XXIII. Brief.

Das Fräulein v.W. an das Fräulein v.S.

[253] den 2 Novembr.


Ich bitte Sie tausendmal um Vergebung, mein Schatz, ich habe Sie wider meinen Willen schrecklich beleidiget, oder glaube doch, daß Sie es leichtlich als eine Beleidigung ansehen könnten: ich habe einen Brief erbrochen, der Ihnen zugehöret. Verdammen Sie mich aber nicht durch ein übereiltes Urtheil, ich bin unschuldig! die Aufschrift ist an mich. Sehen Sie? Vermuthlich rührt dieses aus einem unglücklichen Versehn des Verfassers her. Doch das ist nicht mein Verbrechen alleine, über so etwas, daran der Zufall Antheil hat, können Sie mit mir nicht zürnen: aber was werden Sie sagen, wenn ich gestehe, daß ich den Brief auch gelesen habe, vom Anfang[254] bis zu Ende? Verfahren Sie billig mit mir, am Ende bin ich erst meinen Fehler inne worden, und da warf ich den Brief voller Bestürzung von mir, aber zu spät. Ich will mich Ihrer Verzeihung durch ein offenherziges Geständniß meines Irrthums würdig machen. Ich könnte mein Versehen dreuste leugnen, ich könnte sagen, daß ich gleich bei den ersten Zeilen wäre inne worden, daß mich der Innhalt des Briefes nicht anginge; ich hätte so viel Gewalt über mich gehabt, den Brief wieder zu siegeln, ohne weiter zu lesen. Was wollten Sie machen? Glauben müßten Sie mir es doch, so wenig Lust dazu Sie auch bezeigen möchten. Ich will sehen, ob ich meinem Fehler noch gar ein Verdienst beilegen kann: ich will Ihnen aus aufrichtigen Herzen zu Ihren neuen Anbeter Glück wünschen. Habe ich es nicht schon oftmals gesagt, daß Sie in den Augen des Majors eben das sind, was ich bin in den Augen des Herrn v.N.? Sehen Sie nur, wie meine Vermuthungen so richtig eingetroffen sind. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie sich nur so[255] gestellet haben, als wenn Sie die Absichten des Majors nicht merkten: so würde ich stolz darauf seyn, und mich für ein sehr kluges Mädchen halten, auf die Art könnte ich weiter sehen als Sie. Machen Sie mich nur in Zukunft zur Vertrauten bei Ihrer Liebe, einmal weiß ich doch um Ihr Geheimniß, und wenn Sie mich auch überreden wollten, daß Sie gegen den Major unerbittlich wären; so glaubte ich Ihnen dieses eben so wenig, als Sie es thun würden, wenn ich Ihnen sagte, ich hätte innliegenden Brief nicht ganz gelesen. Brauchen Sie ja nicht ein so geringes Versehen, als das ist mit der Addresse des Briefes, zum Vorwande, gegen mich über den Hrn. v. Ln. sich erzürnt anzustellen, ich werde doch nicht glauben, daß es Ihnen von Herzen geht. Ueberhaupt lege ich diesen Fehler zu seinem Vortheil aus. Ich habe zwar von den Empfindungen der Liebenden sehr undeutliche Begriffe: so viel sehe ich aber doch ein, daß seine Neigung eine der heftigsten seyn muß; seine Gedanken mußten sich ganz in Sie verlohren haben; er[256] befand sich ohne Zweifel in einer Art von Entzückung, da er die Aufschrift auf den ersten Brief an seine Göttin machte. Seyn Sie ja nicht unbarmherzig gegen einen so eifrigen Liebhaber. Hören Sie, was ich sage! Ich will Sie nicht länger von dem Vergnügen abhalten, das zärtliche Briefgen Ihres Verehrers zu lesen, vermuthlich haben Sie mein Schreiben zuerst in die Hand genommen. Wenn Sie in Ihrem Herzen noch ein klein Plätzgen übrig haben und sich Ihr Freund darinne nicht schon gar zu breit macht, so heben sie solches auf für


Ihre

ergebenste

Jul. v.W.

Quelle:
Johann Karl August Musäus: Grandison der Zweite,Erster bis dritter Theil, Band 2, Eisenach 1761, S. 253-257.
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