Aus der Ferne

[804] Weht, o wehet, liebe Morgenwinde!

Tragt ein Wort der Liebe hin und wieder!


Er:


Vor der Stadt, wo du hinausgeritten,

Auf dem Maultier, du mit den Begleitern, –

Stund um Stunde sitz ich dort in Trauer,

Wie ein scheuer Geist am hellen Tage.


Sie:


Weder Freude hab ich, die mich freute,

Weder Kummer, der mir naheginge,

Als nur jene, daß du mein gedenkest,

Als nur diesen, daß ich dich nicht habe.


Er:


Ist ein Stein, darauf dein Fuß getreten,

Fliegt ein Vogel, der vielleicht dich kennte,

Jedem Höckenweibe möcht ich's sagen,

Laut am offnen Markte könnt ich weinen.
[804]

Weht, o wehet, liebe Morgenwinde!

Tragt ein Wort der Liebe hin und wieder!


Er:


Sollt ich Trost bei den Genossen suchen?

Noch kein Fröhlicher hat wahr getröstet.


Sie:


Kann ich meinesgleichen mich vertrauen?

Halb mit Neid beklagten sie mich Arme.


Er:


In der Halle, wo sie abends trinken,

Sang ein hübsches Mädchen zu der Harfe;

Ich kam nicht zur Halle, saß alleine,

Wie ein kranker Sperber auf der Stange.


Sie:


Auf den Altan zogen mich die Mädchen:

»Komm, die schönen Jünglinge zu sehen,

Die vorüberziehn im Waffenschmucke.«

Ungern folgt ich, mit verdroßnen Augen.


Weht, o wehet, liebe Morgenwinde!

Tragt ein Wort der Liebe hin und wieder!


Er:


Die Korallenschnur von deinem Halse,

Die du noch zum Abschied mir gegeben,

Tausendmal am langen Tage drück ich,

Tausendmal bei Nacht sie an den Busen.


Sie:


Dieses Balsamfläschchen an der Kette,

Weg muß ich's von meinem Herzen nehmen,

Mich befängt ein Liebeszauberschwindel,

Wohlgeruch der Liebe will mich töten.


Er:


Eine Nacht, ach, hielt ich dich im Arme,

Unter Küssen dich auf meinem Schoße;[805]

Ein Jasminzweig blühte dir im Haare,

Kühle Lüfte kamen durch das Fenster.


Sie:


Heut im Bette, früh, es dämmert' eben,

Lag ich in Gedanken an den Liebsten:

Unwillkürlich küßt ich, wie du küssest,

Meinen Arm, und mußte bitter weinen.


Still, o stille nun, ihr Morgenwinde!

Wehet morgen in der Frühe wieder!


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 804-806.
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