Die gezeichnete Stirne

[157] »Weib, verrate mir, von wem gerufen

Du zur Leidgesellin dich gegeben?

Wer herunter dieses Kerkers Stufen

Dich gezogen, du mein süßes Leben?«


– »König Enzio, keine Menschen haben

Mich vermocht im Kerker zu verbleichen!

Nein, ein Schicksal war mir eingegraben,

Meine junge Stirne trug ein Zeichen.


Unsre Väter nahmen dich gefangen

Und wir Kinder hatten's bald erfahren,

Daß du nimmer wirst ans Licht gelangen,

König Enzio mit den Ringelhaaren!


Daß du nimmer tragen eine helle

Rüstung wirst, wo die Drommeten klingen,

Daß du nimmer rauschen Wald und Quelle

Hörst, noch einen freien Vogel singen!


Und wir Kinder lauschten sachte, sachte

Durch das Gitter in des Kerkers Tiefe,

Leis und heftig streitend, ob er wachte

Schwerbekümmert, oder ob er schliefe –


Meine Stirne drückt ich an das Eisen,

Drinnen lagst du schlummernd, wie mir deuchte,

Blickte... blickte, war nicht wegzuweisen,

Bis der Wächter drohend mich verscheuchte.
[157]

Mütterlein ersah mich und wehklagte,

Schlug die Hände jammervoll zusammen:

'Kind, wer hat dir in die Stirne' – fragte

Sie – 'gezeichnet dieses Kreuz von Flammen?'


Hieß mich dann in ihren Spiegel schauen –

Teuerwerter Herr, so wahr ich lebe,

Eingezeichnet über meinen Brauen

Waren deines Kerkers Eisenstäbe!


Außen wich das Zeichen; aber innen

Blieb's, da ich zur Maid erwuchs, geschrieben –

Herr, seit jenem Tag war all mein Sinnen,

Dich und deinen Kerker nur zu lieben.«


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 157-158.
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