Irus.

Eine lucinianische Erzählung.

[53] (Belustigungen des Verstandes und Witzes. November 1742.)


Irus, der verlassene Irus, dessen Nahrung in Brot und Wasser, die Kleidung in einem zerrissenen Mantel und das Lager in einer Handvoll Stroh bestand – dieser ward auf einmal der glücklichste Mensch unter der Sonne.

Die Vorsicht (Vorsehung) riß ihn aus dem Staube und setzte ihn den Fürsten an die Seite. Er sah sich in dem Besitz[53] unermeßlicher Schätze. Sein Auge erstarrte vor dem ungewöhnlichen Glanze des Goldes. Sein Palast war weit prächtiger ausgeputzt als die Tempel der Götter. Purpur und Gold waren seine schlechteste Kleidung, und seine Tafel konnte man billig einen Inbegriff alles dessen nennen, was die wollüstige Sorgfalt der Menschen zur Unterhaltung des Geschmacks ersonnen hatte. Eine unzählbare Menge schmeichelhafter Verehrer folgte ihm auf allen Schritten.

Würdigte er jemand eines geneigten Blickes, so hielt man denselben schon für glückselig, und wer seine Hand küssen durfte, der schien allen beneidenswert zu sein. Er glaubte, der Name Irus sei ihm ein beständiger Vorwurf seiner vormaligen Armut, er nannte sich also Keraunius oder den Blitzenden, und das ganze Volk frohlockte über diese edelmütige Veränderung. Ein Dichter, welcher ihn vormals nur zum Spott den armen Irus genannt hatte, dieser hungrige Dichter entdeckte eine Wahrheit, die bisher jedermann unbekannt gewesen, aber jetzt von allen mit einem schmeichlerischen Beifall angenommen wurde: Jupiter hätte sich in des Keraunius Mutter verliebt und in einen Ochsen verwandelt gehabt, um ihrer Liebe zu genießen. Nunmehr baute man ihm Altäre, man schwor bei seinem Namen, und die Priester waren beschäftigt, in dem Eingeweide des Opferviehes zu finden, daß der große Keraunius, dieser ehrwürdige Sohn des Jupiters, die einzige Stütze von ganz Ithaka sei.

Toxaris, sein ehemaliger Nachbar, ein Mann, welchen das Glück, ein unermüdeter Fleiß und eine vernünftige Sparsamkeit zu einem reichen Bürger gemacht hatten, war das erste Opfer seiner ungezähmten Begierde. Er hatte ihn schon damals beneidet, als er noch Irus hieß; und nunmehr war es Zeit, daß er ihn empfinden ließ, was derjenige vermöge, dessen Vater den Donnerkeil in den Händen trage. Es traten Zeugen auf, welche behaupteten, Toxaris habe die Götter geleugnet, die Tempel beraubt, die Priester verspottet und durch ungerechtes Gut seine Schätze vermehrt. Er ward ins Gefängnis geworfen und zu einem schmählichen Tode verdammt. Seine geängstete Frau, seine unschuldigen Kinder warfen sich mit Thränen zu den Füßen unseres unempfindlichen Tyrannen; aber umsonst. Toxaris mußte sterben, und alle, die ihm angehörten, mußten ins Elend gehen. Irus blieb sein einziger Erbe.

Noch etwas fehlte ihm an seiner Glückseligkeit. Er wollte sich vermählen. Die Vornehmsten des Landes waren bemüht,[54] in seine Verwandtschaft zu kommen. Menippus war allein so glücklich, daß Irus auf seine Tochter Euphorbia die Augen warf. Er hoffte durch eine nähere Verbindung mit dem angesehenen und reichen Menippus sein eigenes Glück noch mehr zu befestigen; und Euphorbia war schön genug, sein Herz einzunehmen. Ihr lockichtes Haar, ihre erhabene Stirn, ihre feurigen Augen, ihr reizender Mund, ihre bezaubernde Brust, ihr majestätischer Gang – kurz, ihre ganze Gestalt hatten den hochmütigen Irus gefesselt, und alle Dichter in Ithaka schworen, daß Venus mehr als einmal über diese Schöne eifersüchtig geworden sei. Die Vermählung ging vor sich. Der große Sohn des Jupiter eilte, seine Geliebte zu küssen. O! sprach er, indem er sie umarmen wollte, o, wie vergnügt ...

Hier erwachte Irus, seine Glückseligkeit war nur ein Traum gewesen. Er lag noch auf eben dem Stroh, worauf er sich gestern gelegt, noch unter eben dem zerrissenen Mantel, womit er sich den Abend zuvor bedeckt hatte. Keraunius war verschwunden, und der unschuldige Toxaris lebte noch.

Quelle:
Rabeners Werke. Halle a.d.S. [1888], S. 53-55.
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