Sechstes Kapitel.

[43] »Meine Pate,« begann die holdselige Lilla zu reden, »ist eine mächtige Fee. Sie gab mir zum Angebinde eine Stecknadel, die untere Hälfte von Stahl, die obere von Silber, der Knopf aber war von purem Golde. Diese Nadel, sagte sie, sei ein kostbarer Talisman, der eine Wunderkraft in sich schlösse. Meine Mutter bewahrte sie mir auf; als sie aber daniederlag und ihren Tod herannahen fühlte, da ließ sie mich vor ihr Bett kommen und sagte: ›Hier übergebe ich dir das Kleinod, worauf die Fee sovielen Wert legte. Trag' es immer bei dir, aber wahre es wohl; gib darauf acht und laß es dir nicht entreißen. An deinem Hochzeitstage stecke die Nadel an dein Brautkleid, das, sagte die Fee, wird die glücklichste Ehe bewirken. Daher versprich mir, mein Töchterchen, dich nicht zu vermählen, ohne sie an dein stattliches Gewand zu heften.‹ Ich versprach es ihr, und sie starb.

Ihr seht, mein Prinz, daß ich nicht imstande bin, Euch meine Hand zu reichen, denn daß ich die Nadel verloren, wird Euch der Erfolg meiner Geschichte lehren.

Ich meinesteils bildete mir nicht wenig auf das Kleinodium ein, dessen Gebrauch ich noch nicht kannte. Ich ließ es nie von mir und zeigte es jeder mann hochmütig, weil ich es von einer Fee bekommen hatte.

Einstmals geschah es auch, daß ich im Garten meines Vaters spazieren ging. Da kam eine ältliche Frau auf mich zu, gar häßlichen Angesichts. Und da sie mich lange betrachtet hatte und die Nadel bemerkte, rief sie aus: ›Ei, schönes Fräulein,[43] was muß das für eine Nadel sein, die Ihr da anhabt? Je nun, laßt sie mich doch einmal recht betrachten und meine Augen ergötzen an dem holdseligen Schein.‹ Ich gab sie ihr mit einem Blick, als wenn ich dergleichen noch viele hätte. Sie aber nahm sie in die Hand, schüttelte vor Verwunderung den Kopf hin und her, indem sie sagte: ›Ei, ei, ei, welch eine schmucke Nadel ist dies! Unten Stahl, oben Silber und der Knopf von eitel Gold. Nun, ich danke Euch, schönes Fräulein, für das köstliche Kleinod, so Ihr mir verehrt habt.‹ ›Nein,‹ fiel ich rasch ins Wort, ›so war's nicht gemeinet, es hat damit eine ganz andere Bewandtnis.‹ ›Es hat die Bewandtnis, daß Ihr sie mir geschenkt habt,‹ erwiderte die die Alte ganz keck und stemmte die Arme in die Seiten, ›ich will sehen, wer sie mir wieder abnimmt.‹ Hiemit kehrte sie mir den Rücken und hinkte fort. Ich aber, ganz entrüstet und in Verzweiflung, meine Nadel verloren zu haben, lief ihr nach, um sie festzuhalten. Wie ich aber auf sie zukam, verschwand sie plötzlich und ließ mich im traurigsten Zustande zurück.«

Quelle:
August Graf von Platens sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1910], S. 43-44.
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