Vierzehntes Kapitel

[250] Ich hatte mir die größten Vorstellungen von Prag gemacht, und erwartete, je weiter wir uns von Franzensbad entfernten, immer lebhafter unsere Ankunft.

Aber wir fuhren und fuhren, wir sahen Burgen, Klöster, Schlösser, Fabriken, Städte in dem schönen Böhmerlande, nur Prag wollte nicht kommen, und mit der Ungeduld eines Kindes fragte ich den Kondukteur fortwährend: »was ist dies? was jenes?« Umsonst! es war immer noch nicht Prag.

Endlich fuhren wir wieder bergan! »Was ist das für ein Berg?« rief ich. – »Der weiße Berg!« antwortete er mir.

Da waren wir am Ziele!

Hier hatten die Hussiten gelagert, hier war die Schlacht geschlagen! Jeder Schritt vorwärts rollte mit der Erinnerung an eine Thatsache ein Stück Vergangenheit vor mir auf. Und es ist nicht allein die allgemeine historische Vergangenheit, welche uns bei dem ersten Anblick einer solchen Stadt hell leuchtend entgegentritt; auch die eigne Vergangenheit wird uns von ihrem Wiederschein lebendig und verklärt.

Wie oft hatte ich an Prag gedacht, wenn mich als[250] Kind die mährchenhafte Königin Libussa beschäftigte; wie kalt war es gewesen, als ich in den Nächten, heimlich in meiner Hinterstube, die Van der Velde'schen Romane las, und die stolze Amazone mit ihren Mägden, deren böhmische Namen einen großen Wohlklang für mich hatten, meine Phantasie erregten! – Ich sah die Schulstube wieder vor mir, in welcher ich von den Hussitenkriegen hatte sprechen hören, ich erinnerte mich deutlich des Tages und der Stunde, in welcher Herr Neumann uns erzählt, wie man Slavata und Martinitz zum Fenster hinaus gestürzt hatte, und eines andern Tages, an welchem der Sieg der Preußen bei Prag mein junges Herz mit Stolz geschwellt. Nun war ich an der Stätte, an der meine Gedanken so oft geweilt hatten, nun sollte ich sie sehen!

Das Leben auf der Straße nahm zu. Kärrner kehrten vom Markte heim, einzelne Städter gingen an uns vorüber, Equipagen flogen mit geputzten Damen dahin. Wir befanden uns ganz offenbar in der Nähe einer großen Stadt, voll alltäglichen modernen Lebens, aber das war es nicht, was meine Theilnahme erregte, nicht was ich suchte. Da fesselte plötzlich ein großes Gebäude meine Aufmerksamkeit, und ein Mann, der neben mir saß, sagte gleichmüthig: »Das ist das Czerniner Haus auf dem Hradschin!«

Der Hradschin! – dies eine Wort, und Wallenstein und Schiller stiegen wieder vor meinem Blicke auf.

Es war ein Morgen voll lebendiger Eindrücke, und die wenigen Tage, welche wir in Prag verweilten, thaten es mir dar, was eine Stadt in ihrem Alter und in einer bedeutenden Vergangenheit vor den neu entstandenen[251] Städten voraus hat. Das Langbegründete, das Festbestehende, ich möchte sagen das Ursprüngliche, das allem Wechsel und Wandel der Zeiten Trotz geboten, und selbst durch den Wandel der Dinge nur gewonnen hat, übt eine zugleich anregende und beruhigende Wirkung auf uns aus. Wir sehen die Vergänglichkeit des Menschen weniger trübe an, wenn wir bestehend finden, was er geleistet, wenn wir sein Andenken an das von ihm Geschaffene geknüpft und mit demselben, weit über seine eigene Dauer hinaus, fortgetragen finden; und wir gelangen auf diese Weise dahin, selbst den einzelnen, in der Menge verlorenen Arbeiter, als einen Mitbegründer und Mitschöpfer an dem erhabenen Werke zu betrachten, das wir als die Weltgeschichte bezeichnen.

Wir besahen Kirchen, Klöster, Schlösser, es war mir noch Alles neu, aber den bedeutendsten Eindruck machte mir die Stadt als solche. Es liegt etwas Aristokratisches, etwas Mächtiges in ihr. Die großen, festen Häuser der alten Familien, die sich den Bau Etwas haben kosten lassen, weil sie des Glaubens bauten, den Besitz auf weite Zeit hinaus ihrem Geschlechte erhalten zu sehen, nahmen sich gebieterisch aus, und ließen die neue Zeit so ruhig an sich vorüber gleiten. Daneben reichte der wunderbare alte Judenkirchhof in eine graue Vorzeit zurück; ganze Reihen geheimnißvoller Mythen und Legenden schienen aus den bemoosten Steinen der eingesunkenen Gräber hervorzusteigen, und wie ein Quell aus tiefer Bergesnacht brach aus den dunklen Hallen der uralten unterirdischen Synagoge für mich die Poesie hervor, welche sich an die Geschichte des Volkes knüpft, in dem ich geboren[252] worden war. Wenn das Judenthum den Kultus der Heiligen und Märtyrer hätte, den der Katholizismus in sich aufgerichtet hat, welche unabsehbare Reihe von Martyrien würde es aufzuzählen haben.

Wir verließen Prag am dritten Nachmittage nach unserer Ankunft, und ich nahm eigenes Gefährt, um in Melnick an der Elbe zu übernachten, von wo wir am Morgen mit dem Dampfschiff nach Dresden fahren wollten. Diese Tour durch das Land erquickte mich über alle Maßen, und meine Freude an meiner Selbstständigkeit und Freiheit war bei dieser ersten Reise, welche ich auf eigene Kosten und nach eigener Neigung und Bestimmung machte, so groß, meine Heiterkeit dadurch so dauernd, daß wir Beide, ich und meine Schwester, uns dieser Reisetage als einer Zeit des reinsten Glückes noch heute zu erinnern lieben. Ich weiß nicht, ob in allen Menschen und namentlich in andern Frauen das Bedürfniß nach Unabhängigkeit und nach persönlicher Freiheit ein so unabweisliches ist, als in mir; ich weiß aber, daß für mich kein belebender Gedanke, keine Arbeit, kein Schaffen, kein Gehorchen, keine Unterordnung, ja kein Lieben möglich ist, wo ich mich nicht frei und selbstständig empfinde; und was wollen Gehorsam und Hingebung und Liebe auch bedeuten, wenn sie nicht in jedem Augenblicke und in jedem besondern Falle ein Zeichen freier Neigung sind?

Nie im Leben war mir vorher die Natur so schön, die Luft so erquickend, der Sonnenuntergang so glorreich erschienen, als an dem Abende, dessen ich eben gedachte. Die Zweige der Weidenbäume neigten sich, als wir am[253] Ufer der Elbe entlang fuhren, ganz anders als je zuvor, in das Wasser, die Vögel zogen freudiger durch die Luft. Sie kamen mir in ihrem sichern Schweben, in der raschen Entscheidung ihres Willens, in ihrem lebendig bewegten Auf und Nieder, Hin und Wieder, als die Sinnbilder der Freiheit, als die glücklichsten unter allen Geschöpfen vor. Niederschießen aus der blauen Höhe, sich hinab senken auf das Wasser, die Flügel netzen im raschen Fluge, emporrauschen bis zu den rothglühenden goldgesäumten Wolken, unter dem Wald von Bäumen, unter den Millionen von Zweigen den Zweig auswählen für die Rast, das wäre mir beneidenswerth erschienen, hätte ich mich nicht selbst so glücklich gefühlt.

Jahre der Krankheit, des Leidens, des Kummers und des Grames, Jahre geistiger und materieller Gebundenheit lagen hinter mir, und in dem schönen Uebermuth der Jugend – denn man ist immer jung, wenn man voll Hoffnung ein neues Leben beginnt – nahm ich mir vor, sie gänzlich zu vergessen. Ich hatte noch nicht die Kraft gewonnen, mein ganzes Eigenthum – und die Erinnerung an redlich durchkämpfte Leidensjahre gehört zu den kostbarsten Besitzthümern des Menschen – mit mir herumzutragen und in mir zu verwerthen. Tausend neue Vorstellungen, tausend frische, kräftige Gedanken waren in mir rege. Ich war in der That stolz auf das Wohlbefinden, das mir durch alle Adern strömte, und bei all dem Guten, das ich genoß, bei all dem Entzücken, das ich empfand, sagte ich mir innerlich immerfort und zuversichtlich: das ist Alles nur der Anfang! das wird Alles noch viel besser kommen! Ich wünschte mir meinen[254] Vater und die Geschwister und alle meine Lieben herbei, um ihnen zu sagen, welche Freude ich am Leben fände, wie wohl es mir auf Erden sei. Ich hätte es so gern geglaubt, daß unsere Mutter aus der Höhe sehen könne, wie wir dahin fuhren, ihre Else und ich, und wie wir es so gut hatten, neben einander; besser als sie selbst es je gehabt!

Am Morgen auf dem Dampfschiff war es erst recht ein fröhliches Sein!

Das Schiff war bunt beflaggt, Kränze und Guirlanden ließen sich sehen; unter den Russen, Engländern und Franzosen, die hier durch einander wälschten, machten sich Gruppen von Männern bemerkbar, die nicht zu Jenen gehörten. Einer und der Andre hatte einen grünen frischen Zweig am Hute, Einen und den Andern erkannte ich.

Es waren Architekten. Sie kamen von der Versammlung, welche eben in Prag abgehalten worden war. Der geistreiche Baumeister Hitzig, damals noch sehr jung, und mit seinem feinen Kopfe das Idealbild der Düsseldorfer Malerschule, sein Schwager Franz Kugler, Professor Strack und Oberbaurath Stieler aus Berlin, der alte Professor Heidloff aus Nürnberg, und eine Reihe anderer ausgezeichneter Künstler waren auf dem Schiff beisammen, und wurden mir von Hitzig, den ich näher kannte, vorgestellt. Alt und Jung zeichnete einander, Portraits und Carrikaturen wechselten mit einander ab, man machte Verse, erzählte die Erlebnisse in Prag. Der Eine sang ein Volkslied, das sich aus den Zeiten des siebenjährigen[255] Krieges noch erhalten hatte, und das in der Uebersetzung also lautete:


Schlimm! Mütterchen, schlimm!

Die Brandenburger sind hier.

Sie tragen große Mützen,

Stehlen unsre Hühner;

Schlimm! Mütterchen, schlimm!


Der Andere gab ein altes Hussitenlied zum Besten, während das Schiff pfeilschnell durch das schöne Böhmerland dahinflog, und die alten Hussiten-Thürme mit ihren kelchförmigen Kuppeln noch keck gegen die Zerstörung protestirend, zu uns herniederschauten.

Fröhliche Scherze und heitre Lieder gingen von Mund zu Mund. Wie Raketen flogen die tollsten Einfälle empor, und ich fand mich zum ersten Male in einem Kreis von Künstlern, die mich als ihren Genossen betrachteten. Ich war, ich galt den Männern Etwas, ich begegnete einem Wohlwollen und günstigen Voraussetzungen, ohne daß ich den Einzelnen Etwas geleistet hatte. Die Erfahrung war mir immer wieder neu, immer eine Wohlthat. Die letzten wunden Stellen meiner Seele vernarbten vor dieser Gewißheit.

Gegen den Abend hin, als wir auf dem Deck umherwanderten, zeigte mir einer der Architekten einen schönen jungen Mann. Er trug einen schwarzen Sammetrock, saß unweit vom Steuerrade und sah mit heiterm Blick in die Ferne hinaus. Sein Auge war lebhaft, sein reiches Haar von hellem Braun, und das ganze jugendlich edle Gesicht voll glücklicher Sorglosigkeit. »Das ist ein junger österreichischer Dichter,« sagte mir mein Gefährte.[256] »Wie heißt er?« fragte ich. »Moritz Hartmann!« gab man mir zur Antwort.

Ich hatte den Namen noch nie gehört, und ich konnte nicht ahnen, daß ich in dem fremden jungen Manne einen meiner künftigen Freunde und einen treuen Genossen für manche spätere Lebensstunde vor mir hätte.

Einige der Berliner Architekten schlossen sich uns für die nächsten Tage in Dresden an. Ich hatte den Vortheil, in ihrer Begleitung die Dresdner Gallerien zu sehen, und nach einer Abwesenheit von einigen Monaten kehrte ich, froh, gesund und mit einer Fülle schöner Erinnerungen bereichert, nach Berlin zurück, um so bald als möglich zu meinem Vater und an meine Arbeit zu gehen.

Indeß eine Menge von nothwendigen Geschäften und von überflüssigen Besorgungen, die mir von Hause wieder aufgegeben wurden, nöthigten mich in Berlin zu verweilen, und als ich nun dort wieder festen Fuß gefaßt hatte, wollten meine Freunde und meine in Berlin lebenden Geschwister von einer längeren Rückkehr in das Vaterhaus für mich Nichts wissen. Ich sollte auf vierzehn Tage, auf drei Wochen nach Hause gehen, ich sollte vorläufig noch in Berlin bleiben, wo für die Absichten meines jüngeren Bruders mancherlei zu thun war, und als schließlich sich gar kein anderer Grund für einen verlängerten Aufenthalt in Berlin auffinden ließ, überredeten sie mich, um mich von Tag zu Tag fest zu halten, verschiedene Excerpten und Notizen aus medizinischen Journalen zu machen, welche Moritz zu haben wünschte. Dieser hatte nämlich den Plan gefaßt, bei der nächsten[257] Cholera-Epidemie, und die Cholera kehrte damals noch häufiger wieder, als es glücklicher Weise jetzt der Fall ist, der Krankheit wo möglich von ihrem Ausgangspunkte im Osten bis an das Atlantische Meer zu folgen, um den Wechsel und die verschiedenen Formen und Stärkengrade zu beobachten, unter denen sie auf ihrem Wege auftrat, und er hatte sich, als er Brest verließ, und nach Tiflis reiste, an die preußische und russische Regierung gewendet, ihnen sein Vorhaben auseinandergesetzt, und auf die Empfehlung einiger seiner frühern Universitätslehrer gestützt, ihren Beistand für die Ausführung seines Planes nachgesucht.

Das gab nun dem ältesten Bruder Schreibereien aller Art an Behörden und Personen, die ich kopirte, aber diese Besorgungen und Leistungen nahmen nur einen kleinen Theil meiner Tage in Anspruch, und ich hatte daher volle Muße, die mir befreundeten Personen wieder zu begrüßen.

Sie rühmten Alle mein gutes Aussehen, Alle fanden sie mich erfrischt an Leib und Geist. »Was hast Du mit Dir angefangen?« fragte mich Frau Bloch, »Du siehst aus, als hättest Du zehn Jahre von Dir abgeschüttelt.« – »Ich habe Nichts von mir geworfen, aber ich habe Etwas gefunden,« entgegnete ich. – »Und was ist das?« – »Ich habe gefunden, daß ich alle Bedingungen zur Zufriedenheit besitze, und daß es ganz in meiner Macht liegt, mich sehr glücklich zu fühlen!« antwortete ich ihr heiter. Sie sah mich mit dem Lorgnon an, das sie selbst im Zimmer zu brauchen pflegte, wenn sie Etwas genau beobachten wollte, und sagte mit großer Herzlichkeit:[258] »Vergiß das doch nicht, wenn es Dir einmal wieder nicht nach Wunsch gehen sollte!«

Ich habe an diese Worte in spätern Jahren oftmals zu denken Gelegenheit gehabt, und man könnte sie fast einem Jeden zurufen, denn Jeder hat in seinem Leben wohl einmal die Empfindung voller Zufriedenheit gehegt, und in derselben die Vorzüge gerecht gewürdigt, welche er als einen unverlierbaren Besitz in sich zu bezeichnen hat: mag derselbe in Anlagen des Geistes oder des Gemüths, oder in irgend einem andern ihm innewohnenden Guten bestehen. Und wenn der italienische Dichter mit seinem Ausspruch recht hat, daß die Erinnerung an glückliche Tage im Leiden eine Steigerung des Schmerzes ist, so ist diese Rückerinnerung doch wieder auch der einzige vorhaltige Trost, und das Goethesche »ich besaß es doch einmal« ist nicht weniger wahr, und ohne alle Frage aus einer milderen Seele und aus tieferer Weisheit hervorgegangen, als das Wort des Italieners.

Ich fand meine sämmtlichen Bekannten, und namentlich die ältern Personen beinahe alle in Berlin beisammen, denn man betrachtete es achtzehnhundert vierundvierzig durchaus noch nicht als eine Nothwendigkeit, alljährig den Ort zu wechseln und Berlin zu verlassen, um eine Weile in frischer Luft zu athmen und unter veränderten Verhältnissen zu leben. Allerdings war das Herauskommen aus der Stadt in das Freie damals auch noch viel leichter als jetzt, wo die neuen Stadttheile sich weit über das Gebiet hinaus erstrecken, das vor fünfzehn Jahren noch von Gärten und Kornfeldern eingenommen wurde. Man hatte daher damals in Berlin zur Sommerzeit[259] noch nicht jenes Gefühl der Vereinsamung, des Uebriggebliebenseins, wie Kinder es hegen, wenn sie zu einer Spazierpartie nicht mitgenommen worden sind; und man konnte auch im Sommer Besuche machen gehen, ohne überall verhängte Fenster, eingepackte Möbel und verschlossene Thüren zu finden.

Eine der ersten von meinen Bekannten, bei der ich vorsprach, war Frau Caroline von Woltmann, weil ich ihr Grüße von gemeinsamen Bekannten auszurichten hatte. Ich traf sie wie fast immer an ihrem Schreibtisch. Sie wohnte in der Dorotheenstraße, in dem hohen Parterre des Hauses, hinter welchem sich die große Seeger'sche Reitbahn befindet, und das eben deßhalb etwas sehr Unruhiges und Unwirthliches hat. Unwirthlich erschienen mir immer auch die beiden Stuben, in welchen Frau von Woltmann sich aufhielt. Sie war eine Dame von mehr als sechszig Jahren, und Gestalt und Gesicht zeigten, daß ihr Aeußeres angenehm gewesen sein mußte. Auch nannten ihre Zeitgenossen sie als eine eben so hübsche als geistreiche Frau, nur über ihr Wesen hörte man die entgegengesetztesten Urtheile aussprechen. Einer ihrer Jugendbekannten schilderte sie als eine unruhige, stets nach neuen Eindrücken begierige Frau, und liebte es zu erzählen, wie Frau Caroline sich in Abwesenheit ihres ersten Mannes, des Kriegsraths Carl Müchler, aus dessen im Thiergarten belegener Wohnung entfernt habe, um damit ihre Scheidung einzuleiten, und ihre Verbindung mit Herrn von Woltmann vorzubereiten. Andere rühmten dagegen mit höchster Wärme die Treue, welche sie ihren Freunden bewährte, und die große, aufopfernde und nicht[260] zu ermüdende Hingebung, die sie ihrem zweiten Gatten in den schwierigsten Lebenslagen bis an seinen Tod bewiesen hätte.

Ich war ihr in einem befreundeten Hause vorgestellt worden, und ihre erste Anrede hatte für mich etwas Auffallendes und Ueberraschendes gehabt. »Ich beneide Sie recht darum,« hatte sie nach den Worten der ersten Begrüßung zu mir gesagt, »daß Sie eine Jüdin, und daß Sie also gleich mit gesunder Vernunft auf die Welt gekommen sind. Wir Andern brauchen fünfzehn Jahre, um den Wust in unsere Köpfe zu bringen, den man Glauben nennt, und fünfzehn andere Jahre, um ihn, wenn wir Glück haben, gründlich aus uns herauszubringen. Das ist ein ungeheurer Zeitverlust, der sich gar nicht wieder ersetzen läßt!«

Die Aeußerung, so richtig sie mir erschien, war doch so ungewöhnlich, und dabei für eine Frau in vorgerückten Jahren, die ich nothwendig in ganz entgegengesetzten Traditionen aufgewachsen glauben mußte, denn sie gehörte durch ihre Geburt einer sehr angesehenen Beamtenfamilie an, so stark ausgedrückt, daß sie mir gesucht und gewaltsam dünkte. Dazu kam, daß ich ein gewisses Mißtrauen gegen die Personen hegte und noch hege, die es für nöthig halten, sich gleich bei den ersten Berührungen mit Fremden als geistreich oder als irgend etwas Besonderes kund zu geben. Es ist das eben so unheimlich für mich, wie das Beschwören einer Thatsache, deren Wahrheit zu bezweifeln man nicht geneigt gewesen ist; und wie man bei einem schwörenden Menschen unwillkürlich daran denkt, daß er wohl zuweilen lügen müsse,[261] weil er es nöthig finde, die Wahrheit so besonders zu erhärten, so hatte ich Frau von Woltmann gegenüber die Empfindung, daß sie entweder erst neuerdings von ihren Vorurtheilen gegen die Juden zurückgekommen sei, oder daß sie sich eben erst von den Dogmen losgesagt haben möchte, welche sie so rückhaltlos gegen eine Fremde preisgab.

Man sagte mir jedoch, als ich diese Ansicht aussprach, daß ich mich in beiden Voraussetzungen getäuscht hätte, und ich lernte das später selbst einsehen. Indeß der erste Eindruck ließ sich nicht ganz verwischen, und so oft ich Frau von Woltmann wieder sah, fielen mir eine gewisse Herbigkeit, eine gewisse Gewaltsamkeit in ihrem Wesen auf. Sie kam mir nie recht wie eine Frau vor, obschon sie weder in ihrem Aeußern noch in ihrer Stimme etwas Männliches hatte; und damit ich es mit dem Ausdruck nenne, mit welchem ich es für mich selber bezeichnete, sie machte auf mich stets den Eindruck eines in seinen Studien und Gedanken aufgegangenen Sonderlings.

Als ich sie kennen lernte, hatte ich von ihren Schriften Nichts gelesen. Die zwei Bände von ihren Novellen, welche sie mir dann borgte, zogen mich nicht wesentlich an, obschon sie vortrefflich geschrieben waren, und sie selber legte in jener Zeit durchaus keinen Werth auf diesen Theil ihrer Arbeiten. Sie war auf philosophische Betrachtungen und Studien gerathen, sprach mit mir, wenn ich sie allein traf, nur von philosophischen Doktrinen und Spekulationen, und war sicherlich in bester Absicht bemüht, mir den gleichen Weg für meine Thätigkeit vorzuschlagen.[262]

Sie lebte, so viel ich weiß, von einem geringen Einkommen und hatte, was mir für eine Frau von mehr als sechszig Jahren sehr beklagenswerth erschien, keine Bedienung. Was sie bedurfte, besorgte eine Aufwärterin, und da man sie von Seiten ihrer Verwandten nicht gern allein wissen wollte, so hatte sie, »weil ein Frauenzimmer ihr nur eine Last und eine Langweile sein würde«, einem armen jungen Studenten ein kleines Stübchen bei sich eingeräumt. Unglücklicher Weise hieß derselbe Strumpf; und da Frau von Woltmann viel und sehr lebhaft sprach, so war es bisweilen von höchst komischer Wirkung, wenn in ihren Reden sich die Worte: »mein Strumpf sagt« mehrfach hinter einander wiederholten. Ich war damals noch sehr zum Lachen geneigt, und hatte bei ihren philosophischen Auseinandersetzungen immer mit meiner Lachlust zu kämpfen, wenn der unglückliche »Strumpf« als Autorität angeführt wurde.

Das Gepräge gelehrter Sorglosigkeit, dessen ich vorhin in Bezug auf Frau von Woltmann erwähnte, war auch ihrem Zimmer aufgedrückt. Es sah nicht unsauber, nicht unordentlich in demselben aus, obschon es verwohnt und nur mit dem Nothdürftigen meublirt war, aber es war darin keine Spur von jenem Bedürfniß nach Schönheit und Zierlichkeit zu erkennen, welches dem ärmlichsten Raume ein freundliches Ansehen zu geben vermag. Ein Blatt weißes Papier, auf dem ein Blumentopf steht, eine weiße Serviette auf einem alten Tische reichen oft vollkommen aus, ein Zimmer freundlich und anmuthig zu machen, und es ist selten, daß Frauen dieses Sinnes für das Zierliche völlig entbehren. Es lag etwas durchaus[263] Freudloses über der Wohnung und über der Frau, während sie doch sehr heiter und lebhaft plaudern konnte, aber auch in diesen Plaudereien kam leicht ein herber Ton zum Vorschein.

Sie hatte viel erlebt, viel Menschen gekannt, und sie erzählte sehr gut; ja sie verstand im Gespräche das Charaktrisiren meisterhaft. Es begegnete ihr jedoch häufig, daß sie von den Personen, deren Bild sie mit großer Vorliebe entworfen, und das sie mit bedeutenden Vorzügen ausgestattet hatte, plötzlich eine Menge Fehler herzuzählen, und sie in einer Weise darzustellen begann, welche nicht nur mit der allgemeinen Ansicht über die betreffenden Charaktere, sondern selbst mit ihren eigenen Aussagen über dieselben im Widerspruch standen. Das geschah namentlich fast bei allen den Personen, welche in näherm oder fernerm Zusammenhange mit Rahel Varnhagen gewesen waren, und wenn Frau von Woltmann bemerkte, daß diese Mittheilungen mir nicht angenehm waren, daß sie mich überraschten und mir nahe gingen, so sagte sie mit einem eigenthümlichen trocknen Lachen: »Ja das ist einmal nicht anders! Die Menschen waren damals keine Engel und werden auch künftig keine werden!«

Ich glaube es muß nicht leicht gewesen sein, mit ihr zu leben. Sie fühlte sich von ihren Zeitgenossen offenbar nicht genug anerkannt, und besaß trotz ihrer philosophischen Studien nicht Philosophie genug, sich darüber zu beruhigen und zu trösten. So hatte sie sich denn auch sowohl unter den Philosophen, wie unter den Dichtern und Politikern einen ganz besondern Kreis für ihre Verehrung ausgewählt; und wie Thomas Carlyle sich einen[264] Heldencultus aufgerichtet, so hielt sich Frau von Woltmann an den Cultus der verkannten Genie's, der bei ihr indeß die schöne und edle Folge hatte, daß sie bei beschränkten persönlichen Verhältnissen stets bereit und eifrig war, denjenigen beizustehen und zu dienen, welche die große Menge nach ihrer Meinung nicht zu würdigen, und denen die Zeit nicht gerecht zu werden verstand. Sie war entschieden eine Frau von Geist und Herz und sehr unterhaltend, indeß die Grazien waren bei ihr ausgeblieben, und es wollte mich bedünken, als ließe sich nicht recht an ihrem Herzen ruhen!

Sie arbeitete in jenem Sommer noch viel, besorgte auch später noch die Herausgabe des Tagebuches, welches der junge Prinz Waldemar von Preußen auf einer Reise in den Orient und nach Indien geführt hatte, aber sie wurde im Laufe der nächsten Jahre von wiederholten Schlaganfällen heimgesucht, ihre Lebhaftigkeit und Klarheit ließen nach, und sie starb dann im Herbste von achtzehnhundert siebenundvierzig nach recht schwerem Leiden.

Da ich eben jetzt mich der Unterredungen erinnerte, in denen Frau von Woltmann mir die philosophische Spekulation als die einzige Arbeit anempfahl, welche ihren Lohn in sich trage, fällt es mir wieder einmal ein, wie viel Noth man hat, sich beim Beginne einer Laufbahn nicht von sich selber und von seinem Ziele abwendig machen zu lassen, und ich denke dabei namentlich an die Mühe, welche einzelne Personen sich in jener Zeit gegeben haben, mich von meinem sogenannten Unglauben zurückzubringen und zum Glauben an die Dogmen des Christenthums zu bekehren.[265]

Sonderbar genug waren es, so Männer als Frauen, selbst Bekehrte, das heißt vom Judenthum zum Christenthume übergetretene Personen, die sich dieser Aufgabe unterzogen.

Während Frau von Woltmann mich so unumwunden glücklich gepriesen, daß ich den schweren Weg vom Glauben zum Zweifel und zur Prüfung niemals durchzumachen gehabt, beklagten diese Wohlmeinenden es, daß mein Talent (ich brauche ihre Worte) im Dienste der Unwahrheit verwendet werden sollte. Da ich in meinem zweiten Roman unter Anderm auch das geistige Verhältniß einer jungen Jüdin zum Christenthum behandelt hatte, so lag der Gedanke nahe, daß ich in diesem Theile meiner Darstellung ein selbst und innerlich Erlebtes geschildert. Ich hatte der Sache auch nicht Hehl, und verbarg es nicht, daß mir die Bekehrung eines Juden, zum Glauben an die christlichen Dogmen, eben so räthselhaft dünke, als meine Unfähigkeit an die Dogmen zu glauben meinen Bekehrern nur immer erscheinen könne. Und da sie oftmals sehr in mich drangen, erklärte ich ihnen unumwunden, daß ich es für einen im Judenthum gebornen und unter Juden erwachsenen Menschen, wenn er einen klaren Verstand habe, für eine Unmöglichkeit halte, sich einem Wunderglauben irgend einer Art zu überlassen. Mir bleibe daher den gläubig gewordenen Juden gegenüber auch nur der Ausweg, sie in einer Selbsttäuschung befangen zu wähnen, wenn ich nicht Schlimmeres von ihnen denken sollte.

Meine beiden eifrigsten Bekehrer waren ein paar greise Männer, deren Stellung im Leben und im Staatsdienst[266] eine sehr bedeutende, deren Charaktere durchaus achtungswerthe waren, und die mit mir weit mehr Nachsicht hatten, als ich Geduld besaß. Wenn ich sie aber eines geflissentlich genährten Selbstbetruges schuldig glaubte, machten sie mir dafür einen geistigen Hochmuth zum Vorwurf, der nach ihrer Meinung in ruhiger Selbstgefälligkeit die Mühe der Betrachtung, und die Demüthigung einer einzugestehenden Umkehr von sich wies; und wie oft und zuversichtlich ich sie auch des Gegentheils versichern mochte, wir rückten einander deßhalb um keine Linie näher.

»Wie ist es möglich, nicht zu glauben?« fragten sie mich; – »wie ist es möglich, daß Sie glauben?« fragte ich. »Wo finden Sie Trost, wo eine Stütze, wo eine Zuflucht in den Stunden des Leidens, der Noth und der Versuchung?« riefen sie mir zu; und ich hatte ihnen darauf Nichts zu entgegenen, als: »ich trage, was das Leben mir zu tragen giebt, ich beruhige mich mit dem Hinblick auf die Bedingungen des menschlichen Daseins und mit dem Hinblick auf das Unabänderliche; und wenn ich mich versucht fühlen sollte, ein Unrechtes zu thun, so würde ich allerdings keinen andern Rückhalt haben, außer dem Rechtsgefühl in meinem Innern, und der durch Erfahrung gewonnenen Ueberzeugung, daß jedes Unrecht den Keim seiner Bestrafung in sich trägt.«

Damit wollte man sich indessen nicht beruhigen. Man meinte, ich habe nur fremde Ansichten in mich aufgenommen, meine Ueberzeugungen gehörten nicht mir an, ich sei zu jung für solche Selbstständigkeit. Aber man vergaß, daß ich dreiunddreißig Jahr alt, und von frühster Jugend auf an ernstes Nachdenken gewöhnt war.[267] Man glaubte mich sehr gefährdet und meinte es sicherlich wohl mit mir.

Nun ist es guten Menschen, und edle Menschen waren jene beiden Männer, natürlicher Weise ein Gegenstand des Bedauerns, Andern nicht zugänglich machen zu können, was sie selber beglückt. Nichts desto weniger hat es aber etwas Quälendes, sich immer wieder zum Suchen nach Frieden aufgefordert zu sehen, wenn man in sich beruhigt und zufrieden ist. Der Eine der beiden Herren, welche sich mein Seelenheil so sehr am Herzen liegen ließen, der Geheime Justizrath S. sagte mir, als ich mich eines Tages in seinem Hause und bei seinen Töchtern befand, er mache an mir eine eigene Erfahrung. In seiner Jugend habe er sich lebhaft für eine Frau interessirt, deren Wesen ihn nicht habe zur Ruhe kommen lassen. Habe er sich fern von ihr befunden, so habe er sie geliebt, sei er in ihrer Nähe gewesen, so habe er nicht begreifen können, wie er sie zu lieben vermöge; mit mir gehe es ihm entgegengesetzt. Mein Denken, meine Art das Leben zu erfassen, seien ihm durchaus fremd, ja antipathisch, wenn er sie sich vorstelle; sähe er mich vor sich, so komme ihm mein Wesen und Denken einfach und liebevoll vor, er habe mich dann selbst lieb, habe Zutrauen zu mir, und beruhige sich damit, daß auch für mich die Stunde kommen werde, in welcher ich mir nicht mehr genug sein, und in welcher ich mich zu dem Erlöser wenden würde, der den Menschen auf den wunderbarsten Pfaden zu finden wisse.

Das war von dem Greise so ehrlich und so gut gemeint, daß ich hätte herzlos sein müssen, um es nicht[268] anzuerkennen, und gelassen alle seine Ermahnungen hinzunehmen. Ein Anderer aber, der alte Kriminaldirektor H., der eine eifrige Natur war, und sich eine Zeitlang gewöhnt hatte, mich Sonntags, wenn er aus der Kirche kam, in meiner Wohnung aufzusuchen, wünschte mir eines Tages, eben weil er eine aufrichtige Freundschaft für mich hege, daß mir das Leben seine Nachtseiten zeigen, daß schwere Schicksalsschläge mich treffen und beugen, und daß ich durch die bittre Schule des Leidens zum Lichte geführt werden möge.

Ich war wirklich empört über diesen frommen Wunsch, ja er widerte mich an. Nicht als hätte ich dem Eiferer etwa die Kraft zugetraut, welche die Italiener dem Jettatore, dem mit bösem Blick Behafteten eigen glauben: die Kraft ihren Mitmenschen erfolgreich Böses anzuwünschen, aber der grausame und duldungslose Fanatismus entsetzte und beleidigte mich, und ich fühlte mich versucht, Wunsch gegen Wunsch zu stellen, als der Hinblick auf des Mannes Jahre mir Schweigen und Ruhe auferlegte.

Die nächste Folge der oft wiederkehrenden Gespräche war jedoch, daß ich mich vielfach in meinem Innern mit den großen ethischen Gedanken, wie mit den Dogmen des Christenthums beschäftigte, und mir es klar zu machen versuchte, wie es jenen Männern möglich geworden sei, in reifen Jahren einen Mythus in sich als Sache der Ueberzeugung aufzunehmen, nachdem sie sich durch ihre wissenschaftlichen Studien und Arbeiten an ein strenges Prüfen und Analysiren gewöhnt hatten; und warum es mir, welche weder die allgemeine Bildung und die philosophischen[269] Kenntnisse, noch die durch juristische Uebung des Verstandes geschulte Unterscheidungskraft der beiden Greise besaß, unmöglich fiel, an Etwas zu glauben, was ich nicht verstehen konnte. Ich erwog es oftmals hin und her, und kam damals zu keinem Schlusse, kam zu keinem Vertrauen in die Ueberzeugungstiefe der Bekehrten, wie sie zu keinem festen Zutrauen in den Ernst meines Nachdenkens gelangen konnten, weil sie und ich einen Faktor in unserer Betrachtung mitzuzählen unterließen – die Epoche, in der sie sich bekehrt hatten, und die Zeit, in welcher sie von mir die Wandlung meiner Ueberzeugungen verlangten.

Alle jene Personen, die Männer wie die Frauen, waren zu Ende des vorigen oder zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts, also in einer Zeit zum Christenthume übergetreten, in welcher, wenn man so sagen darf, das Gemüthsleben in der Welt die Herrschaft geführt, in welcher man in vielen Kreisen das Empfinden über das Denken gestellt, und müde der überreizten Sinnlichkeit, müde des leichtfertigen Spottes über das Ernste und Hohe, wie er von Frankreich als Mode durch die Welt gegangen war, sich nach einer Zuflucht vor sich selber: nach einem Haltpunkt gesehnt hatte, an dem man Ruhe und Besinnung, und hauptsächlich sich selber wieder finden konnte.

Die Unerbittlichkeit der französischen Revolution machte ihrer Zeit einen ähnlichen Abschnitt in der Schrankenlosigkeit des Lebens, wie er in der römischen Cäsarenzeit durch das Christenthum gemacht worden war. Nur daß der Einschnitt jetzt plötzlicher und gewaltsamer sichtbar wurde, und daß die Ideen von der Gleichheit der Menschen,[270] welche das Christenthum als eine Lehre der Liebe in die Welt gebracht, bei der erneuerten Rückkehr zu dieser Lehre, aus dem Jenseits in das Diesseits übertragen wurden. Man verwandelte die Doktrin von der Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen vor Gott, in den Grundsatz der Gleichheit vor dem Recht und vor dem Gesetz; und versuchte es in der ersten gewaltsamen Aufregung, eine Idee der Liebe mit dem Beil der Guillotine zur Ausführung zu bringen.

Schaudernd vor dem Wahnsinn dieses blutigen Beweismittels, wendeten die weichen Herzen, welche die gewaltsamsten Schicksalswechsel und die Wandelbarkeit des irdischen Glückes vor Augen sahen, sich damals von der auf die Erde verpflanzte Gleichheitstheorie ab, um sie dort aufzusuchen, wo sie im Geiste gepredigt ward. Erschreckt durch den jähen Umsturz der Zustände, dessen Zeugen sie gewesen waren, suchten sie ein Unantastbares, ein Ewiges. Ganz dieselben Beweggründe, welche zur Zeit der Cäsaren die Herzen der Menschen nothwendig zu einer Lehre der Jenseitigkeit und der hoffenden und hingebenden Liebe geführt hatten, bewirkten nach dem blutigen Ausgang der französischen Revolution die Bekehrung vieler Juden zum Christenthume, den Uebertritt zahlreicher Protestanten in die katholische Kirche, und die Möglichkeit an Wunder zu glauben. Weil man sich gedrungen fühlte, auf erlösende Wunder zu hoffen, stürzten die phantasievollen Naturen sich in den Mystizismus, und die lyrisch gestimmten Seelen wurden geneigt, in den Verhältnissen, welche der Bildung und Cultur am Fernsten standen, die Ungetheiltheit der Empfindung, die Lebenskraft und Tüchtigkeit[271] zu suchen, die man in sich selber nur zu schmerzlich entbehrte. Die Vorliebe für ein romantisch erfundenes Volksleben, die Romantik und die Hinneigung für das Volksthümliche in der Vergangenheit, entstanden aus Abneigung gegen das Volk, das man vor Augen hatte. Es waren so grausenhafte Dinge unter der Herrschaft der Göttin der Vernunft geschehen, daß man sich willig seiner prüfenden Vernunft entäußerte, und der Hochmuth und die Selbstsucht der niedergeworfenen Aristokratie waren so groß, und in ihren Folgen für sie selbst so furchtbar gewesen, daß Demuth und Selbstentäußerung wie Rettungsmittel dagegen erscheinen mußten.

In unserer Zeit ist das anders. Wer vorurtheilsfrei um sich blickt, kann es nicht verkennen, daß der eigentliche Geist des Christenthums seit den Tagen der französischen Revolution tiefer als je zuvor in den Herzen der Menschen Wurzel geschlagen hat, daß er zu einer Bethätigung zu einem maaßgebenden Einfluß gelangt ist, wie noch niemals zuvor. Die brüderliche Zusammenhörigkeit der Menschheit ist für jeden Verständigen Sache der unwiderleglichsten Ueberzeugung geworden. Ueberall bethätigt dies die Vorsorge, welche man für die Entwicklung des Volkes, für sein geistiges und leibliches Gedeihen trägt, überall zeigt sich in den Associationen der verschiedensten Art die Frucht der Liebe, welche den Kern des Christenthumes ausmacht; und es giebt jetzt kaum noch einen Menschen von Verstand und Herz, welcher die Grundlehren des Christenthumes, in diesem Sinne, nicht als den Ausgangspunkt seines Denkens, nicht als die Richtschnur seines Handelns anerkennte. Alles, was in den letzten[272] dreißig Jahren für die Erhebung und Versittlichung der Menschheit geschehen, ist fraglos die Frucht des in Thätigkeit gesetzten Geistes des Christenthums, und sich zu diesem bekennen, heißt jetzt eingestehen und bekennen, daß man es verdiene, ein Mensch zu sein.

Anders ist es mit dem Bekenntniß zu den Dogmen des Christenthums. Alexander von Humboldt sagt in einem Briefe an Varnhagen von Ense: »Alle Religionen setzen sich aus drei völlig verschiedenen Theilen zusammen: aus einer Sittenlehre, die überall dieselbe und sehr rein ist, aus einem geologischen Traum, und aus einer Sage oder einem historischen Roman, welchem Letzteren überall die höchste Wichtigkeit beigelegt wird.«

Nun will mich's aber bedünken, als ob für gewisse Zeiten und für Menschen von verschiedenen Anlagen, die Werthschätzung dieser drei Elemente nicht stets die Gleiche bleiben könne; und das zogen die Personen, welche mich für die Geologie und für den Roman des Christenthums, oder wie Arnold Ruge es so unvergleichlich richtig nennt, für die jüdische Literatur und die syrischen Mythen zu gewinnen strebten, nicht gebührend in Betrachtung. Niemand entzieht sich der Erkenntniß seiner Zeit, wenn er sich nicht absichtlich gegen sie verschließt; denn die Erkenntniß hat das mit den Pflanzen gemein, daß ihr Saame von der Luft getragen, und befruchtend verstreut, hier und dort als neue Erkenntniß aufgeht, bis eine Saat in Aehren steht, von der man nicht sagen kann, wer sie gesät hat. Sie vergaßen, daß Strauß und Feuerbach gelebt, geschrieben und gewirkt hatten, daß die Entstehungsgeschichte der Erde in allen Handbüchern auf geologische[273] Grundsätze zurückgeführt worden war; daß kein Grund mehr für uns existirte, die Uebung der Vernunft, die Prüfung mit dem Verstande von uns zu weisen, und sie übersahen die Werkthätigkeit der christlichen Liebe, die sich um sie her kund gab, weil sie sich nicht zu der Duldsamkeit emporschwangen, welche dem Einzelnen zugesteht, sich nach seinem Bedürfniß und nach seiner Möglichkeit mit der Welt, mit dem Leben und mit seinen Pflichten in das Gleiche zu setzen.

Mir ist es stets als eine Unvorsichtigkeit erschienen, einen Menschen von seinem Festhalten an der Historie und an den Dogmen des Christenthums abwendig zu machen, solange er seine Beruhigung darin fand; aber eben so unrecht habe ich es immer gefunden, wenn man Diejenigen des geistigen Selbstgenügens oder gar des Leichtsinnes bezüchtigte, welche nur dasjenige für wahr zu halten vermochten, was vor dem Urtheil ihres Verstandes bestehen konnte, und wenn man eine Zeit und ein Geschlecht verdammte, deren Streben nach Wahrheit und deren werkthätige Menschenliebe sich augenfällig kund geben.

Zuletzt aber ist es dem Menschen sicherlich besser, selbstständig zu zweifeln und zu irren, als, ohne Benutzung seiner angeborenen Verstandeskräfte, anzuerkennen und zu glauben; denn das Irren und das Streben erhalten den Geist in Bewegung und Thätigkeit, und Bewegung ist Alles![274]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 250-275.
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