An Herrn von Retzer

[67] Johannstein am Sparbach im Sommermond 1780.


God made the country, and Man made the town.

Cowper.


Den Auserwählten geht's gewiss,

Obwohl in diesem Punkt die Bibel

So ziemlich uns im Dunkel liess,

In ihrem Paradies nicht übel,

Doch wahrlich nicht so wohl als mir

In diesem herrlichen Revier.

Befreyt von trocknen Amtsgeschäften,

Die Muth, Gefühl und Geist entkräften,

Lieg' ich hier ruhig hingestreckt

Im Schatten einer dunkeln Fichte,[68]

Die mich mit ihren Zweigen deckt,

Und denk' an dich, o Freund! und dichte.


O welche Luft! rings um mich hin

Im finstern Thal, auf Felsensteinen

Prangt die Natur im frischen Grün

Von unermessnen Tannenhainen,

Ein schmaler Bach, der über Sand

Und Kiesel glitscht, und sanft den Rand

Des bunten Ufers küsst, verschwistert

Sein süsses Plätschern mit dem Laut

Des Morgenwindes, der vertraut

Die Blätter meines Buchs durchflüstert.

Von Moos und Dorngesträuch verhüllt,

Steht dort auf jener Felsenspitze,

Mit scheuen Eulen angefüllt,

Der Rest von einem Rittersitze,

Den einst zu unsrer Ahnen Zeit,

Wie mich ein Landmann hier belehrte.

Der Muselmänner Grausamkeit

Mit räuberischer Hand verheerte.[69]

Diess Schloss giebt meiner Neubegier

Oft Anlass zu gelehrten Fragen:

Wer führt' es auf? wer hauste hier?

Doch niemand weiss mir das zu sagen.


Durch dunkles Dickicht klettr' ich dann

Mit meinem Stabe frisch und munter

Den höchsten steilsten Berg hinan:

Da seh' ich froh in's Thal hinunter,

Und staune mein Stück Arbeit an,

Als hätt' ich wer weiss was gethan.


So fliesset Tag für Tag, mein Lieber!

In's Meer der grauen Zeit hinüber,

Und täglich wächst in mir der Hang

Zu dichterischem Müssiggang.

Oft, wenn mit wonnetrunknen Blicken

Mein Aug' im fröhlichsten Entzücken

Die stille Gegend übersieht,

Wünsch' ich im Ernst als Eremit

Mir eine Zelle hier zu bauen:[70]

Doch eitle Wünsche! Das Geschick

Fasst bald mich an mit ehrnen Klauen,

Und schleppt mich nach der Stadt zurück.


Dann lebet wohl, ihr Dämmerungen

Des kühlen Walds! Um Lohn gedungen,

Kriech' ich an meine Ruderbank,

Wo ich dem Gram erliegen würde,

Erleichterte dein Bücherschrank

Mir, Theuerster, nicht meine Bürde.

Quelle:
Joseph Franz Ratschky: Gedichte, Wien 1791, S. 67-71.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Feldblumen

Feldblumen

Der junge Wiener Maler Albrecht schreibt im Sommer 1834 neunzehn Briefe an seinen Freund Titus, die er mit den Namen von Feldblumen überschreibt und darin überschwänglich von seiner Liebe zu Angela schwärmt. Bis er diese in den Armen eines anderen findet.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon