Dritter Teil

[160] 1759


IV. Den 26. Julius 1759
Acht und vierzigster Brief

Sie sollen befriediget werden! – Die großen Lobsprüche, welche der »Nordische Aufseher« in so manchen öffentlichen Blättern erhalten hat, haben auch meine Neugierde gereizet. Ich habe ihn gelesen; ob ich mir es gleich sonst fast zum Gesetze gemacht habe, unsere wöchentliche Moralisten ungelesen zu lassen.

Kopenhagen hat bereits an dem »Fremden« (einem Werke des sel. Hrn. Prof. Schlegels) eine dergleichen Schrift von sehr vorzüglichem Werte aufzuweisen. Und nun kann es leicht kommen, daß der »Nordische Aufseher« ein allgemeines Vorurteil für die deutschen Werke des Witzes, welche in Dänemark erscheinen, veranlassen hilft. Und würde dieses Vorurteil auch so ganz ohne Grund sein? – Wenn unsere besten Köpfe, ihr Glück nur einigermaßen zu machen, sich expatriieren müssen; wenn –

O ich will hiervon abbrechen, ehe ich recht anfange; ich möchte sonst alles darüber vergessen; Sie möchten, anstatt eines Urteils über eine schöne Schrift, Satyre über unsere Nation, und Spott über die elende Denkungsart unserer Großen zu lesen bekommen. Und was würde es helfen? –

Der »Nordische Aufseher« hat mit dem fünften Jenner des Jahres 1758 angefangen, und hat sich in der Fortsetzung weder an einen gewissen Tag noch an eine gewisse Länge der einzeln Stücke gebunden. Diese Freiheit hätten sich billig alle seine Vorgänger erlauben sollen. Sie würden dadurch nicht[160] nur für ihre Blätter einen gewissen gefallenden Anschein der Ungezwungenheit, sondern auch viel wesentlichere Vorteile erhalten haben. Sie würden ihre Materien nicht so oft haben bald ausdehnen, bald zusammenziehen, bald trennen dürfen; sie hätten sich gewisser Umstände der Zeit zu gelegentlichen Betrachtungen besser bedienen können; sie hätten bald hitziger, bald bequemlicher arbeiten können etc.

Das ganze 1758ste Jahr bestehet aus sechzig Stücken, die einen ansehnlichen Band in klein Quart ausmachen. Der Herr Hofprediger Cramer hat sich auf dem Titel als Herausgeber genennt.80 Wie viel Anteil er aber sonst daran habe; ob er der einzige, oder der vornehmste Verfasser sei; wer seine Mitarbeiter sind: davon sucht der Leser vergebens einige nähere Nachricht. Er muß versuchen, wie viel er davon aus dem Stil und der Art zu denken, erraten kann.

Doch die wahren Verfasser itzt aus den Gedanken zu lassen, so gibt der »Nordische Aufseher« vor, daß er ein Sohn des Nestor Ironside sei, der ehemals das Amt eines Aufsehers der Sitten von Großbritannien übernahm, und mit allgemeinem Beifalle verwaltete. Er heiße Arthur Ironside; seine Mutter sei die Witwe eines deutschen Negozianten gewesen, die seinen Vater noch in seinem funfzigsten Jahre gegen die Liebe empfindlich gemacht habe; und vielleicht habe dieser nur deswegen von ihm geschwiegen, um sich nicht, dieser späten Liebe wegen, dem mutwilligen Witze der Spötter auszusetzen. Ein besondres Schicksal habe ihn genötiget sein Vaterland zu verlassen, und er betrachte nun Dänemark als sein zweites Vaterland, welchem er ohnedem, von seinen väterlichen Vorfahren her, eben so nahe als jenem angehöre; indem diese ursprünglich aus einem nordischen Geschlechte abstammten, welches mit dem Könige Knut nach England gekommen sei, und durch seine Tapferkeit nicht wenig zu den Eroberungen desselben beigetragen habe. – Hierauf beschreibt er, mit den eignen Worten seines Vaters, die Pflichten eines moralischen[161] Aufsehers und sagt: »Da ich schon in einem Alter bin? wo ich die Einsamkeit eines unbekannten und ruhigen Privatlebens nicht verlassen und in Geschäften gebraucht zu werden suchen kann, ohne mich dem Verdachte auszusetzen, daß ich mehr von einem meinen Jahren unanständigen Ehrgeize, als von einer uneigennützigen Begierde, meine Kräfte dem allgemeinen Besten aufzuopfern, getrieben würde: So habe ich mich entschlossen, für mein zweites Vaterland zu tun, was mein Vater für England getan hat.«

Auf zwei Punkte verspricht er dabei seinen Fleiß besonders zu wenden; auf die Erziehung der Jugend nämlich, und auf die Leitung derjenigen, welche sich mit Lesung guter Schriften und mit den Wissenschaften abgeben, ohne eigentlich ein Geschäfte aus ihrer Erlernung zu machen. Und er hat auch in der Tat, in Absicht auf beides, in diesem ersten Bande bereits schon vieles geleistet. – Seine feinsten Anmerkungen über die beste Art der Erziehung, hat er in die Geschichte seiner eignen Erziehung gebracht,81 welche mehr als ein Stück einnimmt; in welcher aber vielleicht nicht alle Leser die ekeln Umschweife billigen möchten, mit welchen ihm sein Vater die ersten Gründe der Moral und geoffenbarten Religion beigebracht hat. Er erzählt z.E.82 als ihn sein Vater mit den Lehren der Notwendigkeit und dem Dasein eines Erlösers der Menschen und einer Genugtuung für sie, bekannt machen wollen: so habe er auch hier der Regel, von dem Leichten und Begreiflichen zu dem Schwerern fortzugehen, zu folgen gesucht, und sei einzig darauf bedacht gewesen, ihn Jesum erst bloß als einen frommen und ganz heiligen Mann, als einen zärtlichen Kinderfreund, lieben zu lehren. Allein ich fürchte sehr, daß strenge Verehrer der Religion mit der gewaltsamen Ausdehnung dieser Regel nicht zufrieden sein werden. Oder sie werden vielmehr nicht einmal zugeben, daß diese Regel hier beobachtet worden. Denn wenn diese Regel sagt, daß man in der Unterweisung von dem Leichten auf das Schwerere fortgehen müsse, so ist dieses Leichtere nicht für eine Verstümmlung, für eine Entkräftung der schweren Wahrheit,[162] für eine solche Herabsetzung derselben anzusehen, daß sie das, was sie eigentlich sein sollte, gar nicht mehr bleibt. Und darauf muß Nestor Ironside nicht gedacht haben, wenn er es, nur ein Jahr lang, dabei hat können bewenden lassen, den göttlichen Erlöser seinem Sohne bloß als einen Mann vorzustellen, den Gott »zur Belohnung seiner unschuldigen Jugend, in seinem dreißigsten Jahre mit einer so großen Weisheit, als noch niemals einem Menschen gegeben worden, ausgerüstet, zum Lehrer aller Menschen verordnet, und zugleich mit der Kraft begabt habe, solche herrliche und außerordentliche Taten zu tun, als sonst niemand außer ihm verrichten können.« – Heißt das den geheimnisvollen Begriff eines ewigen Erlösers erleichtern? Es heißt ihn aufheben; es heißt einen ganz andern an dessen Statt setzen; es heißt, mit einem Worte, sein Kind so lange zum Socinianer machen, bis es die orthodoxe Lehre fassen kann. Und wenn kann es die fassen? In welchem Alter werden wir geschickter, dieses Geheimnis einzusehen, als wir es in unsrer Kindheit sind? Und da es einmal ein Geheimnis ist, ist es nicht billiger, es gleich ganz der bereitwilligen Kindheit einzuflößen, als die Zeit der sich sträubenden Vernunft damit zu erwarten? – Diese Anmerkung im Vorbeigehen!

Was der »Nordische Aufseher« zum Besten der unstudierten Liebhaber guter Schriften getan hat, beläuft sich ohngefähr auf sechs oder sieben neuere Autores, aus welchen er, nach einer kurzen Beurteilung, besonders merkwürdige und lehrreiche Stellen beibringt. So preiset er z.E. in dem vierten und siebenden Stücke die Werke des Kanzlers Daguesseau an, und zwar mit diesem Zusatze: »Ich kann nicht schließen, ohne zur Ehre dieser Werke und zur Ehre fremder Sprachen zu wünschen, daß sie mit allen andern vortrefflichen Arbeiten des menschlichen Verstandes einem jeden Übersetzer unbekannt bleiben mögen, der nur mit der Hand und nicht mit dem Kopfe; der, mit einem Worte alles zu sagen, nicht wie Ramler und Ebert unter den Deutschen, und nicht wie Lodde unter uns übersetzt.« – In dem dreizehnten Stücke redet er von Youngs Nachtgedanken und Centaur. Was meinen Sie aber, ist es nicht ein wenig übertrieben, wenn er von diesem[163] Dichter sagt? »Er ist ein Genie, das nicht allein weit über einen Milton erhoben ist, sondern auch unter den Menschen am nächsten an den Geist Davids und der Propheten grenzet etc. Nach der Offenbarung, setzt er hinzu, kenne ich fast kein Buch, welches ich mehr liebte; kein Buch, welches die Kräfte meiner Seele auf eine edlere Art beschäftigt, als seine Nachtgedanken.« – Die übrigen Schriftsteller, mit welchen er seine Leser unterhält, sind des Bischofs Buttlers83 Analogie der natürlichen und geoffenbarten Religion; Heinrich Beaumonts84 moralische Schriften; des Hrn. Basedow85 praktische Philosophie für alle Stände; des Marquis von Mirabeau86 Freund des Menschen; und ein sehr wohl geratenes Gedicht eines Dänischen Dichters, des Hrn. Tullin.87

Dieses letzte Gedicht führet den Titel: »Ein Maitag«. Es ist, sagt der Aufseher, zwar nur durch eine von den gewöhnlichen Gelegenheiten veranlaßt worden, die von unsern meisten Dichtern besungen zu werden pflegen; es hat aber doch so viel wahre poetische Schönheiten, daß es eine vorzügliche Aufmerksamkeit verdienet. Erfindung, Anlage, Einrichtung und Ausführung verraten einen von der Natur begünstigten Geist, der noch mehr erwarten läßt. – Dieses Urteil ist keine Schmeichelei; denn die Strophen welche er im Originale und in einer Übersetzung daraus anführt, sind so vortrefflich, daß ich nicht weiß, ob wir Deutsche jemals ein solches Hochzeitgedicht gehabt haben. Schließen Sie einmal von dieser einzigen Stelle auf das Übrige:


»Unerschaffener Schöpfer, gnädig, weise, dessen Liebe unumschränkt ist. der du für jeden Sinn, damit man Dich erkennen möge, ein Paradies erschaffen hast, Du bist alles und alles in Dir überall sieht man deinen Fußtapfen – –

Du machst den Sommer, den Winter den Herbst zu Predigern deiner Macht und Ehre. Aber der Frühling – was soll dieser sein? O Erschaffer, er ist ganz Ruhm. Er redet zu den tauben ungläubigen Haufen mit tausend Zungen. – –

Er ist unter allen am meisten Dir gleich, er erschaffet, er bildet er belebt, er erhält, er nähret, er gibt Kraft und Stärke; er ist – er ist beinahe Du selbst. Wie wenig wissen von dieser Freude die,[164] welche in dem Dunste und Staube verschloßner Mauern, wenn die ganze Natur ruft Komm! unter schweren Gedanken furchtsam lauren. etc.«

G.


V. Den 2. August 1759
Neun und vierzigster Brief

Sie billigen die Anmerkung, die ich über die Methode des Nestor Ironside, seinen Sohn den Erlöser kennen zu lehren, gemacht habe; und wundern sich, wie der Aufseher eine so heterodoxe Lehrart zur Nachahmung habe anpreisen können. Aber wissen Sie denn nicht, daß itzt ein guter Christ ganz etwas anders zu sein anfängt, als er noch vor dreißig, funfzig Jahren war? Die Orthodoxie ist ein Gespötte worden; man begnügt sich mit einer lieblichen Quintessenz, die man aus dem Christentume gezogen hat, und weichet allem Verdachte der Freidenkerei aus, wenn man von der Religion überhaupt nur fein enthusiastisch zu schwatzen weiß. Behaupten Sie z.E. daß man ohne Religion kein rechtschaffner Mann sein könne; und man wird Sie von allen Glaubensartikeln denken und reden lassen, wie Sie immer wollen. Haben Sie vollends die Klugheit, sich gar nicht darüber auszulassen; alle sie betreffende Streitigkeit mit einer frommen Bescheidenheit abzulehnen: oh so sind Sie vollends ein Christ, ein Gottesgelehrter, so völlig ohne Tadel, als ihn die feinere religiöse Welt nur immer verlangen wird.

Auch der »Nordische Aufseher« hat ein ganzes Stück88 dazu angewandt, sich diese Miene der neumodischen Rechtgläubigkeit zu geben. Er behauptet mit einem entscheidenden Tone, daß Rechtschaffenheit ohne Religion widersprechende Begriffe sind; und beweiset es durch- – durch weiter nichts, als seinen entscheidenden Ton. Er sagt zwar mehr als einmal denn; aber sehen Sie selbst wie bündig sein denn ist. »Denn, sagt er, ein Mann, welcher sich mit Frömmigkeit brüstet, ohne ehrlich und gerecht gegen uns zu handeln, verdienet[165] mit dem Namen eines Heuchlers an seiner Stirne gezeichnet zu werden; und ein Mensch, welcher sich rühmet, daß er keine Pflicht der Rechtschaffenheit vernachlässige, ob er sich gleich von demjenigen befreiet achtet, was man unter dem Namen der Frömmigkeit begreift, ist – – ein Lügner muß ich sagen, wenn ich nicht strenge sondern nur gerecht urteilen will; weil er selbst gestehet, kein rechtschaffner Mann gegen Gott zu sein. Ist alle Rechtschaffenheit eine getreue und sorgfältige Übereinstimmung seiner Taten mit seinen Verhältnissen gegen andere, und wird eine solche Übereinstimmung für notwendig und schön erklärt: so kann sie nicht weniger notwendig und rühmlich gegen Gott sein, oder man müßte leugnen, daß der Mensch gegen das Wesen der Wesen in wichtigen Verhältnissen stünde.« – – Was kann deutlicher in die Augen leuchten, als daß das Wort Religion in dem Satze ganz etwas anders bedeutet, als er es in dem Beweise bedeuten läßt. In dem Satze heißt ein Mann ohne Religion, ein Mann, der sich von der geoffenbarten Religion nicht überzeugen kann; der kein Christ ist: in dem Beweise aber, ein Mann, der von gar keiner Religion wissen will. Dort ein Mann, der bei den Verhältnissen, die ihm die Vernunft zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpfe zeiget, stehen bleibt: Hier ein Mann, der durchaus gar keine solche Verhältnisse annehmen will. Diese Verwirrung ist unwidersprechlich; und man muß sehr blödsinnig sein, wenn man sich kann bereden lassen, daß das, was von dem einem dieser Personen wahr sei, auch von dem andern gelten müsse. Und können Sie glauben, daß der Aufseher diesen Fechterstreich noch weiter treibet? Aus folgender Schilderung, die er von einem Manne ohne Religion macht, ist es klar. »Polidor, höre ich zuweilen sagen, ist zu betauern, daß er kein Christ ist. Er denkt über die Religion bis zur Ausschweifung frei; sein Witz wird unerschöpflich, wenn er anfängt ihre Verteidiger lächerlich zu machen; aber er ist ein ehrlicher Mann; er handelt rechtschaffen; man wird ihm keine einzige Ungerechtigkeit vorwerfen können etc.« – Aber mit Erlaubnis; diesem Polidor fehlt es nicht bloß an Religion: er ist ein Narr, dem es an gesunder Vernunft fehlt; und von diesem will ich es[166] selbst gern glauben, daß alle seine Tugenden, Tugenden des Temperaments sind. Denn muß er deswegen, weil er sich von einer geoffenbarten Religion nicht überzeugen kann, muß er deswegen darüber spotten? Muß er ihre Verteidiger deswegen lächerlich machen? – Welche Gradation: ein Mann der von keiner geoffenbarten Religion überzeugt ist; ein Mann der gar keine Religion zugibt; ein Mann, der über alle Religion spottet! Und ist es billig, alle diese Leute in eine Klasse zu werfen?

Das war also, gelinde zu urteilen, eine Sophisterei! Und nun betrachten Sie seinen zweiten Grund, wo er das Wort Rechtschaffenheit in einem engern Verstande nimmt, und es seinen Gegnern noch näher zu legen glaubt. »Allein, sagt er, wenn wir unter der Rechtschaffenheit auch nur die Pflichten der gesellschaftlichen Billigkeit und Gerechtigkeit verstehen wollten: So könnte doch vernünftiger Weise nicht vermutet werden, daß ein Mann ohne Religion ein rechtschaffner Mann sein würde. Eigennutz, Zorn, Eifersucht, Wollust, Rache und Stolz, sind Leidenschaften, deren Anfälle jeder Mensch empfindet, und wer weiß nicht, wie gewaltig diese Leidenschaften sind? Entsagt nun ein Mensch der Religion; entsagt er künftigen Belohnungen; entsagt er dem Wohlgefallen der Gottheit an seinen Handlungen, und ist seine Seele gegen die Schrecken ihrer Gerechtigkeit verhärtet: Was für eine Versichrung haben wir, daß er den strengen Gesetzen der Rechtschaffenheit gehorchen werde, wenn aufgebrachte mächtige Leidenschaften die Beleidigung derselben zu ihrer Befriedigung verlangen?« – Abermals die nämliche Sophisterei! Denn ist man denn schon ein Christ, (diesen versteht der Aufseher unter dem Manne von Religion) wenn man künftige Belohnungen, einen Wohlgefallen der Gottheit an unsern Handlungen, und eine ewige Gerechtigkeit glaubet? Ich meine, es gehöret noch mehr dazu. Und wer jenes leugnet, leugnet der bloß die geoffenbarte Religion? Aber dieses bei Seite gesetzt; sehen Sie nur, wie listig er die ganze Streitfrage zu verändern weiß. Er gibt es stillschweigend zu, daß ein Mann ohne Religion Bewegungsgründe, rechtschaffen zu handeln, haben könne; und fragt nur, was für eine Versicherung haben[167] wir, daß er auch, wenn ihn heftige Leidenschaften bestürmen, wirklich so handeln werde, wo er nicht auch das und das glaubt? In dieser Frage aber, liegt weiter nichts, als dieses: daß die geoffenbarte Religion, die Bewegungsgründe, rechtschaffen zu handeln, vermehre. Und das ist wahr! Allein kömmt es denn bei unsern Handlungen, bloß auf die Vielheit der Bewegungsgründe an? Beruhet nicht weit mehr auf der Intension derselben? Kann nicht ein einziger Bewegungsgrund, dem ich lange und ernstlich nachgedacht habe, eben so viel ausrichten, als zwanzig Bewegungsgründe, deren jedem ich nur den zwanzigsten Teil von jenem Nachdenken geschenkt habe? Und wenn auch ein Mensch alles glaubet, was ihm die Offenbarung zu glauben befiehlt, kann man nicht noch immer fragen, was für eine Versichrung haben wir, daß ihn dennoch die Leidenschaften nicht verhindern werden, rechtschaffen zu handeln? Der Aufseher hat diese Frage vorausgesehen; denn er fährt fort: »Allein von einem Manne, der wirklich Religion hat, und entschlossen ist, die Verbindlichkeiten zu erfüllen etc.« Und entschlossen ist! Gut! Diese Entschlossenheit kann aber auch die bloßen Gründe der Vernunft, rechtschaffen zu handeln, begleiten.

Da ich zugegeben, daß die geoffenbarte Religion, unsere Bewegungsgründe, rechtschaffen zu handeln, vermehre: so sehen Sie wohl, daß ich der Religion nichts vergeben will. Nur auch der Vernunft nichts! Die Religion hat weit höhere Absichten, als den rechtschaffnen Mann zu bilden. Sie setzt ihn voraus; und ihr Hauptzweck ist, den rechtschaffnen Mann zu höhern Einsichten zu erheben. Es ist wahr, diese höhern Einsichten, können neue Bewegungsgründe, rechtschaffen zu handeln werden, und werden es wirklich; aber folgt daraus, daß die andern Bewegungsgründe allezeit ohne Wirkung bleiben müssen? Daß es keine Redlichkeit gibt, als diese mit höhern Einsichten verbundene Redlichkeit?

Vermuten Sie übrigens ja nicht, daß der »Nordische Aufseher« diese Behauptung, »wer kein Christ sei, könne auch kein ehrlicher Mann sein,« mit unsern Gottesgelehrten überhaupt gemein habe. Unsere Gottesgelehrten haben diese unbillige Strenge nie geäußert. Selbst das, was sie von den Tugenden[168] der Heiden sagen, kömmt ihr noch lange nicht bei. Sie leugnen nicht, daß dieser ihre Tugenden Tugenden sind; sie sagen bloß, daß ihnen die Eigenschaft fehle, welche sie allein Gott vorzüglich angenehm machen könne. Und will der Aufseher dieses auch nur sagen; will er bloß sagen, daß alle Rechtschaffenheit, deren ein natürlicher Mensch fähig ist, ohne Glauben vor Gott nichts gelte: warum sagt er es nicht mit deutlichen Worten; und warum enthält er sich des Worts Glaube, auf welches alles dabei ankömmt, so sorgfältig?

Es sind überhaupt alle seine theologischen Stücke von ganz sonderbarem Schlage. Von einem einzigen lassen Sie mich nur noch ein Paar Worte sagen. Von demjenigen89 nämlich, in welchem der Verfasser bestimmen will, »welche von allen Arten, über das erste Wesen zu denken, die beste sei?« Er nimmt deren drei an. »Die erste, sagt er, ist eine kalte, metaphysische Art, die Gott beinahe nur als ein Objekt einer Wissenschaft ansieht, und eben so unbewegt über ihn philosophieret, als wenn sie die Begriffe der Zeit oder des Raums entwickelte. Eine von ihren besondern Unvollkommenheiten ist diese, daß sie in den Ketten irgend einer Methode einhergehet, welche ihr so lieb ist, daß sie jede freiere Erfindung einer über Gottes Größe entzückten Seele fast ohne Untersuchung verwirft etc. Und weil wir durch diese Art von Gott zu denken, beinahe unfähig werden, uns zu der höhern, von der ich zuletzt reden werde, zu erheben, so müssen wir auf unsrer Hut sein, uns nicht daran zu gewöhnen. – Die zweite Art, fährt er fort, will ich die mittlere, oder um noch kürzer sein zu können, Betrachtungen nennen. Die Betrachtungen verbinden eine freiere Ordnung mit gewissen ruhigen Empfindungen, und nur selten erheben sie sich zu einer Bewunderung Gottes. etc. – Die dritte endlich ist, wenn die ganze Seele von dem, den sie denkt (und wen denkt sie?) so erfüllt ist, daß alle ihre übrige Kräfte von der Anstrengung ihres Denkens in eine solche Bewegung gebracht sind, daß sie zugleich und zu einem Endzweck wirken; wenn alle Arten von Zweifeln[169] und Unruhen über die unbegreiflichen Wege Gottes sich verlieren; wenn wir uns nicht enthalten können, unser Nachdenken durch irgend eine kurze Ausrufung der Anbetung zu unterbrechen; wenn, wofern wir drauf kämen, das, was wir denken, durch Worte auszudrücken, die Sprache zu wenige und schwache Worte dazu haben würde; wenn wir endlich mit der allertiefsten Unterwerfung eine Liebe verbinden, die mit völliger Zuversicht glaubt, daß wir Gott lieben können, und daß wir ihn lieben dürfen.«

Und diese letzte Art über Gott zu denken, wie Sie leicht erraten können, ist es, welche der Verfasser allen andern vorziehet. Aber was hat er uns damit neues gesagt? – Doch wirklich ist etwas neues darin. Dieses nämlich; daß er das denken nennt, was andere ehrliche Leute empfinden heißen. Seine dritte Art über Gott zu denken, ist ein Stand der Empfindung; mit welchem nichts als undeutliche Vorstellungen verbunden sind, die den Namen des Denkens nicht verdienen. Denn überlegen Sie nur, was bei einem solchen Stande in unserer Seele vorgeht, so werden Sie finden, daß diese Art über Gott zu denken, notwendig die schlechteste Art zu denken sein muß. Als diese ist sie von gar keinem Werte; als das aber, was sie wirklich ist, von einem desto größern. Bei der kalten Spekulation gehet die Seele von einem deutlichen Begriffe zu dem andern fort; alle Empfindung die damit verbunden ist, ist die Empfindung ihrer Mühe, ihrer Anstrengung; eine Empfindung, die ihr nur dadurch nicht ganz unangenehm ist, weil sie die Wirksamkeit ihrer Kräfte dabei fühlet. Die Spekulation ist also das Mittel gar nicht, aus dem Gegenstande selbst, Vergnügen zu schöpfen. Will ich dieses, so müssen alle deutliche Begriffe, die ich mir durch die Spekulation von den verschiedenen Teilen meines Gegenstandes gemacht habe, in eine gewisse Entfernung zurückweichen, in welcher sie deutlich zu sein aufhören, und ich mich bloß ihre gemeinschaftliche Beziehung auf das Ganze zu fassen, bestrebe. Je mehr diese Teile alsdenn sind? je genauer sie harmonieren; je vollkommner der Gegenstand ist: desto größer wird auch mein Vergnügen darüber sein; und der vollkommenste Gegenstand wird notwendig auch das größte Vergnügen in mir[170] wirken. Und das ist der Fall, wenn ich meine Gedanken von Gott in Empfindungen übergehen lasse.

Ich errege dem Verfasser keinen Wortstreit. Denn es ist kein Wortstreit mehr, wenn man zeigen kann, daß der Mißbrauch der Wörter auf wirkliche Irrtümer leitet. So sieht er es z.E. als einen großen Vorzug seiner dritten Art über Gott zu denken an, »daß, wofern wir darauf kämen, das was wir denken, durch Worte auszudrücken, die Sprache zu wenige und schwache Worte dazu haben würde.« Und dieses kömmt doch bloß daher, weil wir alsdenn nicht deutlich denken. Die Sprache kann alles ausdrücken, was wir deutlich denken; daß sie aber alle Nüancen der Empfindung sollte ausdrücken können, das ist eben so unmöglich, als es unnötig sein würde.

Doch dieser Irrtum ist bei ihm nur der Übergang zu einem größern. Hören Sie, was er weiter sagt: »Wofern man im Stande wäre, aus der Reihe, und daß ich so sage, aus dem Gedränge dieser schnellfortgesetzten Gedanken, dieser Gedanken von so genauen Bestimmungen, einige mit Kaltsinn herauszunehmen, und sie in kurze Sätze zu bringen: was für neue Wahrheiten von Gott würden oft darunter sein!« – Keine einzige neue Wahrheit! Die Wahrheit läßt sich nicht so in dem Taumel unsrer Empfindungen haschen! Ich verdenke es dem Verfasser sehr, daß Er sich bloß gegeben, so etwas auch nur vermuten zu können. Er steht an der wahren Quelle, aus welcher alle fanatische und enthusiastische Begriffe von Gott geflossen sind. Mit wenig deutlichen Ideen von Gott und den göttlichen, Vollkommenheiten, setzt sich der Schwärmer hin, überläßt sich ganz seinen Empfindungen, nimmt die Lebhaftigkeit derselben für Deutlichkeit der Begriffe, wagt es, sie in Worte zu kleiden, und wird, – ein Böhme, ein Pordage.

Jene erste kalte metaphysische Art über Gott zu denken, von welcher der Verfasser so verächtlich urteilet, daß er unter andern auch sagt: »Unterdes wird sich ein wahrer Philosoph, ich meine einen, den sein Kopf und nicht bloß die Methode dazu gemacht hat, bisweilen darauf einlassen, um sich durch die Neuheit zu verfahren, aufzumuntern:« Jene Art, sage ich, muß gleichsam der Probierstein der dritten, ich meine aller unsrer Empfindungen von Gott sein. Sie allein[171] kann uns versichern, ob wir wahre, anständige Empfindungen von Gott haben; und der hitzige Kopf, der sich nur bisweilen darauf einläßt, um sich, durch die Neuheit zu verfahren, aufzumuntern – von dem wollte ich wohl wetten, daß er nicht selten, eben am allerunwürdigsten von Gott denkt, wenn er am erhabensten von ihm zu denken glaubt.

G.


VI. Den 9. August 1759
Funfzigster Brief

»So bekannt gewisse Wahrheiten der Sittenlehre sind,« sagt der »Nordische Aufseher« an einem Orte, »so oft sie wiederholt und in so veränderten Arten des Vortrags sie auch ausgebreitet worden sind: So wenig dürfen sich doch Lehrer der Tugend und der wahren Glückseligkeit des Menschen von der Furcht, daß die Welt ihrer endlich überdrüssig und müde werden machte, zurückhalten lassen, ihr Andenken, so oft sie können, zu erneuern. Wenn sie dieses unterließen, und sich hüten wollten, nichts zu sagen, was nicht original und neu zu sein scheinen könnte: So würden sie dadurch eine unanständige Eitelkeit verraten. Man würde sie nicht ohne Grund beschuldigen dürfen, daß sie bei den Arbeiten ihres Geistes mehr die Bewunderung, als den Nutzen ihrer Leser zum Augenmerke hätten, und, indem sie sich Mühe gäben, die Neubegierde derselben zu beschäftigen, nur dem Stolze ihres Verstandes zu schmeicheln suchten. Ich hoffe, daß ich wider diesen gemeinen Fehler moralischer Schriftsteller auf meiner Hut sein werde.«90

Ja, das Lob muß man ihm lassen! Er ist wider diesen Fehler sehr auf seiner Hut gewesen. Nur tut er unrecht, daß er ihn einen gemeinen Fehler moralischer Schriftsteller nennt. Das Gegenteil desselben ist wenigstens ein eben so gemeiner Fehler. Und noch dazu mit diesem Unterschiede, daß jenes meistenteils der Fehler guter, und dieses der Fehler schlechter[172] Skribenten ist. Der gute Skribent will entweder ein vollständiges System der Moral liefern; und alsdenn würde er freilich sehr töricht handeln, wenn er sich nur auf diejenigen Wahrheiten einschränken wollte, welche original und neu scheinen könnten. Oder er hat eine freiere Absicht, und will sich bloß über diejenigen einzeln Wahrheiten auslassen, die ihm besonders wichtig dünken, und über die er am meisten nachgedacht zu haben glaubet. In diesem Falle hütet er sich sorgfältig, bekannte Wahrheiten und gemeinnützige Wahrheiten für einerlei zu halten. Er weiß, daß viel bekannte Wahrheiten nichts weniger als gemeinnützig, und viel gemeinnützige, oder doch solche die es werden können, nichts weniger als bekannt sind. Wenn er nun auf diese letzten, wie billig, sein vornehmstes Augenmerk richtet, so kann es nicht fehlen, er wird sehr oft original und neu nicht bloß scheinen, sondern wirklich sein. Der schlechte Skribent hingegen, der das Bekannteste für das Nützlichste hält, hofft vergebens, sich einzig durch seine gute Absicht lesenswürdig zu machen. Ist er nun vollends gar so schlecht, daß auch nicht einmal seine Einkleidungen der abgedroschensten Wahrheiten original und neu sind: was hat er denn noch, meine Neubegierde im geringsten zu reizen?

Um diese Einkleidungen, an welchen die moralischen Wochenblätter der Engländer so unerschöpflich sind, scheinet sich der »Nordische Aufseher« wenig bekümmert zu haben. Er moralisieret grade zu; und wenn er nicht noch dann und wann von erdichteten Personen Briefe an sich schreiben ließe? so würden seine Blätter ohne alle Abwechselung sein. Ich wüßte Ihnen nicht mehr als deren zwei zu nennen, von welchen es sich noch endlich sagen ließe, daß seine Erfindungskraft einige Unkosten dabei gehabt habe. Das eine91 ist eine Allegorie von dem Vorzuge der schönen Wissenschaften vor den schönen Künsten. Aber was ist auch die beste Allegorie? Und diese ist noch lange keine von den besten. Das zweite92 ist eine satyrische Nachricht von einer Art neuer Amazonen; und diese ist in der Tat mit vielem Geiste geschrieben. Sie[173] haben das Sinnreichste in dem ganzen »Nordischen Aufseher« gelesen, wenn Sie dieses Stück gelesen haben. Erlauben Sie mir also das Vergnügen, Ihnen die wesentlichsten Stellen daraus abzuschreiben.


»Die Gesellschaft der neuen Amazonen ist, so viel ich noch in Erfahrung bringen können, nicht zahlreich; unterdes ist sie doch sehr furchtbar, und zwar ihrer geheimen Unternehmungen wegen, die nach sichern Nachrichten auf nichts geringers, als auf die Errichtung eines Universaldespotismus abzielen. – Sie sollen aber ihre gewalttätigen Absichten weniger durch offenbare Feindseligkeiten, als durch die Künste einer sehr feinen Politik auszuführen suchen. Weil sie sich vorgesetzt haben, sowohl über die itzige, als über die künftige Männerwelt eine despotische Gewalt auszuüben, denn die Gewalt über die Herzen haben die Damen schon lange behauptet: So sollen ihre Anstalten besonders wider unsre jungen Herren gerichtet sein. Sie haben bemerkt, daß ein höherer Verstand allezeit über einen schwächern herrsche. In dieser Überzeugung suchen sie es bei ihnen so weit zu bringen, daß sie die Ausbildung ihres Geistes unterlassen, ihre Seele mit Kleinigkeiten beschäftigen, und dadurch zu den eigentlichen männlichen Geschäften und Angelegenheiten unfähig werden mögen. Sie selbst stellen sich an, als wenn man weder Vernunft noch Witz nötig hätte, ihnen zu gefallen; als wenn man ihnen mit ernsthaften und nützlichen Unterredungen überlästig würde; als wenn sie sich wirklich mit leeren Komplimenten, Artigkeiten und lächerlichen Einfällen befriedigen ließen; als wenn sie vor dem bloßen Namen eines Buches erschräken, und durch nichts, als Spielwerke glücklich wären. Allein das ist lauter Politik und List, und so scharfsichtige Augen, als die meinigen, lassen sich von dieser Verstellung nicht hintergehen. Ich betaure nur unsre jungen Herren, welche die Netze gar nicht zu sehen scheinen, die ihnen auf eine so feine Art gelegt werden. Um sie nach und nach ganz unmännlich zu machen, gewöhnen sie dieselben zum Geschmacke am Putze, zur Veränderung der Moden, und zu einer ganz frauenzimmerlichen Eitelkeit und Weichlichkeit. Und man muß erstaunen, wenn man sieht, wie sehr ihnen alle diese feindseligen Anschläge auf den Umsturz der itzigen Einrichtung der Welt zu gelingen anfangen. Denn man betrachte nur viele von unsern jungen Herren. Sie kleiden sich nicht etwa ordentlich und anständig; sie putzen sich und sind länger vor ihrem Nachttische, als die meisten Damen, sie sind so stolz auf einen gutfrisierten, wohlgepuderten Kopf, sie sind so weichlich; sie können so wenig Witterung und Kälte vertragen; sie haben sogar auch schon ihre Vapeurs und Humeurs, und wenn die Natur nur ihr Gesicht verändern wollte, so könnte man einige ganz füglich in Schnürleibern gehen lassen. Wissenschaft und Geschmack[174] zu haben, darauf machen viele gar keinen Anspruch, in guten Büchern zu lesen, würde eine Galeerenarbeit für sie sein und wenn sie nicht noch zuweilen mit wirklichen Männern zu tun hätten, so würden sie gar nichts mehr wissen. So weit haben es schon unsere Amazonen gebracht. Wie weit dieses noch in der Folge gehen könne, und ob nicht unsere Jünglinge mit der Zeit, wenn sie nicht bald auf ihre Verteidigung denken, Knötchen machen und ihren Strickbeutel mit in Gesellschaft werden bringen müssen, das will ich der Überlegung und Beurteilung aller nachdenkenden Leser überlassen.

Man darf eben nicht glauben, daß die Amazonen ihre Unternehmungen bloß auf unsere jüngere Welt einschränken. Einigen von ihnen, die verheiratet sind, soll es schon gelungen sein, den Despotismus, auf den ihre Anschläge abzielen, in ihren Häusern einzuführen. Denn ich habe in Erfahrung gebracht, daß sich Männer bequemt haben, die Verwaltung der Küche und andere wirtschaftliche Verrichtungen über sich zu nehmen, die man sonst nur unter die Geschäfte des Frauenzimmers gerechnet hat. Der demütige Mann hält es für seine Schuldigkeit und Ehre den Einkauf dessen, was in der Küche nötig ist, und die Anordnung der Mahlzeiten nach dem Geschmacke seiner hochgebietenden Amazone zu besorgen, und mit einigen soll es auch so weit schon gekommen sein, daß sie bei der Zubereitung der Speisen gegenwärtig sind, und einen Pudding oder Rostbeef so gut zu machen wissen, als die ausgelernteste Köchin. Man darf, um davon versichert zu werden, nur ein wenig in der Welt Achtung geben. Denn einige Männer haben an ihren neuen Geschäften so viel Geschmack gewonnen, daß sie ihre Gelehrsamkeit auch in Gesellschaften hören lassen etc.

Weil die Amazonen vorhersehen, daß sie, um ihr Projekt eines Universaldespotismus auszuführen, nicht allein Verschlagenheit und List, sondern auch die Stärke, die Kühnheit, die Dreistigkeit und Unerschrockenheit der Männer nötig haben möchten: so haben sie auch schon deswegen die nötigen Maßregeln genommen. Eben hieraus soll die so weit getriebene Entblößung einiger Frauenzimmer entspringen, denen andre bloß aus Unwissenheit und um modisch zu sein, nachfolgen. Man glaubt gemeiniglich, daß es geschehe, Reizungen zu zeigen, die billig verborgen bleiben sollten. Allein man irrt sich sehr, und ich habe die wahre Ursache entdeckt. Es geschiehet bloß, um sich an die Kälte zu gewöhnen, weil sie nicht wissen, ob sie nicht mit der Zeit genötigt sein möchten, Winterkampagnen zu tun.

Eben daher kömmt es, daß einige nicht mehr erröten, andere den jungen Herren und Männern so dreist ins Gesicht sehen, andere in der Komödie über die Zweideutigkeiten, bei deren Anhörung man sonst, wenn man auch lächelte, das Gesicht doch hinter den Fächer zu verbergen pflegte, so laut und dreist lachen, als die[175] kühnste und unverschämteste Mannsperson. Eben daher kömmt es auch, daß viele in den Beteuerungen so geschickt sind, die sich sonst die Kriegsmänner vorbehielten, und noch andere bis in die späteste Mitternacht wachen, um der gefährlichen Abendluft gewohnt zu werden.«


Ich will nicht untersuchen, ob dieser Einfall dem »Nordischen Aufseher« ganz eigen ist; genug er ist schön, und nicht übel, obgleich ein wenig zu schwatzhaft, ausgeführt. Viel Worte machen; einen kleinen Gedanken durch weitschweifende Redensarten aufschwellen; labyrinthische Perioden flechten, bei welchen man dreimal Atem holen muß, ehe man einen ganzen Sinn fassen kann: das ist überhaupt die vorzügliche Geschicklichkeit desjenigen von den Mitarbeitern an dieser Wochenschrift, der die meisten Stücke geschrieben zu haben scheinet. Sein Stil ist der schlechte Kanzelstil eines seichten Homileten, der nur deswegen solche Pneumata herprediget, damit die Zuhörer, ehe sie ans Ende derselben kommen, den Anfang schon mögen vergessen haben, und ihn deutlich hören können, ohne ihn im geringsten zu verstehen. – Ich kenne nur einen einzigen geistlichen Redner itzt in unserer Sprache, der noch tollere Perioden macht. Vielleicht unterhalte ich Sie einmal von ihm. –

Itzt aber lassen Sie mich Ihnen noch den Beweis vorlegen, wie unbeschreiblich schwatzhaft der »Nordische Aufseher« oft ist. Es wird mir Mühe kosten, die Stelle, die ich in dieser Absicht anführen muß, abzuschreiben; aber ein Fehler, wenn er zu einer ungewöhnlichen Größe getrieben worden, ist doch ein merkwürdiges Ding; ich will mich die Mühe also immer nicht verdrießen lassen. Der Aufseher will in dem zweiten Stücke von der Fähigkeit, die Glückseligkeit andrer zu empfinden, reden und fängt an: »Derjenige, dessen Geist in den kleinen Bezirken seiner persönlichen und häuslichen Vorteile eingeschränkt bleibt, und unfähig zur Empfindung andrer Glückseligkeiten ist, die nicht aus den Vergnügen der Sinne, aus der Befriedigung eigennütziger Leidenschaften, oder aus dem Glücke seiner Familie entspringen, kömmt mir wie ein Mensch vor, der ein kurzes und blödes Gesicht hat.« – Das Gleichnis ist gut; aber nun hören Sie, wie schülerhaft[176] er es ausdehnt. – »Der Kurzsichtige kennt die Natur weder in ihrer Größe, noch in ihrer vollen Schönheit und Pracht; er sieht dieselbe, so zu sagen, nur im kleinen und nicht einmal deutlich! Was entbehrt er nicht, und wie wenig faßt sein Auge von den unzählbaren und bis ins Unendliche veränderten Wundern der Schöpfung! Wie unzählbare, mannichfaltige Aussichten, die ein stärkeres Auge mit einem fröhlichen Erstaunen betrachtet, sind für ihn, als wären sie gar nicht in der Natur, und wer kann die herrlichen und entzückenden Auftritte alle zählen, die von ihm ungesehen und unbewundert vorübergehen? Die Sonne hat für ihn weniger Licht und der Himmel weniger Gestirne, und wie viel Schönheiten verlieret er nicht auf der Erde? Wenn andre Augen, die in die Weite reichen, in der Entfernung tausend große und herrliche Gegenstände auf einmal und ohne Verwirrung übersehen, und mit einem Blicke in dieser Weite Anhöhen und fruchtbare Täler, und in jener Entfernung blühende Wiesen und einen weit gestreckten Wald entdecken, so erblickt er kaum die Blumen, die unter seinen Füßen aufwachsen, und selbst von diesen bleiben ihm mannichfaltige Reizungen verborgen, die ein schärferes Auge in ihrem künstlichen Gewebe wahrnimmt. Alles ist vor ihm, wie mit einem Nebel überzogen; ganze Gebürge verlieren sich in seinen Augen in Hügel; stolze Paläste bei einem gewissen Abstande von ihm in Dorfhütten, und vielleicht ganze Landschaften in einen grünen, mit einigen Gebüschen durchwachsenen Grasplatz. Dem bessern Auge hingegen ist ein jeder Teil der Materie bevölkert, und ihm wimmelt vielleicht ein jedes Laub von Einwohnern, wenn dem Kurzsichtigen die Natur fast eine Wüste, einsam und leer von Bewegung und Leben zu sein scheinet! Wie unvollkommen müssen nicht seine Vorstellungen von der Größe, Ordnung, und Vollkommenheit der Natur, von ihrer angenehmen Mannichfaltigkeit und Kunst bei ihrer so erhabenen Einfalt und Gleichförmigkeit, und von ihrer bis zur Unbegreiflichkeit bewundernswürdigen Harmonie in allen ihren unzählbaren Abwechslungen sein, und wie unglücklich ist er nicht, wenn er nicht mehr erraten, als sehen, und seinem schwachen Gesichte nicht mit seinem Verstande zu Hülfe[177] kommen kann! Er muß mit seinen Freuden zu geizen wissen, wenn er mit ihrem kleinen Vorrate auskommen will, da derjenige, welcher gute Augen gut zu gebrauchen weiß, im Genusse fast verschwendrisch sein mag, indem er sich nur umsehen darf, um im Überflusse neue Reizungen, neue Schönheiten und Belustigungen zu entdecken.« –

Noch nicht aus? – Ja; nun ist es einmal aus, das ewige Gleichnis! Der Aufseher fährt fort: »Eben so ist es mit denjenigen beschaffen etc.« und, Gott sei Dank, wir sehen wieder Land! Was sagen Sie dazu? Gibt es bei allen guten und schlechten Skribenten wohl ein ähnliches Exempel, wo man, über das Gleichnis, die Sache selbst so lange und so weit aus dem Gesichte verlieret?

G.

VII. Den 16. August 1759
Ein und funfzigster Brief

In das Feld der schönen Wissenschaften und der Kritik ist der »Nordische Aufseher« nur selten übergegangen.

Von den drei eingerückten Oden, die ohne Zweifel den Herrn Cramer selbst zum Verfasser haben, (die eine auf die Geburt,93 die andere auf das Leiden des Erlösers,94 und die dritte auf den Geburtstag des Königs,95) von diesen verlangen Sie mein Urteil nicht; das weiß ich schon. Herr Cramer ist der vortrefflichste Versificateur; dafür erkennen wir ihn beide. Daß aber sein poetisches Genie, wenn man ihm überhaupt noch ein poetisches Genie zugestehen kann, sehr einförmig ist, das haben wir oft beide betauert. Wer eine oder zwei von seinen so genannten Oden gelesen hat, der hat sie ziemlich alle gelesen. In allen findet sich viel poetische Sprache, und die beneidenswürdigste Leichtigkeit zu reimen; aber auch allen mangelt der schöne versteckte Plan, der auch die kleinste Ode des Pindars und Horaz zu einem so sonderbaren Ganzen macht. Sein Feuer ist, wenn ich so reden darf,[178] ein kaltes Feuer, das mit einer Menge Zeichen der Ausrufung und Frage, bloß in die Augen leuchtet.

Es kommen aber noch zwei andere Gedichte vor, die meine Aufmerksamkeit ungleich mehr an sich gezogen haben. Das Klopstockische Siegel ist auf beiden; und das läßt sich so leicht nirgends verkennen. Von dem einen zwar, welches ein geistliches Lied96 auf die Auferstehung des Erlösers ist, weiß ich auch nicht viel sonderliches zu sagen. Es ist, – wie des Herrn Klopstocks Lieder alle sind; so voller Empfindung, daß man oft gar nichts dabei empfindet. Aber das zweite ist desto merkwürdiger. Es sind Betrachtungen über die Allgegenwart Gottes, oder vielmehr, des Dichters ausgedrückte Empfindungen über dieses große Objekt. Sie scheinen sich von selbst in symmetrische Zeilen geordnet zu haben, die voller Wohlklang sind, ob sie schon kein bestimmtes Sylbenmaß haben. Ich muß eine Stelle daraus anführen, um Ihnen einen deutlichern Begriff davon zu machen.


Als du mit dem Tode gerungen,

Mit dem Tode!

Heftiger gebetet hattest!

Als dein Schweiß und dein Blut

Auf die Erde geronnen war;

In der ernsten Stunde

Tatest du jene große Wahrheit kund,

Die Wahrheit sein wird,

So lange die Hülle der ewigen Seele

Staub ist!

Du standest, und sprachest

Zu den Schlafenden:

Willig ist eure Seele;

Allein das Fleisch ist schwach.

Dieser Endlichkeit Los,

Diese Schwere der Erde,

Fühlt auch meine Seele,

Wenn sie zu Gott, zu Gott![179]

Zu dem Unendlichen!

Sich erheben will!

Anbetend, Vater, sink ich in Staub und fleh!

Vernimm mein Flehn, die Stimme des Endlichen!

Mit Feuer taufe meine Seele,

Daß sie zu dir sich, zu dir, erhebe!

Allgegenwärtig, Vater, umgibst du mich! – –

Steh hier, Betrachtung, still, und forsche

Diesem Gedanken der Wonne nach!


Und dieses vorbereitende Gebet ist der Anfang des Gedichts selbst. Ein würdiger Anfang! Aber wenn ich Ihnen sagen sollte, was ich denn nun aus dem Folgenden, von der Allgegenwart Gottes mehr gelernt, als ich vorher nicht gewußt; welche von meinen dahin gehörigen Begriffen, der Dichter mir mehr aufgeklärt; in welcher Überzeugung er mich mehr bestärket: so weiß ich freilich nichts darauf zu antworten. Eigentlich ist das auch des Dichters Werk nicht. Genug, daß mich eine schöne, prächtige Tirade, über die andere, angenehm unterhalten hat; genug, daß ich mir, während dem Lesen, seine Begeisterung mit ihm zu teilen, geschienen habe: muß uns denn alles etwas zu denken geben?


Ich hebe meine Augen auf, und sehe,

Und siehe, der Herr ist überall!

Erde, aus deren Staube

Der erste der Menschen geschaffen ward,

Auf der ich mein erstes Leben lebe!

In der ich verwesen,

Aus der ich auferstehen werde!

Gott, Gott würdigt auch dich,

Dir gegenwärtig zu sein!

Mit heilgem Schauer

Brech ich die Blum ab!

Gott machte sie!

Gott ist, wo die Blum' ist!

Mit heilgem Schauer

Fühl ich das Wehn,

Hier ist das Rauschen der Lüfte![180]

Er hieß sie wehen und rauschen,

Der Ewige!

Wo sie wehen, und rauschen,

Ist der Ewige!

Freu dich deines Todes, o Leib!

Wo du verwesen wirst

Wird der Ewige sein!

Freu dich deines Todes, o Leib!

In den Tiefen der Schöpfung,

In den Höhen der Schöpfung,

Werden deine Trümmern verwehn!

Auch dort, Verwester, Verstäubter,

Wird er sein der Ewige!

Die Höhen werden sich bücken!

Die Tiefen sich bücken!

Wenn der Allgegenwärtige nun

Wieder aus Staube Unsterbliche schafft!

Halleluja dem Schaffenden!

Dem Tötenden Halleluja!

Halleluja dem Schaffenden!


In diesem stürmischen Feuer ist das ganze Stücke geschrieben. – Aber was sagen Sie zu der Versart; wenn ich es anders eine Versart nennen darf? Denn eigentlich ist es weiter nichts als eine künstliche Prosa, in alle kleinen Teile ihrer Perioden aufgelöset, deren jeden man als einen einzeln Vers eines besondern Sylbenmaßes betrachten kann. Sollte es wohl nicht ratsam sein, zur musikalischen Komposition bestimmte Gedichte in diesem prosaischen Sylbenmaße abzufassen? Sie wissen ja, wie wenig es dem Musikus überhaupt hilft, daß der Dichter ein wohlklingendes Metrum gewählet, und alle Schwierigkeiten desselben sorgfältig und glücklich überwunden hat. Oft ist es ihm so gar hinderlich, und er muß, um zu seinem Zwecke zu gelangen, die Harmonie wieder zerstören, die dem Dichter so unsägliche Mühe gemacht hat. Da also der prosodische Wohlklang entweder von dem musikalischen verschlungen wird, oder wohl gar durch die[181] Kollision leidet, und Wohlklang zu sein aufhöret; wäre es nicht besser, daß der Dichter überhaupt für den Musikus in gar keinem Sylbenmaße schriebe, und eine Arbeit gänzlich unterließe, die ihm dieser doch niemals danket? – Ja ich wollte noch weiter gehen, und diese freie Versart so gar für das Drama empfehlen. Wir haben angefangen, Trauerspiele in Prosa zu schreiben, und es sind viel Leser sehr unzufrieden damit gewesen, daß man auch diese Gattung der eigentlichen Poesie dadurch entreißen zu wollen scheinet. Diese würden sich vielleicht mit einem solchen Quasi-Metro befriedigen lassen; besonders wenn man ihnen sagte, daß z. E. die Verse des Plautus nicht viel gebundener wären. Der Skribent selbst behielte dabei in der Tat alle Freiheit, die ihm in der Prose zustatten kömmt, und würde bloß Anlaß finden, seine Perioden desto symmetrischer und wohlklingender zu machen. Wie viel Vorteile auch der Schauspieler daraus ziehen könnte, will ich itzt gar nicht erwähnen; wenn sich nämlich der Dichter bei der Abteilung dieser freien Zeilen nach den Regeln der Deklamation richtete, und jede Zeile so lang oder kurz machte, als jener jedesmal viel oder wenig Worte in einem Atem zusammen aussprechen müßte. etc.

Das einzige Stück des »Nordischen Aufsehers«, welches in die Kritik einschlägt, ist das sechs und zwanzigste, und handelt von den Mitteln, durch die man den poetischen Stil über den prosaischen erheben könne und müsse. Es ist sehr wohl geschrieben, und enthält vortreffliche Anmerkungen. – Gleich Anfangs merket der Verfasser an, daß keine Nation weder in der Prose noch in der Poesie vortrefflich geworden ist, die ihre poetische Sprache nicht sehr merklich von der prosaischen unterschieden hätte. Er beweiset dieses mit dem Exempel der Griechen, Römer, Italiener und Engländer. Von den Franzosen aber sagt er: »Die Franzosen, welche die Prose der Gesellschaften, und was derselben nahe kömmt, mit der meisten Feinheit und vielleicht am besten in Europa schreiben, haben ihre poetische Sprache unter allen am wenigsten von der prosaischen unterschieden. Einige von ihren Genies haben selbst über diese Fesseln geklagt, die sich die Nation von ihren Grammaticis und von ihren Petitsmaiters[182] hat anlegen lassen. Unterdes würde man sich sehr irren, wenn man glaubte, daß ihre Poesie gar nicht von ihrer Prose unterschieden wäre. Sie ist dieses bisweilen sehr; und wenn sie es nicht ist: so haben wir wenigstens das Vergnügen, da, wo wir bei ihnen den poetischen Ausdruck vermissen, schöne Prose zu finden: ein Vergnügen, das uns diejenigen unter den Deutschen selten machen, welche an die wesentliche Verschiedenheit der poetischen und der prosaischen Sprache so wenig zu denken scheinen.« – Er kömmt hierauf auf die Mittel selbst, wodurch diese Verschiedenheit erhalten wird. Das erste ist die sorgfältige Wahl der Wörter. Der Dichter muß überall die edelsten und nachdrücklichsten Wörter wählen. Unter die letztern zählet er auch diejenigen, die mit Geschmack zusammen gesetzt sind. »Es ist, sagt er, der Natur unserer Sprache gemäß, sie zu brauchen. Wir sagen so gar im gemeinen Leben: Ein gottesvergeßner Mensch. Warum sollten wir also den Griechen hierin nicht nachahmen, da uns unsere Vorfahren schon lange die Erlaubnis dazu gegeben haben?« – Das zweite Mittel bestehet in der veränderten Ordnung der Wörter; und die Regel der zu verändernden Wortfügung ist diese: Wir müssen die Gegenstände, die in einer Vorstellung am meisten rühren, zu erst zeigen. »Aber nicht allein die Wahl guter Wörter, fährt der Verfasser fort, und die geänderte Verbindung derselben unterscheiden den poetischen Perioden von dem prosaischen. Es sind noch verschiedene von denen anscheinenden Kleinigkeiten zu beobachten, durch welche Virgil vorzüglich geworden ist, was er ist. Ich nehme an, daß die Wörter des Perioden und die Ordnung derselben, der Handlung, die der Periode ausdrücken soll, gemäß sind. Aber gleichwohl gefällt er noch nicht genug. Hier ist eine Redensart, wo nur ein Wort sein sollte. Und nichts tötet die Handlung mehr, als gewisse Begriffe in Redensarten ausdehnen. Es kann auch bisweilen das Gegenteil sein. Hier sollte eine glückliche Redensart stehen. Der Gedanke erfordert diese Ausbildung. Dort sind die Partikeln langweilig, welche die Glieder des Perioden fast unmerklich verbinden sollten. Sie sinds unter andern, wenn sie zu viel Sylben haben. Ein: dem ungeachtet könnte die schönste[183] Stelle verderben. Sie sinds ferner, wenn sie da gesetzt werden, wo sie, ohne daß die Deutlichkeit oder der Nachdruck darunter litte, wegbleiben konnten. Das doch, mit dem man wünscht, gehört vornehmlich hierher. In einer andern Stelle stand die Interjektion nicht, wo sie stehen sollte. Das Ach fing den Perioden an; und es hätte glücklicher vor den Wörtern gestanden, welche die Leidenschaften am meisten ausdrücken. Ein andermal hat der Verfasser nicht gewußt, von welcher Kürze, und von welcher Stärke das Participium gewesen sein würde. Darauf hat er es wieder gesetzt, wo es nicht hingehörte.«

Schließen Sie aus dieser Stelle, wie viel feine Anmerkungen und Regeln der Verfasser in einen kleinen Raum zu konzentrieren gewußt hat. Ich möchte gern allen unsern Dichtern empfehlen, dieses Stück mehr als einmal zu lesen; es mit allem Fleiße zu studieren. Es würde jeder alsdenn wohl von selbst finden, wenn und wie diese oder jene allgemeine Regel des Verfassers eine Ausnahme leiden könne und müsse. Die sorgfältige Wahl der edelsten Wörter, z. E. leidet alsdenn einen großen Abfall, wenn der Dichter nicht in seiner eignen Person spricht. In dem Drama besonders, wo jede Person, so wie ihre eigene Denkungsart, also auch ihre eigne Art zu sprechen haben muß. Die edelsten Worte sind eben deswegen, weil sie die edelsten sind, fast niemals zugleich diejenigen, die uns in der Geschwindigkeit, und besonders im Affekte, zu erst beifallen. Sie verraten die vorhergegangene Überlegung, verwandeln die Helden in Declamatores, und stören dadurch die Illusion. Es ist daher sogar ein großes Kunststück eines tragischen Dichters, wenn er, besonders die erhabensten Gedanken, in die gemeinsten Worte kleidet, und im Affekte nicht das edelste, sondern das nachdrücklichste Wort, wenn es auch schon einen etwas niedrigen Nebenbegriff mit sich führen sollte, ergreifen läßt. Von diesem Kunststücke werden aber freilich diejenigen nichts wissen wollen, die nur an einem korrekten Racine Geschmack finden, und so unglücklich sind, keinen Shakespeare zu kennen.

E.

VIII. Den 23. August 1759
Zwei und funfzigster Brief

[184] Ich kann Ihnen nicht Unrecht geben, wenn Sie behaupten, daß es um das Feld der Geschichte in dem ganzen Umfange der deutschen Literatur, noch am schlechtesten aussehe. Angebauet zwar ist es genug; aber wie? – Auch mit Ihrer Ursache, warum wir so wenige, oder auch wohl gar keinen vortrefflichen Geschichtschreiber aufzuweisen haben, mag es vielleicht seine Richtigkeit haben. Unsere schönen Geister sind selten Gelehrte, und unsere Gelehrte selten schöne Geister. Jene wollen gar nicht lesen, gar nicht nachschlagen, gar nicht sammlen; kurz, gar nicht arbeiten: und diese wollen nichts, als das. Jenen mangelt es am Stoffe, und diesen an der Geschicklichkeit ihrem Stoffe eine Gestalt zu erteilen.

Unterdessen ist es im Ganzen recht gut, daß jene sich gar nicht damit abgeben, und diese sich in ihrem wohlgemeinten Fleiße nicht stören lassen. Denn so haben jene am Ende doch nichts verdorben, und diese haben wenigstens nützliche Magazine angelegt, und für unsere künftige Livios und Tacitos Kalk gelöscht und Steine gebrochen.

Doch nein, – lassen Sie uns nicht ungerecht sein; – verschiedene von diesen haben weit mehr getan. Es ist eine Kleinigkeit, was einem Bünau, einen Mascau zu vollkommenen Geschichtsschreibern fehlen würde, wenn sie sich nicht in zu dunkele Zeiten gewagt hätten. Wem kann hier, wo die Quellen oft gar fehlen, oft so verderbt und unrein sind, daß man sich aus ihnen zu schöpfen scheuen muß; hier, wo man erst hundert Widersprüche zu heben und hundert Dunkelheiten aufzuklären hat, ehe man sich nur des kahlen, trockenen Faktums vergewissern kann; hier, wo man mehr eine Geschichte der streitigen Meinungen und Erzählungen von dieser oder jener Begebenheit, als die Begebenheit selbst vortragen zu können, hoffen darf: wem kann hier auch die größte Kunst zu erzählen, zu schildern, zu beurteilen, wohl viel helfen? Er müßte sich denn kein Gewissen machen, uns seine Vermutungen für Wahrheiten zu verkaufen, und die[185] Lücken der Zeugnisse aus seiner Erfindung zu ergänzen. Wollen Sie ihm das wohl erlauben? O weg mit diesem poetischen Geschichtschreiber! Ich mag ihn nicht lesen; Sie mögen ihn auch nicht lesen, als einen Geschichtschreiber wenigstens nicht; und wenn ihn sein Vortrag noch so lesenswürdig machte!

Überhaupt aber glaube ich, daß der Name eines wahren Geschichtschreibers nur demjenigen zukömmt, der die Geschichte seiner Zeiten und seines Landes beschreibet. Denn nur der kann selbst als Zeuge auftreten, und darf hoffen, auch von der Nachwelt als ein solcher geschätzt zu werden, wenn alle andere, die sich nur als Abhörer der eigentlichen Zeugen erweisen, nach wenig Jahren, von ihres gleichen gewiß verdrungen sind. Ich betaure daher oft den mühsamen Fleiß dieser letztern; besonders derjenigen von ihnen, die sich, vermöge ihres Amtes, einer so undankbaren Arbeit unterziehen, und Gebauers bleiben müssen, wenn sie Thuani werden könnten. Die süße Überzeugung von dem gegenwärtigen Nutzen, den sie stiften, muß sie allein wegen der kurzen Dauer ihres Ruhmes schadlos halten. Und kann ein ehrlicher Mann mit dieser Schadloshaltung auch nicht zufrieden sein?

Genug dieser allgemeinen Betrachtungen! Ich komme auf das neue Werk selbst, welches sie eigentlich veranlasset hat. Seinen Verfasser habe ich bereits genennet. Es ist der verdiente Gelehrte, den Sie schon aus seiner Geschichte des Kaiser Richards kennen müssen. Jetzt hat er uns eine »Portugiesische Geschichte« geliefert.97

Sie würden mich auslachen, wenn ich meinen Brief mit einem umständlichen Auszuge derselben anfüllen wollte. Was könnten Sie neues daraus lernen? Und ist Ihr Gedächtnis nicht so glücklich, daß es auch nicht einmal darf aufgefrischet[186] werden? Kaum verlohnet es sich der Mühe, Ihnen von dem Werke überhaupt nur so viel zu sagen, daß es aus den akademischen Vorlesungen des Verfassers über seinen »Grundriß zu einer umständlichen Historie der vornehmsten europäischen Reiche und Staaten« entstanden, und in zwei Teile abgesondert ist, deren fünf Abteilungen folgende Aufschrift haben. I. Abt. Von den ältesten Nachrichten vor Einrichtung des Königreichs. II. Abt. Vom Anfange des Reichs bis zum Ausgange des echten königlichen Stammes. III Abt. Von dem Ausgange des echten Stammes bis auf die Vereinigung mit Spanien. IV. Abt. Von der Vereinigung mit Spanien bis auf die Erhebung des Hauses Braganza. V. Abt. Von den Königen aus dem Hause Braganza bis itzo.

Aber das würde Ihnen vielleicht nicht unangenehm sein, wenn ich Sie mit dieser oder jener einzeln Begebenheit, auf die unser Verfasser einen vorzüglichen Fleiß gewendet hat, unterhielte? Es wäre der nächste Weg, Sie zugleich selbst von seinem Vortrage, und von der sorgfältigen Art in seinen Untersuchungen zu Werke zu gehen, urteilen zu lassen. Und kenne ich nicht auch Ihren Geschmack? Kühne Unternehmungen; sonderbare Unglücksfälle, die einen großen Mann treffen etc. –

O ich müßte mich sehr irren, oder Sie haben sich, als Sie nun auf die Portugiesische Historie kamen, bei der Geschichte des unglücklichen Königs Sebastian, am längsten, am liebsten verweilet. – Der junge Sebastian, wie Sie sich erinnern werden, brannte vor Begierde, sich mit den Ungläubigen in Afrika zu versuchen. Er ließ sich nicht lange bitten, dem vertriebenen Könige von Marokko, Muley Mahomet, in eigner Person beizuspringen. Er ging mit einem ansehnlichen Heere, so sehr es ihm auch seine Freunde, so sehr es ihm auch der eben am Himmel drohende Komete zu widerraten schienen, am Johannistage 1578 unter Segel; setzte das Heer bei Arzilla ans Land, und ging auf l'Arache los. Auf diesem Wege kam es in der Ebene von Alcassarquivir mit dem feindlichen Heere des Muley Molucco, zur Schlacht. Sebastian und seine Portugiesen erlitten die schrecklichste Niederlage, und er selbst – blieb. So ging wenigstens die gemeine Rede.[187]

Aber wie, wenn er da nicht geblieben wäre? Wie, wenn ein weit empfindlicher Schicksal auf ihn gewartet hätte? – Sie erinnern sich doch noch auch, daß nach und nach vier Pseudo-Sebastiane aufstunden, als Spanien bereits das Königreich Portugal an sich gerissen hatte? Die ersten drei waren offenbare Betrieger, und erhielten ihren verdienten Lohn. »Der vierte hingegen, sagt unser Skribent, wußte sein Tun so scheinbar zu machen, daß es wohl zweifelhaft bleiben wird, ob er nicht der wahre Sebastian gewesen. –

Er kam, fähret Herr Gebauer fort,98 zu Venedig An. 1598 zum Vorscheine, und nachdem er daselbst nicht allein bei dem gemeinen Volke, sondern auch bei etlichen vornehmen Personen Glauben fand, zumal da einige Portugiesen, die den König Sebastian wohl gekannt hatten, vor gewiß versicherten, daß er in dem Gesichte, in der Größe, in der Rede, demselben vollkommen gleiche, ward ihm dergestalt unter die Arme gegriffen, daß er sich seinem Stande gemäß aufzufahren anfing, und kein Bedenken hatte, sich vor den öffentlich auszugeben, den er vorstellte. Darüber bewegte sich der spanische Gesandte zu Venedig, Dominicus Mendoza, und brachte es bei dem Rate zu Venedig dahin, daß er in Haft genommen, und über seine Umstände, und wer er sei, befragt wurde. Da erzählte er umständlich, wie er in dem unglücklichen Treffen bei Alcassar in Afrika nicht sei erschlagen worden, sondern ob wohl hart verwundet, der Gefangenschaft wunderbarer Weise entgangen sei. In Algarbien, wohin er auf einem leichten Schifflein mit Christoval von Tavora übergesetzt, hätte er sich heilen lassen, und weil er des Anblicks der Menschen nach einem so großen Unglücke sich gescheuet und geschämet, habe er sich vorgenommen, Abessinien und andere weit entlegene Reiche und Lande zu besuchen. Auf dieser seiner Fahrt sei er nach Persien gekommen, habe mancherlei Schlachten beigewohnet, und viele Wunden empfangen; endlich sei er des Herumziehens müde worden, und habe sich mit einem frommen Alten in Georgien in ein einsames Kloster begeben, und daselbst ein Kläusnerleben[188] geführet, bis ihm endlich gefallen, seine Untertanen wieder zu sehen. Auf dieser Rückreise habe er erst in Sizilien gelandet, und von da Marcum Tullium Catizo von Cosenza nach Portugal abgefertiget, und als der nicht wieder kommen, habe er sich selbst auf den Weg gemacht, der Meinung, sich zuförderst zu Rom dem Pabste zu den Füßen zu werfen. Daran habe ihn die Bosheit seiner eigenen Leute verhindert, die ihn unterwegens beraubt, so daß er sich nach Venedig begeben müssen, wo man ihn bald vor denjenigen erkannt, der er wirklich sei. Das war nun geschwinde gesagt, aber es fehlte der Beweis, den man aber doch nach der Strenge von ihm nicht fodern konnte. Er sagte mit großer Freimütigkeit, daß er zu dem Rate zu Venedig sich des Besten versehe, der sich wohl erinnern würde, was er vor Briefe bei dem letzten Türkenkriege an sie geschrieben, und wie geneigt er sich wegen der Hülfe gegen sie erboten habe. Wer ihn, den König je gesehen habe, müßte ihn kennen. Zu dessen Bestärkung ward befunden, daß er, gleich dem Könige, in dem Gesichte sowohl, als an seinem ganzen Leibe an der linken Seite etwas kürzer war, als an der rechten; an seiner rechten Augenbraune war eine Narbe zu sehen von einer Wunde, wie bei König Sebastian, der solche in seiner Kindheit bekommen hatte; eine große Warze an der Fußzehe und andere Male, die man bei dem Könige wahrgenommen hatte, fanden sich bei diesem Sebastian auch. Er ward drei ganzer Jahre lang in der Haft behalten, und immittelst bewegten die geflüchteten Portugiesen Himmel und Erde, daß ihr König ihnen möchte frei gegeben werden. Selbst König Heinrich IV. in Frankreich, ließ durch seinen Gesandten, den Herrn du Fresne, den Rat zu Venedig bitten, sie möchten in der Sache sprechen, und die Portugiesen nicht im Irrtume lassen. Das Erkenntnis bestund nun darin, daß dieser Mann binnen acht Tagen das Venetianische Gebiete räumen sollte, bei ewiger Galeerenstrafe. Nun überlegten die Portugiesen fleißig, was vor einen Weg ihr König erwählen sollte, um sicher in sein Königreich zu gelangen, ob er durch Graupünden und die Schweiz, oder durch das Florentinische seinen Weg nehmen sollte. Zu seinem großen Unglücke erwählte[189] er den letztern. Er hatte kaum als ein Dominikaner Münch das Florentinische Gebiet betreten, als er daselbst erwischt, und von dem Großherzoge Ferdinand dem I. an die Spanier nach Neapel ausgeliefert wurde. Da gingen die Untersuchungen von neuem an, zu großer Verwunderung derer, die ihn des Betruges überführen wollten. Als ihn der spanische Unterkönig, Don Ferdinand Ruiz von Castro, Graf von Lemos, vor sich kommen ließ, trat er ihm mit großer Zuversicht unter die Augen, und weil er sahe, daß der Graf unbedeckt war, sprach er zu ihm: decket Euch, Graf von Lemos. Als dieser erwiderte, wer ihm die Macht gegeben habe, ihn mit solcher Kühnheit anzureden? soll er versetzt haben: diese Macht sei mit ihm geboren; wie er sich denn selbst so anstellen dürfe, als wenn er ihn nicht kenne? er müsse sich doch erinnern, daß sein Vetter, der König Philipp, ihn zweimal an ihn abgesandt habe, und daß der Degen, den er an seiner Seite habe, ihm damals von ihm sei geschenkt worden. Andere sagen, er habe ihn nur erinnert, daß er damals den Grafen mit einem Degen, seine Gemahlin aber mit einem Juwel beschenkt habe. Weil dies nun an sich seine Richtigkeit gehabt, habe der Graf ein ganz Bund seiner Degen, und die Juwelen seiner Gemahlin in das Zimmer bringen lassen, da unser Sebastian nicht allein die rechten Stücke gleich erkannt, und unter den andern herausgenommen, sondern auch an dem Juwel ihm gewiesen, wie man dasselbe an einem gewissen Orte eröffnen, und den darunter verborgenen Namen Sebastian, entdecken könne, welches Kunststück bisher dem Grafen und seiner Gemahlin verborgen gewesen. Der Ausgang war, daß man den Sebastian als einen Betrieger auf einen Esel setzte, ihn in Neapel schimpflich herumführte, sodann aber auf die Galeeren bringen ließ. Als er sich der Spanischen Küste näherte, ward alles in Portugal rege, so daß man ihn nach St. Lucar auf das Schloß setzen mußte, um seiner Person mehr versichert zu sein, an welchem Orte er geblieben und gestorben, ohne daß die Art seines Todes jemals recht bekannt worden.«

Dieses ist die Geschichte! Dabei aber läßt es unser Verfasser nicht bewenden, sondern stellet eine umständliche[190] Untersuchung darüber an, welche ein Meisterstück in ihrer Art ist. Es kömmt hierbei, sagt er, auf zwei Fragen an; »ob der Tod des König Sebastians dergestalt in der Gewißheit beruhe, daß man keine Ursache habe, daran weiter zu zweifeln, und wenn diese erste Frage sollte nicht können bejahet werden, ob jedoch der vierte Sebastian unter diejenigen billig gezählt werde, welche unter einem falschen Namen in der Welt eine große Rolle spielen wollen, oder ob auch dies im Zweifel beruhe.«

Kann man das erste mit Zuverlässigkeit erweisen, ist Sebastian bei Alcassar gewiß geblieben, so ist das zweite zugleich entschieden. Aber, leider, kann man jenes nicht, und aus allen Zeugnissen erhellet weiter nichts, als daß man den König eine Wunde in den Kopf bekommen und von seinem Pferde herab sinken sehen. Die Leiche, die man für die königliche, den Tag nach der Schlacht, aufgehoben, ist viel zu zerfetzt und verunstaltet gewesen, als daß sie hätte kenntbar sein können. Und haben sie gleich verschiedene von des Königs Leuten, besonders ein Sebastianus Resendius, in Gegenwart des Muley Hamet wirklich dafür erkannt, so läßt sich doch mit unserm Gebauer sehr wohl darauf antworten: »Es war wohl nichts natürlicher, als dieser Beifall. Wer hätte in des barbarischen Königs Gegenwart mit dem Resendio darüber wollen einen Streit anfangen, da nachdenkliche Leute leicht begreifen konnten, daß es dem Könige, wenn er sollte der Gefahr entflohen, oder auch unter den übrigen geringern Gefangenen annoch verborgen sein, allemal zuträglicher sei, daß man auf Mohrischer Seite seinen Tod glaube, als daß ihm nachgesetzt, oder sonst weiter nachgespüret werde.« – Es ist auch nicht zu leugnen, daß sogleich ein Ruf entstanden, der von der Walstatt aufgehobene Körper sei nicht der wahre Körper des Sebastians, sondern der Körper eines Schweizers. Die Märchen übrigens, welche, nach dem Ferreras und Thuanus, die Vermutung, als ob der König aus der Schlacht entkommen sei, fälschlich veranlaßt haben sollen, sind ohne alle Wahrscheinlichkeit.


Die Fortsetzung künftig[191]


IX. Den 30. August 1759
Beschluß des 52sten Briefes

Und folglich läßt sich aus diesem Punkte, der anmaßliche Sebastian nicht verdammen. Aber, wenn man ihn selbst näher betrachtet, findet sich auch da keine Spur des Betruges? Keine; und hundert außerordentliche Umstände sind alle für ihn. – Er ist in den Händen der Dieci, oder der Zehnherren, zu Venedig. Sie kennen diesen strengen peinlichen Gerichtshof, dieses erschreckliche Fehmgerichte, dessen erste Regel es ist: correre alla pena, prima di esaminar la colpa. Dieses Gerichte läßt ihn drei ganze Jahre sitzen, kann in drei ganzen Jahren nichts auf ihn bringen, ob gleich die Spanier, während der Zeit, es nicht werden haben ermangeln lassen, ihm alles an die Hand zu geben, wodurch sich, hinter die Bosheit eines so listigen Feindes kommen zu können, nur einigermaßen hoffen ließ. Und da man es ihm endlich so nahe legt, daß es seinen Urteilsspruch nicht länger verweigern kann; was erkennet es? Eigentlich nichts; es will aber den Unglücklichen los sein, und befiehlt ihm, binnen acht Tagen das Venetianische Gebiete zu räumen. Binnen acht Tagen! »Das sieht, sagt unser Historicus, eher einem Verfahren ähnlich, mit dem man verunglückten Staatsdienern, oder unangenehmen Gesandten begegnet, als der Weise, nach welcher man mit schuldig erkannten Missetätern verfähret, die man durch die Gerichtsfolgen an die Grenzen bringen, und von da in die weite Welt laufen läßt.« – Es war den Venetianern hernach auch gar nicht gleichgültig, daß der Großherzog von Florenz ihren Verwiesenen anhielt, und an die Spanier auslieferte; denn der Kardinal von Ossat schreibt in einem seiner Briefe ausdrücklich, daß sie es für eine starke Beleidigung aufgenommen haben. – Nun ist er in Neapel. Aber auch da muß man ihn nicht haben überführen können; denn warum wäre man sonst glimpflicher mit ihm umgegangen, als mit den drei vorhergehenden Betriegern, die man alle eines schimpflichen Todes sterben ließ?

Ich würde Sie ermüden, wenn ich unserm Verfasser durch[192] alle kleine Umstände dieser Untersuchung folgen wollte; so interessant sie auch bei ihm selbst ist. Es ist wahr, er hätte sie ungleich interessanter machen können, wenn er nur ein klein wenig besser zu schreiben wüßte, und nicht überall den dozierenden Professor so sehr hören ließe. Aber sind wir nicht darüber schon einig geworden, daß wir unsern Gelehrten überhaupt daraus keinen Vorwurf machen wollen? Genug daß er sich überall, als den belesensten, als den sorgfältigsten und unparteiischsten Mann zeiget.

»Als den unparteiischsten? Was könnte einen Deutschen auch wohl bewegen, in einer Portugiesischen Geschichte parteiisch zu sein?« – Das könnten Sie mir nun wohl einwerfen! Aber doch glaube ich, daß sich ein Mann, der parteiisch sein kann, auch in gleichgültigen Dingen verrät. Er ist immer geneigt, sich geradezu zu erklären, und urteilet da allezeit selbst, wo er bloß seine Leser sollte urteilen lassen. – Auch gebe ich das noch nicht zu, daß in der Portugiesischen Geschichte gar nichts vorkomme, wobei ein Deutscher, aus diesem oder jenem Vorurteile, sollte es auch nur die Liebe zu seinem Volke sein, zur Parteilichkeit gereizet werden könnte.

Z.E. Wenn er von des Königs Johannes des zweiten eifrigen Bemühungen zur Aufnahme der Schiffahrt redet, gedenket er des bekannten Martin Beheims, der ihm sehr ersprießliche Dienste dabei geleistet habe. Nun wissen Sie, was verschiedene patriotische Gelehrte von diesem Nürenbergischen Geschlechter behaupten wollen; daß nämlich er, der erste wahre Entdecker der neuen Welt zu nennen sei. Sie stützten sich dabei vornehmlich auf die Zeugnisse des Ricciolus und Benzonus. Jener gibt zu verstehen, daß Beheim den Kolumbus vielleicht auf die Spur geholfen habe; und dieser sagt mit ausdrücklichen Worten,99 daß Magellanus die in der Folge[193] nach ihm genannte Meerenge, aus einer Seekarte des Beheims habe kennen lernen. Ist es also einem Deutschen wohl zu verdenken, daß er hier einem Stüven und Doppelmayer beitritt, und mit dem Verfasser der Progrès des Allemands etc. Triumph ruft, daß seine Landesleute nicht allein die Druckerei und das Pulver, sondern auch die neue Welt entdeckt haben? Aber hören Sie, was dem ohngeachtet unser Historicus hiervon sagt:100 »Ob übrigens Martin Beheim die neue Welt entdeckt habe, ja gar das Fretum Magellanicum gekannt, wie jenes Joh. Bapt. Ricciolus,101 dieses aber Hieron. Benzonus bejahet, dünket mich eine sehr ungewisse Sache zu sein. Wenn Hartmann Schedel in seiner lateinischen Chronik schreibet, daß er und Jacobus Canus (der Kongo entdecket hat) über die Äquinoktiallinie hinaus und so weit gefahren, daß ihr Schatten, wenn sie gegen Osten zugesehen, ihnen zur rechten Hand gefallen; mag daraus noch nicht geschlossen werden, daß sie bis nach Amerika gekommen. Das erfährt jedermann, der nur über die Linie hinaus ist. Die alten Urkunden, welche Wülfer, Wagenseil, Stüven und Doppelmayer angezogen, sprechen davon nichts; und die größte Schwierigkeit finde ich in der an. 1492 von Beheim verfertigten Weltkugel, in welchem Jahre Kolumbus schon auf der Fahrt gewesen. Der Herr Doppelmayer hat diese Erdkugel in Kupfer vorgestellet, und je länger ich sie betrachte, je weniger finde ich, daß er den obbemeldeten großen Erfindern, Christophoro Columbo und Ferdinando Magellani ihren bisher gehabten Ruhm zweifelhaft machen können.« – – Und[194] an einem andern Orte102 fügt er noch dieses hinzu: »Kolumbus hat also die neue Welt, Vesputius aber das eigentliche Amerika entdeckt, oder doch in der alten Welt zuerst recht bekannt gemacht. Wir Deutsche, die wir sonst recht große Erfinder sind, haben hier keinen Teil, nachdem Martin Beheims Verdienste hier nicht zulangen wollen, und müssen diese Ehre den Genuesern und Florentinern überlassen, es wäre denn, daß wir dieses vor unsere Ehre rechnen wollten, daß dieser vierte Teil der Welt dennoch einen deutschen Namen führet. Amerigo oder Americus ist nichts anders als der gute deutsche Name Emrich, und Amerika folglich so viel als Emrichsland.«

Nach dieser unstreitigen Probe einer rühmlichen Unparteilichkeit, erlauben Sie mir, Ihnen auch noch eine Probe zu geben, wie weit unser Verfasser auch in Kleinigkeiten seine sorgfältige Untersuchung treibet. Ich wähle aber eine Stelle dazu, wo er dem ohngeachtet nicht auf den rechten Grund gekommen ist. Sie enthält die Geschichte eines bon-mot!

Herr Gebauer erzählt in dem Texte von dem Vater des itztregierenden Königs von Portugal, Johann dem fünften, daß er gegen seines Adel vielmals gesagt: »König Johann der vierte liebte euch, Don Pedro fürchtete sich für euch; allein ich, der ich Herr bin de jure et heredad, fürchte mich nicht für euch; und werde euch nicht lieben, als in so ferne euch eure Aufführung meiner königlichen Achtbarkeit würdig machet.« – In einer Note aber fügt er folgendes hinzu: »Da ich neulicher Zeit die Memoires pour servir à l'Histoire de Madame de Maintenon, die voller sonderlichen Nachrichten sind, wieder durchlaufe, bemerke ich eine Stelle, der ich hiebei gedenken muß. Es wird T. III. c. 4 von der Wiederrufung des berühmten Edikts von Nantes gehandelt, und gemeldet, daß der Erzbischof zu Paris, de Harley, der Bischof zu Meaux, Bossuet, und des Königs Beichtvater, der P. de la Chaise, König Ludwig dem XIV. in Frankreich, nachdem er angefangen fromm zu werden, die Ausrottung des Ungeheuers, das sechs seiner Vorfahren niederzulegen nicht vermocht[195] hätten, dergestalt angepriesen, daß er sich endlich beredet habe, das wahre Mittel seine Sünden zu tilgen sei, wenn er sein ganzes Reich katholisch mache. Das sei so weit gegangen, daß er gegen den Mr. De Ruvigni eines Tages sich herausgelassen habe, er wolle zufrieden sein, daß eine seiner Hände die andere abhaue, wenn die Ketzerei dadurch könne ausgerottet werden. Dieser Mr. de Ruvigni ist der berühmte Marquis von Ruvigni, Heinrich, der bei der hernach entstandenen Verfolgung mit einigen wenigen Personen erlanget, daß er mit seinem Hause das Königreich hat verlassen, und sich nach England begeben dürfen. Histoire de l'Edit de Nantes par Benoit T. III. P. II. p. 898. Er hat sich hernach in dem Irländischen, und Spanischen Sukzessionskriege unter dem Namen des Grafen von Galloway hervorgetan, zu welcher Würde ihn König William III. erhoben. Eben dieser Herr soll dem König Ludewig XIV. die Vorstellung getan haben, daß König Heinrich IV. oberwähntes Edikt gegeben, Ludewig XIII. solches erhalten, er selber es bestätiget habe, und dennoch dasselbe alle Tage durch die Erklärungen des Königlichen Rats gebrochen werde, worauf der König soll geantwortet haben: Mon grand Pere vous aimoit, mon Pere vous craignoit; pour moi, je ne vous crains ni ne vois aime. Mein Großvater liebte euch, mein Vater fürchtete euch, aber ich, ich fürchte euch nicht und liebe euch nicht. Wobei unten die geschriebenen Memoires des Bischofs von Agen angezogen werden, und der lateinische Vers beigefüget wird:


Vos dilexit avus, metuit pater, at ego neutrum.


Es wäre doch was sonderliches, wenn zween so große Könige einerlei Einfall gehabt hätten. Die Ehre der ersten Erfindung hätte König Ludewig; denn er soll das noch vor der Aufhebung des Edikts von Nantes gesprochen haben, zu welcher Zeit König Johannes von Portugal noch nicht geboren war. Daß aber dieser das sollte gewußt haben, was König Ludewig in Frankreich so lange Zeit vorher dem Marquis von Ruvigni soll gleichsam in das Ohr gesprochen haben, und solches sollte auf seine Umstände angewandt haben, ist schlechterdings unglaublich. Und bei reiferer Überlegung wird man bald merken,[196] daß das bon-mot sich besser auf König Johann und seine Großen, als auf König Ludwig und seine Hugonotten schicke. Es braucht also dies einen bessern Beweis, als noch vorhanden, zumal da bekannt, daß den Französischen Skribenten nicht ungewöhnlich ist, bei einem artigen Einfall über die historische Wahrheit weg zu schreiten. Wenigstens hat König Ludwig XIV. den lateinischen Vers nicht gebraucht, vielweniger gemacht, da er kein Wort Latein gekonnt, wie die Beweistümer davon in eben diesen Memoires de Maintenon anzutreffen sind. etc.«

Ich bin im Stande, ein Teil von den Schwierigkeiten zu lösen, die sich unser Historicus hier macht, und die er sich gewiß nicht würde gemacht haben, wenn er gewußt hätte, daß Johann V. und Ludwig XIV. ihren sinnreichen Einfall beide aus einer Quelle haben schöpfen können. Lesen Sie nämlich, was ich von Heinrich dem vierten, zufälliger Weise, gefunden habe. Quelques uns se plaignoient que le Roy ne tiendroit point ce qu'il avoit promis aux Huguenots, sçavoir, ne feroit publier les Edicts faits en leur faveur, là où le Roy Henry le troisième son predecesseur leur avoit toujours tenu parole: il leur respondit: c'est aultre chose; le Roy Henry vous craignoit et ne vous aimoit pas; mais moi je vous aime et ne vous crains pas. Diese Stelle stehet unter den Apophthegmes de Henry le Grand, so wie sie Zinkgräf dem zweiten Teile seiner denkwürdigen Reden beigefügt und übersetzt hat. Was erhellet aber unwidersprechlicher daraus, als daß Ludwig XIV. zu dieser wirklich königlichen Rede seines Großvaters, aufs höchste nur den elenden Schwanz erfunden hat. Heinrich der vierte sagte: Mein Vorfahr fürchtete euch und liebte euch nicht; ich aber liebe euch, und fürchte euch nicht: und Ludewig XIV. fühlte sich groß genug – keines von beiden zu tun; und fromm genug – die sein Großvater geliebt hatte, zu hassen. Ein großer Verstand; ein in der Familie vom Vater auf den Sohn geerbtes Sprüchelchen so zu erweitern! Dazu hat er es auch noch verfälscht. Denn das ist zwar wahr, daß sein Vater Ludewig XIII. einfältig genug war, sich sowohl für alles, als für nichts zu fürchten; gleichwohl aber waren unter seiner Regierung die Hugonotten nichts weniger[197] als gefährlich, und sie spielten die große Rolle bei weitem nicht mehr, die sie unter dem dritten Heinrich gespielet hatten, von welchem sein Nachfolger mit Recht sagen konnte, daß er sie fürchten müssen. – Und was hindert, daß auch Johann V. diese Rede des großen Heinrichs nicht sollte gelesen haben?

G.


X. Den 7. September 1759
Drei und funfzigster Brief

Ich lief das sehr ansehnliche Verzeichnis der Schriften durch, die Herr Gebauer alle bei seinem Werke gebraucht oder angezogen hat; und vermißte von ohngefähr eine Kleinigkeit, von welcher ich gleichwohl gewünscht hätte, daß sie ihm bekannt geworden wäre. –

Sie wissen, welche Unruhen in Portugal auf die Nachricht von dem Tode des Sebastians folgten. Der Kardinal Heinrich war zu alt, war zu blödsinnig, und regierte zu kurze Zeit, als daß er das Königreich bei seinem Tode nicht in der äußersten Verwirrung hätte lassen sollen. Unter denen, welche Ansprüche auf den erledigten Thron machten, war Don Antonio einer der vornehmsten, und wie Sie sich erinnern werden, der einzige, welcher sich der Usurpation des Königs von Spanien auf eine tätliche Weise widersetzte. Diesen Herrn hat unser Historicus nun zwar nicht unter die Zahl der wirklichen Könige von Portugal gerechnet, wie es wohl die französischen und englischen Geschichtschreiber zu tun pflegen; er scheinet aber doch alles sorgfältig genug gesammelt zu haben, um uns auch diesen Durchlauchtigen Unglücklichen so kennen zu lehren, als er von der unparteiischen Nachwelt gekannt zu werden verdienet. –

Nun hat des Don Antonio Leben unter andern auch die Frau Gillot de Sainctonge beschrieben; und diese kleine Lebensbeschreibung ist es, von welcher ich mich wundere, daß sie dem Herrn Gebauer entwischen können. Der Amsterdamer Nachdruck, den ich davon vor mir habe, ist 1696 ans[198] Licht getreten, und das Pariser Original kann, vermute ich, nicht viel älter sein. – Ich kenne diese Verfasserin sonst aus einigen mittelmäßigen Gedichten, und würde eine historische Geburt von ihr schwerlich eines Anblicks gewürdiget haben, wenn sie sich nicht, gleich auf dem Titel derselben, einer besondern Quelle und eines Währmannes rühmte, der alle Achtung verdienet. Sie versichert nämlich, sich der »Memoires« des Gomes Vasconcellos de Figueredo bedienet zu haben.103 Von diesem Manne ist es bekannt, daß er und sein Bruder die allergetreusten Anhänger des Don Antonio gewesen sind. Den letztern erkennet Herr Gebauer selbst dafür. Nur möchte er vielleicht fragen; aber wie kommen diese Memoires in die Hände der von Sainctonge? Sie wäre nicht die erste Nouvellenschreiberin, die sich dergleichen geheimer Nachrichten fälschlich gerühmt hätte. Ich selbst würde der bloßen Versichrung einer schreibsüchtigen Französin hierin wenig trauen; aber überlegen Sie diesen Umstand: eben der Gomes Vasconcellos de Figueredo, auf welchen sich die Frau von Sainctonge beruft, war ihr Großvater. Warum soll man einer Enkelin nicht glauben, wenn sie gewisse Handschriften von ihrem Großvater geerbt zu haben vorgibt? Und wenn das, was sie daraus mitteilet, an und vor sich selbst nicht unglaublich ist, noch mit andern unverdächtigen Zeugnissen streitet, was kann ein Historicus wider sie einwenden?

Erlauben Sie mir also, Ihnen in diesem Briefe verschiedenes daraus ausziehen zu dürfen, was diese und jene Stelle bei unserm Gebauer berichtigen oder in ein größers Licht setzen kann.

Vorher aber ein Wort von der Parteilichkeit der Fr. von Sainctonge. Die eheliche Geburt des Don Antonio ist bei ihr außer Zweifel. Ihr zu Folge hatte sein Vater, der Herzog Ludewig von Beja, es ausdrücklich in seinem Testamente bekannt, daß die Mutter des Antonio ihm wirklich, obgleich heimlich angetraut gewesen sei.104 Gleichwohl sagt sie an[199] einem andern Orte, daß sich Antonio selbst, bis zu seiner Zurückkunft aus Afrika, bloß für einen natürlichen Sohn des Herzog Ludewigs gehalten habe.105 Wenn dieses seine Richtigkeit hat, so kann jenes nicht wahr sein. Herzog Ludewig starb 1555, und die Zurückkunft des Antonio fällt in das Jahr 1568. Sollte Antonio ganzer dreizehn Jahr von dem Testamente seines Vaters nichts erfahren haben? Kurz, dieser Umstand ist falsch. Ludewig setzte den Antonio zwar zu seinem völligen Erben ein, aber diese Einsetzung beweiset für seine eheliche Geburt so viel als nichts. Wäre in dem Testamente ihrer gedacht gewesen, so würde man keinen weitern Beweis gefordert haben, den die Freunde des Antonio doch hernach umständlich führen mußten. – Was meine Geschichtschreiberin von dem Tode des Kardinal Heinrichs sagt, beweiset ihre unbedachtsame Parteilichkeit noch mehr. Der Kardinal starb in seinem 68sten Jahre, und sie sagt selbst: il etoit vieux et usé, c'en devoit etre assez pour faire juger qu'il n'iroit pas loin. Warum läßt sie es also nicht dabei? Warum läßt sie uns, außer dem Alter und der Krankheit, noch eine andere Ursache seines Todes argwohnen? Doch was argwohnen? Sie sagt mit trockenen Worten: Quelques Historiens disent que Philippes trouva le secret de l'empecher de languir.106 Philippus erbarmte sich des kranken Heinrichs, und ließ ihn aus der Welt schaffen. Wenn sie doch nur einen von den Geschichtschreibern genennt hätte, die dieses sagen! Herr Gebauer wenigstens führt keinen an, dem diese grausame Beschuldigung eingekommen wäre; und ich sorge, die Fr. von Sainctonge wird die unselige Urheberin derselben bleiben.

So etwas macht ihr nun zwar keine Ehre; doch muß sie auch darum nicht lauter Unwahrheiten geschrieben haben. Das worin man ihr am sichersten trauen kann, sind ohne Zweifel die Nachrichten, die sie uns von dem Bruder ihres Großvaters gibt, und die Herr Gebauer bei folgender Stelle sehr wohl würde haben brauchen können. »In den Azorischen Inseln, sonderlich auf Tercera, hatte sich ein Ruf ausgebreitet,[200] König Sebastian sei nicht erschlagen, sondern entkommen, und werde sich bald seinen treuen Untertanen wieder zeigen. Als hierauf Antonius des König Heinrichs Tod und seine Erhebung denen auf Tercera wissen ließ, waren sie dessen wohl zufrieden, und ob sie gleich durch ihre Abgeordnete des Antonii Niederlage bei Alcantara und Flucht erfuhren, blieben sie doch in der Treue gegen ihren angebornen König beständig, zumal da Cyprian von Figueredo, ein standhafter Diener von dem unglückseligen Antonio, sie bei diesen Gedanken erhielt, und Petrus Valdes mit seinen Spaniern in einer Landung unglücklich war.«107 – Herr Gebauer ist hier, wider seine Gewohnheit sehr concis, und führt auch, welches er sehr selten zu tun pflegt, ganz und gar keinen Währmann an. Er würde aber ohne Zweifel die Fr. von Sainctonge hier angeführt haben, wenn er sie gekannt hätte. Wenigstens würde er ihr in dem Vornamen des Figueredo gefolgt sein, welches eben der obgedachte Bruder ihres Großvaters war. Denn diese Kleinigkeit hat sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, richtiger wissen müssen, als alle andere Skribenten. Sie nennet ihn Scipio Vasconcellos de Figueredo; und nicht Cyprian. Er war, sagt sie,108 Gouverneur auf Tercera, und hatte sich für den Antonio erkläret, ohne im geringsten auf die Vorschläge, die ihm der König von Spanien durch den Prinzen von Eboly, Ruy Gomes, tun ließ, hören zu wollen. Philipp II. brauchte also gegen ihn Ernst, und bemächtigte sich vors erste aller Güter, die er in Portugal hatte. Die Expedition aber, die er hierauf dem Petrus Valdes wider ihn auftrug, war nicht die einzige, welche Figueredo durch seinen standhaften Mut fruchtlos machte. Valdes oder, wie ihn die Frau von Sainctonges ohne Zweifel nicht so richtig nennet, Balde, war ein von sich selbst so eingenommener Mann, daß er glaubte, der Sieg könne ihm gar nicht fehlen. Er konnte sich nicht einbilden, daß man einen Augenblick gegen ihn bestehen könne, und behauptete doch, als es zur Tat kam, die Ehre seiner Nation sehr schlecht. Er ward gänzlich geschlagen, und kam, mit Schande und Verwirrung über[201] häuft, nach Portugal zurück. Philippus ließ ihn noch dazu in Verhaft nehmen, weil er ihm zur Last legte, daß er sich ohne seinen Befehl ins Treffen eingelassen habe; und Valdes bedurfte der kräftigsten Vorsprache aller seiner Freunde, um der ihm drohenden Gefahr zu entkommen. – Das Jahr darauf wurde ein zweiter Versuch auf Tercera unternommen, welcher noch unglücklicher ablief. Herr Gebauer scheinet von diesem gar nichts zu wissen; die Frau von Sainctonge aber erzählet folgendes davon: Der Gouverneur (Figueredo) habe so wenig Soldaten übrig gehabt, daß ein minder unerschrockener Mann als er, eher an eine vorteilhafte Kapitulation, als an die Verteidigung würde gedacht haben. Seinen Mut aber habe nichts erschüttern können; und er sei auf eine List gefallen, die von sehr guter Wirkung gewesen. Er habe nämlich eine große Anzahl Ochsen aus dem Gebirge kommen, und sie an dem Tage der Schlacht, mit brennenden Lunten auf ihren Hörnern, mitten unter dem kleinen Haufen seiner Truppen forttreiben lassen. Die Spanier, die einen sehr schwachen Feind vor sich zu finden geglaubt hätten, wären durch den Schein betrogen worden; sie hätten mit einer überlegenen Macht zu tun zu haben vermeinet, und daher mit so weniger Ordnung gestritten, daß auch eine gemeine Tapferkeit zureichend gewesen sein würde, sie zu überwinden. Das Metzeln sei erschrecklich gewesen; von allen spanischen Soldaten wären nur zwei entkommen, die sich in ein paar hohle Weiden verkrochen gehabt. Diese zwei hätten losen müssen, und der, den das glückliche Los getroffen, habe die Nachricht von dieser schrecklichen Niederlage nach Portugal überbringen müssen.109

So glücklich nun aber Figueredo in Tercera war, so hielt es doch Antonio für noch vorteilhafter, wenn er einen so tapfern Mann beständig um sich haben könnte. Er ließ ihn folglich nach Frankreich überkommen, und vertraute Tercera dem Emanuel von Sylva an. Die Frau von Sainctonge beklagt sich, daß verschiedene Geschichtschreiber aus dieser Veränderung geschlossen hätten, Antonio müsse mit dem[202] Scipio nicht zufrieden gewesen sein, und führet dagegen eine Stelle aus einem Briefe des Antonio an den Pabst Gregorius XIII. an, worin er seiner Treue und Tapferkeit völlige Gerechtigkeit widerfahren läßt.

Nach den Erzählungen des Herrn Gebauers muß man glauben, daß sich Antonio, nachdem er sein Portugal verlassen müssen, beständig in Frankreich aufgehalten habe. Der Fr. von Sainctonge zu Folge aber, hat er sich weit öfter und länger in England aufgehalten. Seine erste Reise dahin tat er sogleich nach seiner glücklichen Entkommung aus dem Reiche, von Calais aus, wohin ihn das Enkhäusische Schiff gebracht hatte. Sie fällt in das Jahr 1581 und ich finde, daß Camden in seinem Leben der Königin Elisabeth, wie auch, aus ihm, Rapin, ihrer unter diesem Jahre gedenken. Zu seiner zweiten Reise nach England, brachten ihn die Nachstellungen, welchen er von Seiten des Königs von Spanien, während den Unruhen der Ligue, in Frankreich ausgesetzt war. Sie muß in dem Jahre 1585 geschehen sein, und die Frau von Sainctonge erzählet uns einen merkwürdigen Umstand davon, den sie aus den eigenhändigen Memoires des Don Antonio gezogen zu haben versichert. »Die Königin Elisabeth, sagt sie, lud ihn auf das inständigste ein, zu ihr nach England zu kommen. Er tat es also, und ward auf eine sehr galante Weise daselbst empfangen. Die Königin hatte eine große Anzahl von den Edelleuten ihres Hofes sich in Schäfer verkleiden lassen, und schickte sie ihm, bis auf die Höhe von Salisbury entgegen, mit dem Vermelden, daß er sich von der großen Schäferin des Landes allen möglichen Beistand zu versprechen habe. In allen Städten, wo er durch mußte, hielt man ihm den prächtigsten Einzug, so daß man ihn eher für einen Sieger, als für einen seiner Länder beraubten König hätte ansehen sollen.« – Dieser sein zweiter Aufenthalt in England dauerte bis in das Jahr 1590. Die Angelegenheiten von Frankreich hatten durch den Tod Heinrichs III. eine andere Gestalt gewonnen, und Don Antonio glaubte sich nunmehr von Heinrich dem vierten einen nachdrücklichen Beistand versprechen zu dürfen. Heinrich war damals zu Dieppe, und Don Antonio kam zu ihm herüber. Allein der[203] König dünkte sich selbst auf seinem Throne noch nicht so befestiget genug, daß er sich mit fremden Händeln abgeben könnte. Don Antonio kehrte also zwar unverrichteter Sache, aber doch mit vielen Versprechungen auf eine bequemere Zukunft, wieder nach England, wo er bis ins Jahr 1594 blieb, da ihm Heinrich IV. durch seinen Gesandten, den Herrn Beauvais la Nocle versichern ließ, daß er, wenn er nach Frankreich kommen wollte, nunmehr sehr willkommen sein werde. Er ging also nach Calais über, und von da zu dem Könige nach Chartres. Heinrich bezeigte sich ungemein willig, ihm zu dienen; ließ ihm auch durch den Marschall de Matignon sagen, daß wenn er bei seiner (Heinrichs) Krönung mit gegenwärtig sein wollte, man ihm nicht allein den Vortritt dabei lassen, sondern ihn auch mit allem, was er zu dieser Zeremonie brauchen würde, versehen wollte. Don Antonio ließ sich aber mit seinem kurzen Atem entschuldigen, der ihm keinen Augenblick Ruhe gönne, und ging nach Paris, wohin ihm auch der König bald drauf folgte. Hier lag Antonio den König sehr an, ihm mit einer Summe von 26000 Talern beizuspringen; weil aber Heinrich sein bares Geld gegenwärtig selbst brauchte, so erlaubte er ihm, auf seinen Namen Geld zu borgen, und versprach es das folgende Jahr wieder zu geben. Clermont d'Amboise war bereits ernennt, die Truppen zu kommandieren, die der König dem Antonio geben wolle. Doch das Schicksal hatte es anders beschlossen, und der unglückliche Antonio starb. – Alles dieses erzählet die Frau von Saintonge, und es kann zu einer guten Ergänzung des Herrn Gebauers dienen, bei dem man, wie gesagt, auch nicht die geringste Spur findet, daß sich Antonio in England aufgehalten habe. – Was meinen Sie aber, ob es wohl Heinrichen IV. jemals ein wahrer Ernst gewesen ist, dem Antonio zu helfen, oder ob auch er eitel genung war, ihn bloß deswegen aus England kommen zu lassen, um seine Krönung durch die Gegenwart einer solchen Person glänzender zu machen? –

Das Besonderste was ich sonst bei der Frau von Saintonge finde, sind verschiedene Anekdoten, die Nachkommen des Don Antonio betreffend. Vornehmlich erzählt sie ein Liebesabenteur,[204] welches Don Ludewig, des Antonio Enkel, in Italien gehabt, sehr weitläuftig. Die Dame aber, mit welcher er es gehabt, weil er sie endlich geheiratet, kann keine andere sein, als die Prinzessin von Montelcone, mit der er sich, zu Folge der Histoire Genealogique de la Maison Royale de France, verbunden hat; wobei es mich aber wundert, daß sie die Frau von Saintonge schlechtweg une Dame Italienne nennet, und von ihrem Stande sehr kleine Begriffe erwecket. Damals muß sich Don Ludewig auch dem spanischen Gehorsame noch nicht unterworfen gehabt haben; denn der Vizekönig von Neapel war sehr erfreut, seiner habhaft zu werden. Er muß seine Ansprüche erst spät, mit seinem Vater dem Don Emanuel, aufgegeben haben, von welchem letztern die Frau von Saintonge auch meldet, daß er ein Kapuziner gewesen, ehe er diesen schimpflichen Schritt getan habe.

G.

80

Der nordische Aufseher, herausgegeben von Johann Andreas Cramer. Erster Band. Sechzig Stück. Kopenhagen und Leipzig bei Ackermann. 3 Alphab. 12 Bogen.

81

Stück 46. 47. 48.

82

Stück 50.

83

Stück 9 und 22.

84

Stück 21.

85

Stück 24. 29.

86

Stück 34. 36. 38. 40.

87

Stück 52.

88

St. XI.

89

Stück XXV.

90

Zu Anfange des XX. Stücks.

91

Stück XLIII.

92

Stück LIV.

93

Stück LIX.

94

Stück XV.

95

Stück XVIII.

96

Stück XVI.

97

George Christian Gebauers Portugiesische Geschichte von den ältesten Zeiten dieses Volks, bis auf die itzigen Zeiten, mit genealogischen Tabellen und vielen Anmerkungen versehen, in denen die Belege und allerhand Untersuchungen der historischen Wahrheiten anzutreffen sind. Leipzig in der Fritschischen Handlung, 1759. In Quart, an drei Alphabet.

98

Seite 19 des zweiten Teils.

99

Hujus Freti observatio Magellano tribuenda est, nam reliquarum navium praefecti, fretum esse negabant, et sinum duntaxat esse censebant. Magellanus tamen fretum istic esse norat quia ut fertur, in charta marina adnotatum viderat, descripta ab insigni quodam Nauclero cui Nomen Martinus Bohemus, quam Lusitaniae Rex in suo Musaeo adservabat. Benzonus de India occidentali. Tom. IV. Americae Theodori de Bry.

100

Erster Band, S. 124 in der Anmerkung.

101

Herr Gebauer hätte nicht sagen sollen, daß es Ricciolus bejahe. Er läßt es sehr ungewiß. Die Stelle ist diese: Christophorus Columbus – cum prius in Madera Insula, ubi conficiendis ac delineandis chartis Geographicis vacabat, sive suopte ingenio, ut erat vir Astronomiae, Cosmographiae et Physices gnarus, sive indicio habito a Martino Bohemo, aut ut Hispani dictitant, ab Alphonso Sanchez de Helva nauclero, qui forte inciderit in Insulam postea Dominicam dictam, cogitasset de navigatione in Indiam occidentalem etc. Geographiae et Hydrograph. Reform. Lib. III. cap. 22. P.93.

102

Ebendaselbst S. 139.

103

Histoire de Dom Antoine Roy de Portugal; tirée des Memoires de Dom Gomes Vasconcellos de Figueredo par Mad. de Saintonge. In Duodez.

104

S. 18.

105

S. 26.

106

S. 31. 32.

107

S. 4. 5. des zweiten Bandes.

108

S. 60 und 3.

109

S. 75. 76.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 5, München 1970 ff., S. 160-205.
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