39.

Vom Mißbrauch der Sing-Kunst

[318] Was denckstu, lieber Gott, wann ietzund deine Christen

In deinem Hause dir nach ihres Ohres Lüsten

Bestellen Sang und Klang? Die krause Melodey

Wird angestimmt zum Tantz und süsser Buhlerey;

Die Andacht acht man nicht. Der geilen Brunst Gefieder

Erwächst und steigt empor durch unsre freche Lieder;

Der stille Geist ersitzt: Wir hören viel Geschrey;

Die Einfalt weiß nicht viel, obs süß, obs sauer sey,

Obs Thier, obs Menschen sind, die ohne Sinn so klingen,

Ob seuffzen einer soll, ob einer so soll springen.

Man wiegert den Discant; man brüllet den Tenor;

Man billt den Contrapunct; man heult den Alt hervor;

Man brummt den tieffen Bass, und wann es wol soll klingen,

So klingt es ohne Wort, wil keine Meinung bringen;

Man weiß nicht, ob es Danck, man weiß nicht, ob es Preis,

Man weiß nicht, obs Gebet und was es sonsten heiß.

Was denckstu, lieber Gott, wann wir so sehr uns regen

Und sagen doch gar kaum, was uns ist angelegen?

Wir höhnen dich nur mit, daß wir zu dir so schreyn

Und wollen, was es sey, doch nicht verstanden seyn.

Quelle:
Friedrich von Logau: Sämmtliche Sinngedichte, Tübingen 1872, S. 318.
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Die tapfere Wahrheit. Sinngedichte. Insel-Bücherei Nr. 614
Sinngedichte / Von Logau, Friedrich (German Edition)