Fabrikausgang

[88] Bleigraue Schatten zittern durch die Luft,

aus hohen Essen quillt ein blauer Duft.

Durch Steingefüge dröhnt der Hämmer Ton,

um Erzgeäst schwirrt dumpf die Transmission,[88]

schwirrt stumpf und dumpf, noch eh' die Sonne kam

bis daß der Tag verglüht in Zorn und Scham,

bis daß die Nacht barmherzig deckt die Qual –


Ein Glockenzeichen gellt im Arbeitssaal.


Da stockt der Lärm – und kreischend geht das Tor:


Ein Jüngling stürmt, ein Knabe fast, hervor;

im staubigen Rock, die Mütze im Genick,

ein frohes Leuchten noch im Kinderblick,

staunt er die Welt wie neugeboren an –

da schiebt ihn seitwärts schon sein Nebenmann.


Da drängt's hervor wie flügellahme Brut,

da wächst und wogt des Elends graue Flut:


Mit bangem Blick die blasse Mutter hier, –

zu Hause weint der Säugling schon nach ihr.

Das Mädel dort, Chrysanthemum am Hut,

– in flacher Brust erlogne Liebesglut, –

das frech vertraut dem nächsten Burschen nickt, –

der Mann, der stieren Auges vor sich blickt, –

und nun der Greis, der matt nach Hause wankt

und für den Hungerlohn dem Schöpfer dankt . . .


Des Landes Mark, der Großstadt Kraft und Glut

verschlingt des Elends uferlose Flut.
[89]

Mit müdem Schritt, die Stirn gesenkt und schwer,

zur Heimstatt zieht der Arbeit Sklavenheer,

zu kurzer Rast, daß schlafgestärkt die Kraft

beim nächsten Morgengraun aufs neue schafft.

Mit frischer Gier, mit niegestillter Wut

trinkt die Maschine ihres Herzens Blut.


Vorüberziehn, in seltsam scheuer Hast,

sie an der Arbeitsherren Prunkpalast:

den Tisch, der dort vor Ueberfülle bricht,

sie deckten ihn; doch ihnen blüht er nicht . . . .


Zwei Männer nur, den Hammer in der Hand,

hemmen den Blick und starren unverwandt

in all den Glast, der Freude goldenen Sitz;

aus ihren Augen zuckt des Hasses Blitz.

– So blickt der Leu, wenn sich die Schlange regt. –

sie wissen wohl, wohin ihr Fuß sie trägt,

sie schaun ihr Ziel, so sternenlicht und weit . . .

Und um sie braut die große Einsamkeit,

die schwere Ruh. –

Vom Himmel dichtgedrängt

die schwarze Wolkenmasse niederhängt,

indes am freien Horizont verloht

sturmdunklen Blicks ein blutig Abendrot.


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 88-90.
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