15.

Von der Phyllide

[10] Eines Morgens schaut ich gehen

Phyllis vor den Rosenstrauch,

Da sie nach gewohntem Brauch

Seine Zierden sahe stehen.

Damals kont ich nicht vergleichen[10]

Welches unter ihnen wol,

Weil sie beid an Schönheit voll,

Von dem Siege solte weichen.

Ob die Phyllis angenommen

Von den Rosen ihre Zier,

Oder ob vielleicht von ihr

Solche solchen Schein bekommen,

War gar übel zu bescheiden;

Denn ich hatt in ihren Glantz

Mich vertieffet also gantz,

Muste nur die Augen weiden.

Endlich hab ich doch erfahren,

Als der Sonne güldnes Rad

Traff den letzten Tages-Grad,

Daß die Rosen Diebe waren;

Weil sie hatten wollen gleichen

Und der Phyllis stehlen ab

Ihrer Farbe schönste Gab,

Musten bald sie drauff verbleichen.

Quelle:
Friedrich von Logau: Sämmtliche Sinngedichte, Tübingen 1872, S. 10-11.
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Die tapfere Wahrheit. Sinngedichte. Insel-Bücherei Nr. 614
Sinngedichte / Von Logau, Friedrich (German Edition)