sonst würden sich andre, die eben so schön und scharfsinnig sind, ihr nicht widersetzen.

Wie kann man also wohl sichrer hierbei gehen, als daß man jeden von diesen Teilen höret, um sich alsdann entweder auf den einen, oder auf den andern zu schlagen, oder auch, wenn man lieber will, einen Mittelweg zu wählen, auf welchem sie sich gewissermaßen beide vereinigen lassen? Zum guten Glücke finde ich, so wohl hier als da, zwei Sprecher, an deren Geschicklichkeit es wahrhaftig nicht liegt, wenn sie nicht beide Recht haben.

Der eine ist ein Franzose und der andre ein Deutscher. Jener verdammt diese neue Gattung, und dieser verteidiget sie; so wahr ist es, daß die wenigsten Erfindungen, an dem Orte, wo sie gemacht werden, den meisten Schutz und die meiste Unterstützung finden.

Der Franzose ist ein Mitglied der Akademie von Rochelle, dessen Name sich mit den Buchstaben M. D. C. anfängt. Er hat Betrachtungen über das weinerlich Komische geschrieben, welche bereits im Jahr 1749 auf fünf Bogen in klein Oktav herausgekommen sind. Hier ist der völlige Titel: Reflexions sur le Comique-larmoyant, par Mr. M. D. C. Trésorier de France et Conseiller au Presidial, de l'Academie de la Rochelle; adressées à M. M. Arcere et Thylorier de la même Academie.[14]

Der Deutsche ist der Hr. Prof. Gellert, welcher im Jahr 1751 bei dem Antritte seiner Professur, durch eine lateinische Abhandlung pro Comoedia commovente, zu der feierlichen Antrittsrede einlud. Sie ist in Quart, auf drei Bogen gedruckt.

Die Regel, daß man das, was bereits getan ist, nicht noch einmal tun solle, wenn man nicht gewiß wüßte, daß man es besser tun werde, scheint mir so billig, als bequem. Sie allein würde mich daher entschuldigen, daß ich jetzt gleich beide Aufsätze meinem Leser übersetzt vorlegen will, wenn dieses Verfahren eine Entschuldigung brauchte.

Mit der Abhandlung des Franzosen, die man also zuerst lesen wird, bin ich ein wenig französisch verfahren, und beinahe wäre ich noch französischer damit umgegangen. Sie ist, wie man gesehen hat, an zwei Nebenmitglieder der Akademie zu Rochelle gerichtet; und ich habe es für gut befunden, diese Anrede durchgängig zu verändern. Sie hat verschiedene Noten, die nicht viel sagen wollen; ich habe also die armseligsten weggelassen, und beinahe hätten sie dieses Schicksal alle gehabt. Sie hat ferner eine Einleitung von sechs Seiten, und auch dies habe ich nicht übersetzt, weil ich glaube, daß sie zu vermissen ist. Beinahe hätte ich sogar den Anfang der Abhandlung selbst übergangen, wo uns mit wenigen die ganze Geschichte der Dramatischen Dichtkunst, nach dem Pater Brumoi, erzählt wird. Doch weil der Verfasser versichert, daß er diese Schritte zurück notwendig habe tun müssen, um desto sichrer und mit desto mehr Kräften auf seinen eigentlichen Gegenstand losgehen zu können, so habe ich alles gelassen wie es ist. Seine Schreibart übrigens schmeckt ein wenig nach der kostbaren Art, die auch keine Kleinigkeit ohne Wendung sagen will. Ich habe sie größten Teils müssen beibehalten, und man wird mich entschuldigen.

Ohne weitre Vorrede endlich zur Abhandlung selbst zu kommen; hier ist sie![15]

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 12-16.
Erstdruck in: Gotth. Ephr. Lessings Theatralische Bibliothek, Berlin (Voss) 1754.
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