Der Lindenbaum

[113] Am Brunnen vor dem Thore

Da steht ein Lindenbaum:

Ich träumt' in seinem Schatten

So manchen süßen Traum.
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Ich schnitt in seine Rinde

So manches liebe Wort;

Es zog in Freud' und Leide

Zu ihm mich immer fort.


Ich mußt' auch heute wandern

Vorbei in tiefer Nacht,

Da hab' ich noch im Dunkel

Die Augen zugemacht.


Und seine Zweige rauschten,

Als riefen sie mir zu:

Komm her zu mir, Geselle,

Hier findst du deine Ruh'!


Die kalten Winde bliesen

Mir grad' in's Angesicht,

Der Hut flog mir vom Kopfe,

Ich wendete mich nicht.


Nun bin ich manche Stunde

Entfernt von jenem Ort,

Und immer hör' ich's rauschen:

Du fändest Ruhe dort!

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 113-114.
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