»Freunde in der Noth

Gehn hundert auf ein Loth«

»Ein treuer Freund liebet mehr und stehet fester, denn ein Bruder,« sagt Salomo in seinen Sprüchen und stellt mit diesen Worten die Freundschaft in das rechte, wahre Licht.

Sie ist die schöne, freundliche, ruhige und besonnene Schwester der Liebe. Während das Urtheil der Letzteren oft durch bestechende Aeußerlichkeiten, durch die Aufregung der Gefühle und den Rausch des Augenblickes beeinflußt und benachtheiligt wird, prüft die Freundschaft mit Selbstbewußtsein und unparteiischem Auge und bietet nur nach ernster und reiflicher Erwägung ihre Hand zum Bunde dar. »Liebe macht oft blind,« sagt der Volksmund, und die Verwandtschaft ist zufällig; warum wollen wir uns also wundern, daß wir dem Freunde mehr trauen und auf ihn mehr Verlaß haben können als auf das Weib oder den Bruder?

Man sagt, daß wahre Freundschaft jetzt so selten sei. Ist diese Klage begründet?

Das Alterthum zeichnet sich, je weiter zurück in desto höherem Grade, durch die Herrschaft der Gewalt, der physischen Kräfte aus. Jedermanns Hand war gegen Jedermann, und in gar vielen Fällen war es nur durch die Vereinigung mit Anderen möglich, sich zu behaupten und seine Rechte zu wahren. Eine solche Verbindung führte natürlich sehr leicht zu persönlicher Freundschaft, deren Werth mit ihrer Zuverlässigkeit wachsen und in die Augen springen mußte. Solche Freundschaftsbündnisse, welche sich in Sturm und Noth bewährten, wurden von dem Dichter besungen, von dem Geschichtsschreiber verzeichnet, und Beide tauchten dabei ihren Pinsel in die Farben der Poesie, welchen durch die mündliche Ueberlieferungen immer neue und hellere Töne hinzugefügt wurden.

Die Gegenwart erfreut sich einer geordneten Gesetzgebung und einer großen Anzahl von Institutionen (Einrichtungen), welche in Folge ihrer menschenfreundlichen Zwecke die Nothwendigkeit des engen und persönlichen Aneinanderrückens Einzelner aufheben. Es giebt keine Riesen, keine Drachen mehr zu bekämpfen; denn der Geist des Menschengeschlechts braußt nicht mehr durch Schlüfte und Klüfte, »eine Wildschur um die Lenden, eine Kiefer in der Faust.« Das Leben eines Jeden ist in geordnete Bahnen geleitet und kann in anspruchsloser Ruhe und Stille verfließen, ohne das Auge oder gar die Bewunderung Anderer auf sich zu ziehen.

Die Gefühle des Menschenherzens bleiben immer und ewig dieselben; aber die Verhältnisse der Außenwelt lassen sie in verschiedenem Lichte und in anderer Richtung und Thätigkeit erscheinen. So ewig ist auch die Freundschaft des Menschen, und wenn die Gegenwart mit Begeisterung von den zahlreichen Fällen echter und aufopfernder Freundschaft der vergangenen Zeit spricht, so wird sicher die Zukunft ganz[62] dasselbe von unseren jetzigen Tagen thun. Nur schreitet der Freund jetzt nicht mehr auf hohem Kothurn über die öffentliche Scene, sondern richtet sein stilles und segensvolles Wirken auf den Gang innerer und weniger anspruchsloser Verhältnisse.

»Freunde in der Noth gehn hundert auf ein Loth« will nicht sagen, daß die Freundschaft seltener als früher zu finden sei, sondern daß sie sich erst und allein in der Noth bewähre, und Derjenige, welcher in derselben seine Freunde fliehen sieht, mag sich aufrichtig fragen, ob die Schuld nicht vielleicht an ihm selbst liege.

Wer in der Trübsal von dem Nächsten verlassen wird, der hat sich selbst betrogen und gar keine Freunde besessen, sondern sein Vertrauen an Unwürdige verschenkt. Er kann nur sich selbst anklagen.

Und wer einen Freund, einen wahren, aufrichtigen und treuen, besitzen will, der muß, um mit Schiller zu sprechen, es auch selbst verstehen, »eines Freundes Freund zu sein,« und sich in Allem, was er denkt und thut, desselben würdig zeigen. –

Und ferner ist es mit der Freundschaft grad so wie mit dem Reichthum: es ist nicht leicht, reich zu werden, aber reich bleiben, das ist noch schwerer. Ebenso ist es schwierig, einen wahren Freund zu finden, noch schwieriger aber, sich denselben auch zu erhalten.

»Ein neuer Freund ist ein neuer Wein,« sagt Sirach. »Laß ihn alt werden, so wird er Dir schmecken. Uebergieb einen alten Freund nicht; denn Du weißt nicht, ob Du so viel am neuen kriegest!«

Also klage nicht über den Mangel an Freundschaft. Wer eines Freundes werth ist, der findet ihn auch, und wer sich denselben zu erhalten weiß, dem wird er sich in der Noth bewähren![63]

Quelle:
»Freunde in der Noth / Gehn hundert auf ein Loth.« (Mit hoher Wahrscheinlichkeit von Karl May verfaßt). In: Schacht und Hütte. 1. Jg. Nr. 8. S. 62–63. – Dresden (1875), S. 62-64.
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