Die Schnecke

[26] Zum erstenmal kroch eine Schnecke,

Das schönste Kunststück der Natur,

Aus der verborgnen Fliederhecke,

Die sie gebahr auf Tempes Flur.

Hier saß auf weichen Lotusblättern

Der Phönix ihrer jungen Vettern.

Sie stutzt, sie gafft ihn staunend an

Und nickt ihm Dank, als er sie grüßet,

Doch der versuchtere Galan

Rückt näher, kömmt und sieht und küsset.

Das Bäschen schaudert und verschließet

Sich schnell in ihr verschanztes Haus.

Allein itzt schien es ihr zu enge,

Es war als zögen hundert Stränge

Sie aus der finstern Gruft heraus.

Kaum schlüpft sie aus der bunten Schale,

So küßt er sie zum andernmale.

Sie sträubt sich und mit scheuem Blick

Glitscht sie in ihr Castell zurück;

Doch dasmal nur mit dem Gesichte.

Ihr Busen winkt dem losen Wichte

Noch kühner als zuvor zu seyn.[27]

Er wars. – Sie biß ihn doch? – Ach nein!

Sie bebte nur durch alle Glieder,

Und schäumte Zorn, doch blos zum Schein.

Nach zwo Minuten kam sie wieder.

Zwar grollt noch ihr Gesicht; allein

Der Lecker küßte seine Falten,

Und sie zog blos die Augen ein,

Die wir getäuscht für Hörner halten.

Bald aber zuckt sie gar nicht mehr,

Und küsset lieber noch als er.


Wär ich ein Schalk, ich würde schwören

Daß junge Mädchen Schnecken wären.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 1, Tübingen 1802, S. 26-28.
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