Erstes Kapitel

[8] Ich bin am vierundzwanzigsten März des Jahres achtzehnhundert und eilf zu Königsberg in Preußen geboren, und stamme von väterlicher und mütterlicher Seite aus jüdischen Familien ab. Auch meine beiden Eltern waren geborene Königsberger.

Meine Mutter gehörte einer reichen Familie an. Sie war das jüngste von zwölf Kindern. Ihr Vater war aus dem Posen'schen, ihre Mutter aus Kurland nach Preußen gekommen. Sie hielten fest an dem Glauben und an den Sitten des Judenthums, waren ununterrichtete Leute, scheinen aber, nach allen Erzählungen meiner Mutter, viel auf eine wohlanständige äußere Form des Lebens gehalten und bei strenger häuslicher Oekonomie die Benutzung und Schaustellung ihres Reichthums für besondere Fälle geliebt zu haben.

Meine Mutter erzählte uns, als wir erwachsen waren, gern von dem großen Saale in ihrem Vaterhause mit seinen gelben Damastmeubeln und zahlreichen Spiegeln, der an den Feiertagen geöffnet wurde, von der gastfreien Aufnahme aller Fremden, welche sich zum jüdischen Karneval, dem Purimsfeste, maskirt und unmaskirt in ihrem Hause einfanden, von der ernsten[8] Begehung der großen Feiertage, des Passah, des Laubhütten- und des Versöhnungsfestes; und es machte immer einen fremdartig feierlichen Eindruck auf uns, wenn wir hörten, wie die Großeltern am Vorabende des Versöhnungsfestes alle ihre Kinder zusammen gerufen und sie gesegnet hätten. Wie dann die Großmutter in einem weißen, mit kostbaren Kanten besetzten Kleide den Großvater in die Synagoge begleitet habe, wie sie darauf erst spät Abends nach Hause gekommen wären, wie man der Großmutter schweigend das modische Entre deux von schwarzem Taffet mit strohgelbem Futter abgenommen, wie man am folgenden Tage gefastet und erst am Abend desselben bei dem Hervortreten der Sterne den ersten Imbiß gehalten habe, wonach das Leben dann wieder in seinen gewöhnlichen Lauf zurückgekehrt sei.

Gute Miniaturbilder dieser Großeltern hingen in unserem Wohnzimmer. Die Großmutter war eine bleiche Frau mit ruhigem klugen Blick, ganz weiß gekleidet, ein Spitzentuch um Brust und Hals gebunden, einen tiefgehenden Aufsatz mit weißen Spitzen auf dem Kopfe, der kein Haar hervorscheinen ließ und sich fest an Stirn und Schläfen anlegte. Sie trug auf dem Bilde schöne große Perlen in den Ohrgehängen und eben solche Perlen um den Hals. Der Großvater hatte ein sehr feines Gesicht mit hellblauen Augen, eine kleine gepuderte Perrücke, einen blauen Rock mit großen Knöpfen, und die alten Leute sahen Beide wie Bilder der behaglichsten Sauberkeit und Ruhe aus. Sie hatten etwas Feierliches in ihren Physiognomien, das mir immer einen großen Eindruck machte, wenn ich sie ins Auge faßte.[9]

Was mein Großvater in seinen früheren Jahren für ein Handels-Geschäft getrieben haben mag, weiß ich nicht. So weit die Erzählungen meiner Mutter reichten, hatte er sich schon vom Handel zurückgezogen und als ein reicher Mann von seinen Zinsen gelebt. Die Großeltern bewohnten sechsunddreißig Jahre lang das Eckhaus in der Kneiphöfischen Langgasse, welches der Königlichen Bank gegenüber dicht am grünen Thore liegt und die Ecke der Magistergasse bildet; und es wurde von unserer Mutter immer hervorgehoben, wie der Bankdirektor und eine Menge anderer angesehener Leute den Großvater mit besonderer Achtung behandelt hätten und wie selbst der Professor Kant ihn immer freundlich gegrüßt, wenn er im Sommer bei seiner täglichen Promenade den Großvater auf seinem gewohnten Platze am Fenster oder auf der Bank vor der Thüre sitzen gesehen habe. Es war damals in Königsberg noch eine Ehrensache für einen Juden, von Christen achtungsvoll behandelt zu werden.

Die geistige Bildung im Hause dieser Großeltern muß im Ganzen gering gewesen sein, obschon man den Söhnen, es waren ihrer fünf, eine gute Erziehung geben ließ. Zwei von ihnen haben Medizin studirt. Der Aeltere war ein in Königsberg geachteter Arzt, Doktor Assur, der Jüngste, David mit Namen, ging später zum Christenthum über. Es war der in Hamburg verstorbene, und mit Rosa Marie von Varnhagen verheirathete, Doktor Assing.

Die älteren Töchter meines großväterlichen Hauses waren in der französischen Sprache, in der Musik, im Tanzen und derlei äußerlichen Dingen unterrichtet worden.[10] Sie hatten auch einen »Complimentirlehrer« gehabt, der ihnen beigebracht, was man in der Gesellschaft und im Verkehr mit jungen Männern zu sagen, und wie man es zu sagen habe. Aber mit dem Tode meiner Großmutter hatte das Alles aufgehört, und für die Erziehung der jüngeren Töchter war fast Nichts geschehen, weil der Großvater die Bildung der Frauen als etwas Ueberflüssiges betrachtete. Meine Mutter, sein jüngstes Kind, beklagte dies durch ihr ganzes Leben als ein Unglück. Sie trug ein großes Verlangen nach Kenntnissen, aber ihr fehlte die Vorbedingung der ersten Grundlagen, sich dieselben noch in späterer Zeit anzueignen; denn sie schrieb und rechnete nur nothdürftig und hatte nicht das Geringste von wissenschaftlichem Unterricht gehabt.

Weder mein Großvater noch seine Frau hatten, nachdem sie sich einst in Königsberg ansässig gemacht, den Ort jemals verlassen, und die ganze Existenz in ihrem Hause scheint eine sorgenfreie und zufriedene, aber in jedem Betrachte wenig bewegliche und geistig sehr beengte gewesen zu sein.

Ganz anders waren die Verhältnisse in meinem großelterlichen Hause väterlicher Seits. Die Familie hatte seit vier Generationen von Vater auf Sohn in Königsberg gelebt, und mein Großvater hatte als ein vermögender junger Mann zu seiner Ausbildung einen Theil von Deutschland bereist, und später auch eine Berlinerin geheirathet.

Mein väterlicher Großvater war ein schöner und sehr geistvoller Mann. Er und seine Frau besaßen jenen Grad der allgemeinen Bildung, den die Berliner[11] Juden schon früher erlangt hatten, und Beide fühlten sich im Ganzen in Königsberg nicht glücklich. Namentlich die Großmutter gefiel sich in der Provinz nicht. Sie wurde dort nie recht heimisch, auch der Großvater hätte lieber in Berlin oder in Hamburg leben mögen. Aber er hatte sein ererbtes Vermögen, einige Jahre nach seiner Verheirathung, in unglücklichen Spekulationen eingebüßt, und obschon er auch unter seinen Standesgenossen als ein sehr gescheuter Kopf geachtet wurde, gelang es ihm doch nicht, sich ein neues Vermögen zu erschaffen. Er führte immer ein sorgenvolles, in spätern Jahren sogar eine Zeit lang ein kümmerliches Leben, und grade darum verargte man ihm eine gewisse Zurückhaltung und Abgeschlossenheit seines Wesens um so mehr. Er und seine Frau galten für stolz, er pflegte wenig Verkehr mit andern Menschen, hatte aber eine große Vorliebe für Studien aller Art, besonders für die Mathematik, mit der er sich viel beschäftigte, und brachte alle seine freien Stunden mit Lesen und Schreiben zu, wie er sich denn schriftlich und mündlich vortrefflich ausgedrückt haben soll. Bei seinem Tode fand man eine Anzahl logarithmischer Tafeln vor, die er ausgerechnet und für die Herausgabe vorbereitet hatte. Sie blieben damals liegen und sind dann verschwunden. Seine Lieblingslektüre waren die Werke der französischen Encyklopädisten, und er wie seine Frau waren äußerst aufgeklärte Leute. Das jüdische Ritualgesetz wurde daher von ihnen auch nur so weit beobachtet, als es eben nothwendig war, um in den damals noch eng zusammenhängenden Gemeinden keinen Anstoß zu geben. Die[12] Söhne wurden also auch im Hebräischen unterrichtet, und mein Großvater besuchte die Synagoge, weil das geschehen mußte, aber im ganzen häuslichen Leben ward keine religiöse Ceremonie irgend einer Art geübt, und es herrschte in allen religiösen Dingen dort die größte Freiheit.

Diese Großeltern väterlicher Seits, die Familie führte damals den Namen Markus, hatten sieben Kinder, vier Söhne und drei Töchter. Ohne diese Kinder christlichen Schulen oder öffentlichen Lehranstalten zu überantworten, hielt man sie zum Selbstunterricht an, und die Richtung auf geistige Interessen, die Theilnahme an dem Allgemeinen, wie ein gewisser Zug fester und ernster Selbstbestimmtheit ward Allen durch die Erziehung eingeprägt. Mein Großvater haßte es, wenn man von leeren Dingen sprach oder unnöthig viel Worte machte. »Erzähle in die Länge und nicht in die Breite!« ist eine Redensart, welche sich aus seinem Munde unter uns fortgeerbt hat; und eine Unüberlegtheit, eine Thorheit sprechen zu hören, war ihm so widerwärtig, daß er es an seinen Kindern streng bestrafte.

Als ein alter Diener des Hauses einmal nach mehrmonatlicher Abwesenheit zurückkehrte, und einer meiner Onkel, damals noch ein acht- oder neunjähriger Knabe, die unvernünftige Bemerkung machte: »Skatt sei recht gewachsen«, gab ihm der Großvater für diese Aeußerung, ohne weiter ein Wort darüber zu sprechen, augenblicklich eine Ohrfeige. Im gleichen Sinne befahl er seinen Kindern, wenn sie einmal etwas Kluges oder Witziges gesagt hatten, das Beifall gefunden, regelmäßig still zu[13] sein, damit sie nicht, in der Freude über ihren Erfolg, demselben eine Dummheit hinzufügten.

Die Familie meiner väterlichen Großeltern war irgendwie mit den Familien Itzig und Ephraim in Berlin verwandt, welche von Friedrich dem Großen für seine Finanzoperationen benutzt wurden, und es herrschte in dem Hause meiner Großeltern, wenn die Zeiten dort besonders sorgenvoll waren, immer die Hoffnung, von diesen Berliner Verwandten werde ihnen einmal mit einer Betheiligung an irgend einem großen finanziellen Unternehmen eine dauernde Hülfe kommen. Indeß statt dieser Hülfe erwuchs ihnen, als eine solche Betheiligung ihnen endlich dargeboten wurde, nur ein schweres Unglück daraus.

Friedrich der Große hatte nämlich die jüdischen Bankiers und namentlich auch Ephraim dazu benutzt, die englischen Subsidiengelder in schlechte Münze, in Zweigutegroschen-Stücke umprägen und verbreiten zu lassen, und bei diesem auf königlichen Befehl ausgeführten Geschäfte war mein Großvater als einer der Agenten der Königsberger Münze, denn die Provinzen hatten damals noch besondere Münzen, thätig gewesen. Er hatte dazu eigens eine Silberschmelze erbauen lassen müssen, die mein Vater noch besaß und in der ich selbst noch vielmals gewesen bin. Als nun unter Friedrich Wilhelm dem Zweiten die Beschwerden über die Münzverfälschung im Lande immer lebhafter wurden, wählte die Regierung den Ausweg, die Juden, welche einst auf ihren Befehl gehandelt hatten, für die Münzverfälschung verantwortlich zu machen. Man sperrte also, um der[14] öffentlichen Meinung ein Genüge zu thun, oder ihr doch mindestens ein Zugeständniß zu gewähren, an den verschiedenen Orten einige Juden, und unter diesen auch meinen Großvater, in das Gefängniß. Er für sein Theil, wie viele andere seiner Glaubens- und Leidensgenossen, verlangten eine Untersuchung. Indeß zu einer solchen konnte die Regierung es nicht kommen lassen, und nachdem man die Beschuldigten längere Zeit gefangen gehalten hatte, gab man sie ohne Urtheil und Recht, wie man sie eingezogen, auch wieder frei. Man hatte damit den Zweck erreicht, die Rechtlichkeit dieser Männer zu verdächtigen, die Anklagen, welche sich gegen die Regierung erhoben, auf die Schultern der Juden zu wälzen, und dabei ließ man es bewenden.

Aber diese Gefangenschaft hatte für den Großvater, abgesehen davon, daß sie ihm durch den Makel, den sie auf ihn warf, für den Rest seines Lebens sein Gewerbe als Geldwechsler den Christen gegenüber erschwerte, auch den Nachtheil, seine damals schon sehr schwankende Gesundheit völlig zu untergraben. Er war in den letzten Jahren der Vierziger, als man ihn verhaftete, in Folge einer Unterleibskrankheit von schwerem Augenleiden heimgesucht, und der Pflege der Seinen durchaus bedürftig. Ihn deshalb frei zu geben fühlte man sich nicht geneigt; die Familie erlangte es jedoch, daß man ihm seine älteste, damals fünfzehnjährige, Tochter Minna als Pflegerin mit in das Gefängniß gab, und von ihr, einer der bedeutendsten Frauen, welche ich gekannt, habe ich es oftmals mit bewegtem Herzen erzählen hören, wie ruhig und würdig unser Großvater sein Mißgeschick getragen.[15] Sie erinnerte sich immer mit Rührung daran, wie der Großvater sich auch im Gefängniß täglich auf das Sauberste gekleidet habe, wie er getrachtet einen kleinen Spiegel herbeizuschaffen, damit auch sie sich in ihrem Aeußeren nicht vernachlässige, und wie er streng darauf gehalten habe, daß sie sich täglich mehrere Stunden mit Lesen und Schreiben von Französisch, und mit ernster Lektüre beschäftigte, damit diese Unglückszeit mindestens doch für ihre Bildung gute Früchte trage. Die Tante hing mit tiefster Verehrung an dem Vater, und alle seine Kinder hegten eine fast abgöttische Liebe für ihn. Noch in ihrem späten Alter gedachte seiner fast keines derselben ohne Wehmuth und ohne Thränen.

Mein Vater war der dritte Sohn des Hauses. Er kann zu der Zeit, in welcher mein Großvater im Gefängniß war, nicht über acht Jahre alt gewesen sein. Der älteste Sohn war kränklich und mußte, da er in der Jugend bisweilen an heftigen Krämpfen litt, geschont werden. Der zweite Sohn war weniger thätig, und da der Großvater nach seiner Gefangenschaft immer leidender wurde, verwendete er meinen Vater, sobald derselbe dafür irgend brauchbar war, in seinem Handelsgeschäfte, das die Familie nur sehr mühsam ernährte. Aus meines Vaters Munde habe ich es er zählen hören, wie bitter schwer er den Druck dieser Verhältnisse empfunden habe. Als er einmal, kaum fünfzehnjährig, in's Vaterhaus zurückgehen mußte ohne ein Geschäft abgeschlossen zu haben, von dem mein Großvater sich für lange Zeit Hülfe für die Seinen versprach, waren Traurigkeit und Verzweiflung in dem Herzen des Knaben[16] so stark geworden, daß er bei dem Uebergange über eine Brücke die größte Versuchung gefühlt hatte, sich in das Wasser zu stürzen, weil es ihm so furchtbar schien, dem schwerkranken und schwerbekümmerten Vater einen ungünstigen Bescheid und die Vereitelung seiner Hoffnungen zu melden.

Wann mein Großvater gestorben ist, weiß ich nicht genau, doch muß es etwa sieben oder acht Jahre nach seiner Gefangenschaft und ganz zu Anfang dieses Jahrhunderts gewesen sein. Nach seinem Tode, er ist nur einundfünfzig Jahre alt geworden, nahmen die Verhältnisse der Familie eine günstigere Wendung. Die älteste Tochter, welche zu ihren mütterlichen Verwandten nach Berlin gegeben worden war, verheirathete sich an einen gebildeten und wohlhabenden Kaufmann in Breslau; sie ward die Mutter des in unserer politischen Geschichte rühmlichst bekannt gewordenen Heinrich Simon aus Breslau. Meine Großmutter mit dem jüngsten Sohne siedelte in Folge dieser Verbindung ebenfalls nach Breslau über, und ihr zweiter Sohn folgte ihr dorthin nach, wo er in das kaufmännische Geschäft eines Mutter-Bruders eintrat. Nur der älteste Bruder, Beer Markus, und mein Vater blieben in Königsberg zurück. Sie etablirten das Handlungshaus von Beer Markus u. Comp., und die beiden jüngeren Schwestern, Johanna und Rebekka, übernahmen die Besorgung des Haushaltes für die beiden Brüder.

Auf sich selbst und den Erwerb für sich und die Ihrigen gewiesen, verließen die zurückgebliebenen vier Geschwister, von denen selbst der älteste kaum zweiundzwanzig[17] Jahre alt war, die Bahn des Vaterhauses nicht. Keiner von ihnen hatte, wie ich erwähnt, eine folgerechte regelmäßige Schulbildung erhalten; aber sie waren Alle geistig sehr begabt, sehr strebsam, äußerst beharrlich und unverzagt, und dem ganzen Charakter nach ein Geschlecht, dem anzugehören ich immer als einen Vorzug empfunden habe.

Meine beiden Eltern kannten sich, wie das damals, als die jüdischen Gemeinden noch kleiner waren, nicht fehlen konnte, dem Ansehen nach von ihrer Kindheit an. Meine Mutter erzählte uns, daß sie als zwölfjähriges Mädchen einmal mit ihrem Vater am Fenster saß, als mein Vater, der nur drei Jahre älter war als sie, an ihrem Hause vorüberging. Sie hatte immer viel Gutes von ihm gehört, und wenn man das Mißgeschick der Markus'schen Familie beklagte, die gar nicht vorwärts kommen konnte, so hatte man die braven Kinder, und namentlich den Fleiß und die Treue des kleinen David Markus gerühmt, der von früh bis spät für seine Eltern thätig war. Das hatte meine Mutter gerührt und die große Schönheit meines Vaters hatte solchen Eindruck auf sie gemacht, daß sie an jenem Tage in kindischer Lebhaftigkeit plötzlich den Ausruf that: »Ach Papa! Den David Markus möchte ich heirathen!« womit sie natürlich unter ihren Geschwistern großes Lachen erregte. – Es fand aber gar kein Verkehr zwischen den beiden Familien statt, und meine Eltern lernten sich erst später persönlich kennen, als meine Mutter etwa siebzehn und mein Vater zwanzig Jahre alt war.[18]

Damals waren sie Beide schon elternlos. Meine Mutter lebte im Hause einer Schwester, die an einen Kaufmann Nathan verheirathet war, und mein Vater befand sich bereits in der Lage, eine Frau zu ernähren, selbst wenn sie nicht, wie meine Mutter, Vermögen gehabt hätte.

Indeß zu jenen Zeiten war es mit dem Heirathen der Juden in Preußen keine leichte Sache, denn jede jüdische Familie hatte nur für eines ihrer Kinder das Ansiedlungsrecht in den preußischen Landen, und ohne dieses waren Heimath und Niederlassung eine Unmöglichkeit für die Juden. In meiner mütterlichen Familie war dies Recht zu Gunsten der ältesten, sehr un schönen Tochter benutzt worden, der man damit einen Mann geschafft hatte; und da die älteste Schwester meines Vaters einen niederlassungsberechtigten Juden in dem Breslauer Kaufmann Simon geheirathet, so besaß mein Onkel Beer Markus das Niederlassungsrecht der Markus'schen Familie, das er um so weniger geneigt sein konnte an meinen Vater abzutreten, als er selbst in meine Mutter verliebt war und sich um sie bewarb.

Alle meine mütterlichen Onkel und Tanten waren auf seiner Seite. Meine Mutter war die einzige noch unverheirathete und unversorgte Schwester in ihrer Familie. Zwei Brüder und zwei Schwestern waren nach Hamburg übergesiedelt und dort verheirathet, zwei andere Brüder hatten sich in Berlin etablirt, drei Schwestern waren bereits in Königsberg ansässig, und der älteste Bruder praktisirte dort als Arzt. Es war ihnen allen daher das Bequemste, die jüngste Schwester ohne weitere[19] Schwierigkeiten und ohne besondere Bittgesuche bei der Regierung, ebenfalls in Königsberg zu verheirathen, und mein Onkel Beer war obenein ein eben so tüchtiger als gebildeter Mann. Aber er war sehr kränklich, und obschon, wie die Schwestern meines Vaters später erzählt haben, meine viel umworbene Mutter Anfangs Beer's Bewerbung annahm und ermunterte, wendete sich später ihre Neigung doch dem jüngern und viel schönern Bruder zu, und diese Neigung wurde, weil sie sowohl in der Familie als in den äußern Verhältnissen überall auf Hindernisse stieß, zu der lebhaftesten Leidenschaft von beiden Seiten.

Meine mütterlichen Verwandten verargten es meinem Vater, daß er ihnen die bequeme Verheirathung ihrer Schwester erschwere, und die Schwestern meines Vaters nahmen es ihm und meiner Mutter äußerst übel, daß sie dem ältern und kränklichen Bruder noch Herzenskummer machten. Die beiden armen jungen Leute standen also ziemlich verlassen und angefeindet in der Familie da. Nur meine Tante Nathan und der Doktor David Assing, der Lieblingsbruder und Vertraute meiner Mutter, der auch ein Freund meines Vaters war, hielten treu zu ihnen, und meine Mutter hat ihnen das immer dankbar nachgerühmt.

Wäre meine Mutter ihr eigener Herr, d.h. wäre sie großjährig gewesen, so hätte das junge Paar wohl den Ausweg gewählt, zum Christenthume überzutreten. Meine Mutter hatte einen großen Zug dafür, und meinem Vater war alles Dogmatische und Confessionelle der verschiedenen Religionen gleichgültig; aber die ganze Familie[20] meiner Mutter, vor Allem der Bruder und der Schwager, welche ihre Vormünder waren, wollten von einem solchen Schritte durchaus nichts hören. Die üblichen Bedrohungen mit Fluch und Verstoßung wurden nicht gespart, meine Mutter fühlte sich solchen Zerwürfnissen nicht gewachsen, und es blieb den Verlobten also kein Ausweg übrig, als mit Eingaben bei der Regierung, mit Geldopfern, wo diese thunlich waren, und mit persönlichen Bittgesuchen sich die Erlaubniß zur Niederlassung in Preußen zu verschaffen, deren Bewilligung immer schwerer gemacht wurde, je wohlhabender und heirathslustiger die jüdischen Gemeinden geworden waren. Darüber gingen Jahre hin, und dieser Kampf erzeugte in meiner Mutter, einer sehr milden und weichen Natur, eine lebhafte Abneigung gegen das Judenthum und gegen Alles was mit ihm zusammenhing. Sie sah es als ein Unglück an, eine Jüdin zu sein. Bei meinem Vater, dessen starkem Verstande die Unvernunft der damaligen preußischen Gesetzgebung für die Juden ohnehin klar genug eingeleuchtet haben mußte, verstärkten die Hindernisse, unter denen er persönlich zu leiden hatte, nur seinen Widerwillen gegen alle Unvernunft und Tyrannei.

Die Gewährung einer Niederlassungserlaubniß für einen Juden hing zu jener Zeit im Königreich Preußen von dem Kanzler von Schrötter ab. Er war sehr geachtet in der Provinz; seine Frau, eine geborene Gräfin Dohna, galt für eine ausgezeichnet edle Frau, und ein Sohn oder ein jüngerer Bruder des Kanzlers war ein Jugend- und Universitätsfreund von dem jüngsten Bruder meiner Mutter, von David Assing gewesen. Auf[21] den Rath dieses Letzteren gestützt, entschloß sich endlich meine Mutter, der bei ihrer Schüchternheit und Jugend solch ein Schritt sehr schwer geworden sein muß, sich bei der Gemahlin des Kanzlers persönlich eine Audienz zu erbitten und sie um ihre Verwendung zu Gunsten einer Niederlassung anzugehen.

Das entschied die Sache, und nach einer langen Liebeszeit wurden meine Eltern endlich zu einer Ehe verbunden, welche während der dreißig Jahre ihres Bestehens uns Allen ein Vorbild und überhaupt ein Muster häuslicher Eintracht gewesen ist.[22]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 8-23.
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