Christus vor den Hohenpriestern

[285] Hin ist die Nacht, der Tag bricht an,

Die Morgenröte malt den Himmel,

Die Welt erwacht, und jederman

Erregt sein tägliches Getümmel:[285]

Da wird das Gotteslamm gerissen

Sehr grimmig vor den hohen Rat,

Als ihn die Zunft der Diener hat

Die ganze Nacht herümgeschmissen.

Es samlet sich die leichte Rott

Und lässet vor dem Richtstuhl führen

Mit Spott den hochgelobten Gott,

Der selber prüfet Herz und Nieren;

Ja, der sich niemals hat empöret,

Muß aller Aufruhr schüldig sein;

Man sagt ihm ins Gesicht hinein,

Gottlästern sei von ihm gehöret.

Sobald der Judas nun vernimt,

Wie schändlich seine That gelungen

Und alles das, was angestimt,

Von jedem werde nachgesungen,

Daß nämlich unser Heil sol sterben:

Da überfällt ihn Reu und Schmerz,

Das quälet nun sein falsches Herz,

So daß er spüret sein Verderben.

»Ach, ruft er, was hab' ich gethan!

Mein Herr ist ohne Schuld verraten.

Ihr Richter, legt doch ab den Wahn,

Verfluchet meine bösen Thaten;

Nemt hin eur Geld, das mich verführet,

Eur Geld, das mir schafft schwere Pein!«

Die Richter sprechen alle: »Nein,

Es wird nicht mehr von uns berühret.«

O Bubenstück, o falscher Kuß,

Der diesen Mann zur Höllen sendet,

Verzweiflung machet ihm den Schluß,

Indem ein Strick sein Leben endet,

Ein Strick treibt aus sein' arme Seele,

Sein Bauch zerbricht als ein Geschwür,

Sein Eingeweide dringt herfür,

Der Geist fleugt in des Satans Höle.

Herr Jesu, der du durch den Rat

Des Todes schüldig bist erkläret,

Vergib mir doch die Missethat,

Die mich wie Sand am Meer' beschweret![286]

Ach Herr, es ist mir unvergessen,

Daß ich gehör' in diese Rott;

Als du verdammet bist, mein Gott,

Bin ich beim Priester mit gesessen.

Mein Heiland, du wirst hingeführt

Zu solchen Richtern, die nicht wissen

Was deiner Herlichkeit gebührt,

Die Blut zu stürzen sind geflissen.

Warum hast du dieß uns gestanden?

Darum, auf daß ich würde nicht,

Wenn du wirst kommen zum Gericht,

O Gott, vor deinem Stuhl zu Schanden

Ach, gib mir einen tapfern Mut,

Daß ich ja nimmermehr erlige;

Wenn mich versehrt des Kreuzes Glut,

So hilf mir, daß ich frölich siege.

Dein bitters Leiden kan erquicken,

O treuer Gott, mein mattes Herz,

Daß weder Tod, noch Not, noch Schmerz

Dasselbe können unterdrücken.

Es tröste mich zur jeden Zeit,

Besonders in der Höllen Schrecken,

Des andern Lebens Süßigkeit,

Zu welchem du bald wirst erwecken

Die Gläubigen, die dich geliebet:

Nach solchem Leben seufz' ich sehr;

Da wirst du geben Freud und Ehr'

Uns, die wir lebten so betrübet.

Ein Gasthaus nenn' ich diese Welt

Und nicht das Vaterland der Frommen;

Du hast ja, Herr, ein Haus bestellt

Vor alle, welche zu dir kommen;

Dahin nun wollen wir uns schwingen,

Was geht uns dieses Erdreich an?

Hilf, daß wir bald in Kanaan

Der Ewigkeit ein Liedlein singen.

O wolte Gott, es käm' herbei

Die Stund', in der ich solt' ablegen[287]

Des Fleisches Last und werden frei

Von Sünden, die sich stets noch regen!

O, solt' in jennem Freudenleben

Mein Seelichen sehn für und für

Die Feinde ligen unter dir,

Wie wolt' ich meine Stimm erheben!

O Jesu, Herr der Herlichkeit,

O süßer Trost der armen Sünder,

O ewig Gott, Mensch in der Zeit,

Du liebest ja die Menschenkinder;

Wie freundlich hast du dich erwiesen,

Der du des bittern Sterbens Not

Getötet hast durch deinen Tod!

Sei hier und dort von mir gepriesen!

Quelle:
Johann Rist: Dichtungen, Leipzig 1885, S. 285-288.
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