Einundzwanzigstes Kapitel

[420] Es war freilich mehr ein ganz gewöhnlicher Gemüse als vornehmer Blumenkeller; aber wohlfeile Geburtstagssträuße und Totenkränze von natürlichem Grün und künstlichen Papierblumen waren auch in demselben für Geld zu haben.

Geld hatte Rotkäppchen nicht, aber ihre guten Bekanntschaften überall.

»Mädchen, aus alter Freundschaft! Und ich zahle bei der nächsten Gelegenheit«, rief sie, hastig ihre Wahl treffend, der jungen Inhaberin des Ladens zu; und aus alter Freundschaft und früherer ganz genauer Kameradschaft gab die Gemüse- und Blumenhändlerin den Kranz her, und das Rotkäppchen ist wirklich und wahrhaftig noch zur rechten Zeit mit Degen und Kranz an Ort und Stelle gewesen. Sie hat sogar auf die andern zu warten gehabt.

Da lag das schwarze Gittertor jetzt im grauen, dichten Morgennebel und gegenüber am Wege die Schenke, in welcher der Hofrat Brokenkorb gestern abend sich so wenig an Ort und Stelle fühlte.

»Mutter Flebbe, aus alter Freundschaft und guter Bekanntschaft eine Tasse Kaffee; ich zahle bei der nächsten Gelegenheit«, sagte Rotkäppchen in der Kneipe, nachdem sie vergeblich an dem Schloß der Kirchhofstür gerüttelt hatte. Und die Mutter Flebbe, schon in Anbetracht des kuriosen gestrigen Abends und in hoher Spannung, was nun wohl der Tag Neues zu dieser Geschichte bringen werde, spendierte das Getränk auf den schlechtesten Kredit in ihrer ganzen Kundschaft hin.

Landleute, Gärtner, Vagabunden, Viehtreiber zogen vorbei auf der Landstraße und sprachen vor in der Wegewirtschaft. Auch Stammgäste sind schon vorhanden und tauschen ihre Bemerkungen aus und wünschen noch Genaueres zu wissen über den Degen des Leutnants Hegewisch und den Kranz für die Witwe Wermuth.

Fräulein ist allen gewachsen, und die Wirtin der Schenke tritt[420] in Anbetracht der feinen Gesellschaft, in welcher sie gestern abend sich hier fand, auch für sie ein und schlägt nötigenfalls mit der Faust auf den Tisch: »Jetzt bitt ich's mir aus, daß ihr mich das Kind in Ruhe laßt. Jeder hat seine Schmerzen und tut sich in ihnen seine Ehre an! Weshalb soll sie's nicht?«

Na, da ist auch Lochner, der Kirchhofswächter, nimmt seinen Morgenschnaps und brummt: »I, Fräuleinchen! Sie zuerst auf den Beinen? Wann dürfen wir denn auf die andern verehrten Herrschaften rechnen?«

Er traut nämlich vorzüglich dem Herrn in dem schönen Pelz vom gestrigen Abend allerlei Gutes zu, selbstverständlich in Beziehung auf ihn – Lochner.

Das Rotkäppchen weiß nichts von dem Herrn mit dem Pelz und tritt nur von Zeit zu Zeit in die Tür, die Landstraße nach der Stadt zu hinunterblickend. Die städtischen Beamten auf diesem Felde, die Totengräber, finden sich nunmehr auch allgemach ein; die Uhr in der Gaststube schlägt acht, und Lochner meint: »Nun, Fräulein, wie ist dies denn aber? Ihre Herrschaften müßten sich jetzt doch wohl ein bißchen beeilen, sonst müssen wir wirklich ohne sie ans Tagewerk. Wenn ich auch gern jede mögliche Rücksicht auf die Gefühle von jedermann nehme, so leidet's doch jetzt wahrlich die Jahreszeit nicht. Das ist keine Saueregurkenzeit für uns – nehmen Sie nur bloß die Kinder, wie uns das jetzt über den Hals kommt, vom Morgen bis zum Abend. Jetzt könnten wir's mit der armen Madam da draußen noch in aller Ruhe ganz respektabel geben; aber wenn erst der Schwarm zudrängt, dann stehe ich, so leid es mir tut, für nichts, was die intimen Gefühle der alten lieben Dame und der Herren von gestern anbetrifft. Sie verstehen mich. Ihnen, Fräulein, brauche ich ja wohl nichts weiter zu sagen. Sie werden ganz gewiß sich alles Weitere selber zusammenaddieren.«

»Natürlich«, sagte Rotkäppchen. »Wenn es nicht anders ist, fangen Sie ruhig an, Herr Inspektor. Wer kann es immer im voraus wissen, was dem Menschen bei seinem allerschönsten, festesten Vornehmen in den Weg kommen kann? Verschlafen haben die die Zeit nicht! Daraufhin lasse ich mich von Ihnen[421] gleich mit unterscharren, Sie alter, trübseliger Versenkungsmechanikus. Wenn Sie übrigens einmal ein ander Engagement brauchen sollten, bitte, so lassen Sie es mich wissen; ich habe meine Verbindungen bei mehreren Bühnen. Jetzt aber – seien Sie artig und anständig, und denken Sie sich, daß es mir heute bitterer Ernst und ausnahmsweise recht übel zumute ist.«

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 420-422.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Im alten Eisen
Im Alten Eisen; Eine Erzahlung
Sämtliche Werke: Raabe, Wilhelm, Bd.16 : Pfisters Mühle; Unruhige Gäste; Im alten Eisen: Bd 16 (Raabe, Samtliche Werke)