Gotthold Ephraim Lessing

Daß mehr als fünf Sinne

für den Menschen sein können

  • 1) Die Seele ist ein einfaches Wesen, welches unendlicher Vorstellungen fähig ist.

  • 2) Da sie aber ein endliches Wesen ist, so ist sie dieser unendlichen Vorstellungen nicht auf einmal fähig, sondern erlangt sie nach und nach in einer unendlichen Folge von Zeit.

  • [557] 3) Wenn sie ihre Vorstellungen nach und nach erlangt, so muß es eine Ordnung geben, nach welcher, und ein Maß, in welchem sie dieselbe erlangt.

  • 4) Diese Ordnung und dieses Maß sind die Sinne.

  • 5) Solcher Sinne hat sie gegenwärtig fünfe. Aber nichts kann uns bewegen zu glauben, daß sie Vorstellungen zu haben so fort mit diesen fünf Sinnen angefangen habe.

  • 6) Wenn die Natur nirgends einen Sprung tut, so wird auch die Seele alle unteren Staffeln durchgegangen sein, ehe sie auf die gekommen, auf welcher sie sich gegenwärtig befindet. Sie wird erst jeden dieser fünf Sinne einzeln, hierauf alle zehn Amben, alle zehn Ternen und alle fünf Quaternen derselben gehabt haben, ehe ihr alle fünfe zusammen zu Teil geworden.

  • 7) Dieses ist der Weg, den sie bereits gemacht; auf welchem ihrer Stationen nur sehr wenige können gewesen sein, wenn es wahr ist, daß der Weg, den sie noch zu machen hat, in ihrem jetzigen Zustande so einförmig bleibt. Das ist, wenn es wahr ist, daß außer diesen fünf Sinnen keine andern Sinne möglich, daß sie in alle Ewigkeit nur diese fünf Sinne behält, und bloß durch die Vervollkommung derselben der Reichtum ihrer Vorstellungen anwächst.

  • 8) Aber wie sehr erweitert sich dieser ihr zurückgelegter Weg, wenn wir den noch zu machenden auf eine des Schöpfers würdige Art betrachten. Das ist, wenn wir annehmen, daß weit mehrere Sinne möglich, welche die Seele schon alle einzeln, schon alle nach ihren einfachen Complexionen (das ist jede zwei, jede drei, jede viere zusammen) gehabt hat, ehe sie zu dieser jetzigen Verbindung von fünf Sinnen gelangt ist.

  • 9) Was Grenzen setzt, heißt Materie.

  • 10) Die Sinne bestimmen die Grenzen der Vorstellungen der Seele (§ 4); die Sinne sind folglich Materie.

  • 11) Sobald die Seele Vorstellungen zu haben anfing, hatte sie einen Sinn, war sie folglich mit Materie verbunden.

  • 12) Aber nicht so fort mit einem organischen Körper. Denn ein organischer Körper ist die Verbindung mehrerer Sinne.

  • 13) Jedes Stäubchen der Materie kann einer Seele zu einem Sinn dienen. Das ist, die ganze materielle Welt ist bis in ihre kleinsten Teile beseelt.

  • [558] 14) Stäubchen, die der Seele zu einerlei Sinne dienen, machen homogene Urstoffe.

  • 15) Wenn man wissen könnte, wie viel homogene Massen die materielle Welt enthielte: so könnte man auch wissen, wie viele Sinne möglich wären.

  • 16) Aber wozu das? Genug, daß wir zuverlässig wissen, daß mehr als fünf dergleichen homogene Massen existieren, welchen unsere gegenwärtigen fünf Sinne entsprechen.

  • 17) Nämlich, so wie der homogenen Masse, durch welche die Körper in den Stand der Sichtbarkeit kommen, (dem Lichte) der Sinn des Gesichts entspricht: so können und werden gewiß, z.E. der elektrischen Materie, oder der magnetischen Materie ebenfalls besondre Sinne entsprechen, durch welche wir es unmittelbar erkennen, ob sich die Körper in dem Stande der Elektrizität, oder in dem Stande des Magnetismus befinden, welches wir jetzt nicht anders als aus angestellten Versuchen wissen können. Alles was wir jetzt noch von der Elektrizität oder von dem Magnetismus wissen, oder in diesem menschlichen Zustande wissen können, ist nicht mehr als was Saunderson von der Optik wußte.- Kaum aber werden wir den Sinn der Elektrizität oder den Sinn des Magnetismus selbst haben: so wird es uns gehen, wie es Saunderson würde ergangen sein, wenn er auf einmal das Gesicht erhalten hätte. Es wird auf einmal für uns eine ganz neue Welt voll der herrlichsten Phänomene entstehen, von denen wir uns jetzt eben so wenig einen Begriff machen können, als er sich von Licht und Farben machen konnte.

  • 18) Und so wie wir jetzt von der magnetischen und elektrischen Kraft, oder von dem homogenen Urstoffe (Massen), in welchem diese Kräfte wirksam sind, versichert sein können, ob man gleich irgend einmal wenig oder gar nichts von ihnen gewußt: eben so können wir uns von hundert, von tausend andern Kräften in ihren Massen versichert halten, ob wir gleich von ihnen noch nichts wissen, welchen allen ein besonderer Sinn entspricht.

  • 19) Von der Zahl dieser uns noch unbekannten Sinne ist nichts zu sagen. Sie kann nicht unendlich sein, sondern sie muß bestimmt sein, ob sie schon von uns nicht bestimmbar ist.

  • [559] 20) Denn wenn sie unendlich wäre, so würde die Seele in alle Ewigkeit auch nicht einmal zum Besitze zweier Sinne zugleich haben gelangen können.

  • 21) Eben so ist auch nichts von den Phänomenen zu sagen, unter welchen die Seele im Besitz jedes einzeln Sinnes erscheint.

  • 22) Wenn wir nur vier Sinne hätten, und der Sinn des Gesichts uns fehlte, so würden wir uns von diesem eben so wenig einen Begriff machen können, als von einem sechsten Sinne. Und also darf man an der Möglichkeit eines sechsten Sinnes und mehrerer Sinne eben so wenig zweifeln, als wir in jenem Zustande an der Möglichkeit des fünften zweifeln dürften. Der Sinn des Gesichts dient uns, die Materie des Lichts empfindbar zu machen, und alle derselben Verhältnisse gegen andere Körper. Wie viel andere dergleichen Materie kann es nicht noch geben, die eben so allgemein durch die Schöpfung verbreitet ist!

Dieses mein System ist gewiß das älteste aller philosophischen Systeme. Denn es ist eigentlich nichts als das System von der Seelenpräexistenz und Metempsychose, welches nicht allein schon Pythagoras und Plato, sondern auch vor ihnen Ägyptier und Chaldäer und Perser, kurz alle Weisen des Orients, gedacht haben.

Und schon dieses muß ein gutes Vorurteil dafür wirken. Die erste und älteste Meinung ist in spekulativen Dingen immer die wahrscheinlichste, weil der gesunde Menschenverstand sofort darauf verfiel.

Es ward nur dieses älteste, und wie ich glaube, einzig wahrscheinliche System durch zwei Dinge verstellt. Einmal –

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 8, München 1970 ff., S. 557-560.
Entstanden vermutl. Ende der 70er Jahre, Erstdruck in: Karl Lessing: G.E. Lessings Leben, Berlin (Voss) 1795.
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