4.

[354] Vor alter Zeit lebte ein Hausvater in einem blühenden Lande, der hatte drei Töchter, die abwechselnd die Kälber hüten mußten.

Als einst die älteste Tochter beim Hüten eingeschlafen war, ging ein Kalb verloren. Sie suchte das Kalb und kam zu einem Hause mit rother Thüre und ging hinein. Erst kam sie zu einer goldenen, dann zu einer silbernen, dann zu einer ehernen Pforte, und fand nun einen Käfig mit Gold und in dem Käfig saß eine weiße Eule.

»Was willst du?« fragte der Vogel.

»Ich, war die Antwort, habe ein Kalb verloren, und bin gegangen es zu suchen.«

Der Vogel sagte darauf: »Werde meine Frau, dann sollst du dein Kalb finden, sonst aber nicht.« Das Mädchen aber versetzte: »Eine Vogelfrau mag ich nicht werden, und sollt ich das Kalb nimmerdar wieder erlangen, denn die Vögel gehören zum Vieh.«

Am folgenden Tage war die zweite Tochter eingeschlafen und ein Kalb ging verloren. Sie kam auch zum Vogel und sollte seine Frau werden, sie aber sagte: »Ich mag nicht.«

Als es am dritten Tage der jüngsten Schwester nicht anders erging und sie zum Vogel ging, sagte dieser zu ihr: »Werde meine Frau, dann sollst du dein Kalb haben.« Hierauf sprach[354] das Mädchen: »Dein Wille möge geschehen; ich bin es zufrieden.« So wurde sie denn die Frau des Vogels.

Nach einiger Zeit geschahe es, daß ein dreizehntägiges Fest bei einem Tempel gefeiert wurde, und sich zum Zusehen eine Menge Menschen versammelte, die Vogelfrau auch mit darunter.

Unter den Weibern war sie die Erste, und unter den Männern war Einer, der auf einem Schimmel um die Versammlung herumritt und alles Volk rief: »Der ist der Erste.«

Der Vogel fragte die zurückgekommene Frau: »Welche waren wohl unter den versammelten Männern und Weibern die Ersten?« Die Frau sprach: »Unter den Männern war es Einer, der auf einem Schimmel herumritt, den ich aber nicht kannte, unter den Weibern aber war ich es selbst wohl.«

Daßelbe geschahe eilf Tage immer wieder. Am zwölften Tage aber saß die Vogelfrau neben einer Alten, die fragte: »Wer wird wohl heute der Erste sein?« Darauf versetzte sie: »Unter den Männern ist es der auf dem Schimmel, unter den Weibern bin ich es. O, wär ich mit diesem Manne verbunden, aber mein Gemahl ist nur ein Vieh, denn er ist nur ein Vogel.«

So sprach sie weinend. Aber die Alte versetzte: »Sprich nicht dergleichen Worte. Der Reiter auf dem Schimmel ist ja eben dein Gemahl.

Geh morgen nicht in die Versammlung, sondern verbirg dich im Hause, bis dein Gemahl das Vogelhaus verläßt, den Schimmel aus dem Stalle zieht, und in die Versammlung reitet. Verbrenne alsdann das Vogelhaus, so wirst du ihn immer in seiner wahren Gestalt erblicken.«[355]

Die Frau that, wie ihr gerathen ward und verbrannte das Vogelhaus. Als der Mann nun nach Hause zurückkam, wunderte er sich, daß die Frau schon da war. Dann fragte er: »Wo ist mein Vogelhaus?« Die versetzte: »Ich habe es verbrannt.« – Der Mann aber klagte und sprach: »Himmel! das ist sehr übel. Das Vogelhaus war meine Seele; gleichwie bei Andern ihr Gold, ihre Kleider, ihr Ehrenstand ihre Seele sind.« Da klagte die Frau mit ihm und sprach: »Was ist nun wohl anzufangen?« Darauf versetzte der Mann: »Jetzt gibt es keinen andern Rath mehr, als daß du hinter die Thüre dich setzest, und Tag und Nacht mit dem Schwerdte raßelst. Hört das Raßeln auf, so kommen die Tschädkürs und reißen mich fort. Sieben Nachtzeiten kämpfe ich gegen die Tschädkürs.«

Nach solchen Worten sperrte die Frau ihre Augenlieder mit Hölzern auseinander und nahm das Schwerdt und raßelte damit. So durchwachte sie sechs Nachtzeiten. Aber in der siebenten Nacht fielen ihr die Augen nur einen halben Augenblick zu, und plötzlich rückten die Tschädküren den Vogelmann hinweg. Da lief ohne Nahrung, sinnlos und jammernd die arme Vogelfrau umher und rief: »O mein Vogelmann! mein lieber, lieber Vogelmann!«

Als sie lange, lange gesucht, hörte sie des Gemahls Stimme aus einem Fluße. Sie lief auf den Fluß zu und erblickte den Gemahl neben einem Tschädkürriesen, der hatte siebentausend Paar Stiefeln auf dem Rücken. »Ueber dein Wiedersehen und deine Treue bin ich gar hoch erfreut! sprach der Vogelmann. Ich muß Waßer für die Tschädküre tragen, und habe alle diese siebentausend Paar Stiefeln bei dieser Arbeit verbraucht. Hast du mich lieb und willst mich wieder haben, so eile zurück und[356] baue mir ein neues Vogelhaus, und weihe es mit Seegenssprüchen zur Seele. Dann kann ich zurück.«

Schnell wie der Wind verschwand er bei diesen Worten. Die Frau aber eilte nach Hause, machte ein Vogelhaus und weihete es ein.

Da erschien der Vogelmann auf dem Dache des Hauses und ging in sein Vogelhaus. Aber da erhielt er seine Gestalt, die er reitend auf dem Schimmel gehabt hatte, und sagte: »Nun bleib ich immer bei dir, wie ich jetzt bin; denn du hast mir durch deine treue Liebe die Seele wiedergegeben, denn treue Liebe ist die Seele des Lebens, und darum bist du meine Seele von jetzt an.«

Quelle:
Johann Andreas Christian Löhr: Das Buch der Maehrchen für Kindheit und Jugend, nebst etzlichen Schnaken und Schnurren, anmuthig und lehrhaftig [1–]2. Band 2, Leipzig [ca. 1819/20], S. 354-357.
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