74.

Heuchler

[178] Kirchen-gehen, Predigt-hören,

Singen, beten, andre lehren,

Seuffzen und gen Himmel schauen,

Nichts als nur vom Gott-vertrauen

Und vom glauben und vom lieben

Und von andrem Guts-verüben

Reden führen: ich wil meinen,

Die es thun, Gott sind die deinen.

O, noch lange nicht! im Rücken

Schmützen und von fornen schmücken,

Seinen Nechsten hassen, neiden,

Dessen bestes stets vermeiden,

Dessen Nachtheil emsig stifften,

Zungen-Honig, Hertzens-Gifften,

Jenes aussen, dieses innen

Lieblich, tückisch führen künnen:

Meinstu, daß dem Christen-Leben

Beydes ähnlich sey und eben?

Gott hat neben sich gesetzet

Auch den Nechsten; wird verletzet

Durch den Dienst, der ihn gleich liebet

Und den Nechsten übergibet;

Halbe Christen sind zu nennen,

Die da Gott und Nechsten trennen.

Quelle:
Friedrich von Logau: Sämmtliche Sinngedichte, Tübingen 1872, S. 178.
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Die tapfere Wahrheit. Sinngedichte. Insel-Bücherei Nr. 614
Sinngedichte / Von Logau, Friedrich (German Edition)