Wäldershausen

[72] An Karl und Lili Schenck zu S.


Im Morgendufte kommt vom Waldesrande

Das junge Reh zum Wiesengrund geschritten,

Da noch die Dämmrung hüllt die tiefren Lande.


Es prüft den Thau, und blickt in Thalesmitten

Mit klugem Aug' empor zum Höhenkranze,

Zu dem die ersten Sonnenlichter glitten.


Noch scheucht es nicht des Tages Strahlenlanze

Zurück zum Wald, doch stutzt es bei dem Rufen

Des Adlers, der sich wiegt im Aetherglanze.


Schon sichrer blickt es, denn auf leichten Hufen

Erscheint ihm der Genossen muntre Heerde,

Zum frühen Mahl, herab die Rasenstufen.


Und während Stille deckt den Fleck der Erde,

Der sie geboren, harrt die Schaar, vertrauend,

Daß Raum und Stunde sie beschützen werde.


Doch über Buchenwipfel, die noch thauend

Vom Nachtgewölke, dringt des Tages Sendung

In Lichtern schon lebend'ger niederschauend;
[73]

Und plötzlich durch der Hügel offne Wendung

Gießt sich die Strahlenfluth in vollem Gusse,

Das Thal erfüllend mit des Lichts Verschwendung.


O welch ein Bild, geweckt vom Morgenkusse

Der Sonne! Langsam sich zur Tiefe neigend

Der Matten duftig Grün, vom Rieselflusse.


Der Ohm durchschlängelt; Wälder, aufwärts steigend

Zu Hügelreihen, erst nur leicht gehoben,

Dann größren Schwungs gedehnte Formen zeigend;


Sich überbauend, bis die Häupter droben

In's Thal herüber schau'n, das fern im Weiten

Sich schließt, in zarten Farbenduft verwoben.


Wer sich zuerst in diesen Waldgebreiten

Die Stätte gründete, verstand zu bauen

Die Wohnung, sicher vor der Tage Streiten.


Dort unter Buchen ist das Haus zu schauen,

Geschützt vom Berg, die Stirn zur Ferne richtend,

Zu Füßen allen Glanz der Wiesenauen.


Nicht ist's ein Felsenbau, von welchem dichtend

Die Sage spräch' in grauer Trümmersprache,

Nein, frei im Grün, auf Thurm und Wehr verzichtend;


Und doch mit seinem starken Holzgefache

Jahrhunderten vertraut, seit Frühlingswehen

Zuerst gerauscht zu seinem Schieferdache.
[74]

Betrachtend aber wirst du lange stehen,

Wenn sich des Eingangs Halle dir erschlossen,

Geschmückt mit Bildern, Waffen, Jagdtrophäen.


Doch daß nicht nur bewohnt von Waidgenossen

Die Hall' und die Gemächer, sagt und deutet

Ein Gang, der niemals einen Gast verdrossen.


Woran ihr Alten euch im Stillen freutet,

Von Enkeln ehrfurchtsvoll gehegt, bekunden

Bescheid'ne Schätze, die ihr euch erbeutet;


Gesucht vom Trieb des Sammelns, und gefunden

Vom Wissensdrang und auf der Spur zum Schönen,

Geordnet blieb es eurem Haus verbunden.


So bracht' es ihm ein herzliches Gewöhnen

Zum Edlen, Guten, um mit gleicher Wage

Natur und Lebensfordrung zu versöhnen.


Und gute Geister sind's, die hier die Tage

Behüten, daß im Haus' es, ohne Schranken,

So wie den Kindern, auch dem Gast behage.


Das ist des Hauses Ruhm, wenn im Gedanken

Des Gastes, der da scheidet von der Schwelle,

Der Fremdheit Scheidegrenzen niedersanken;


Wenn er, entfernt, für immer jene Stelle

Zum Eigenthum im Geiste mitgenommen,

Untrüglich auch im Trug der Lebenswelle.
[75]

Doch wer, von Funken seiner Kunst erglommen

Der Form vertraut, was freudig ihn berührte

Zu sagen, hofft sich immer ein Willkommen.


So wünscht' ich, was in Reimen ich vollführte,

Zum Gastgeschenk für Euch, und guter Stunden

Gedächtniß, welchem mehr als dies gebührte.


Nicht Alles dauert, was ein Reim gebunden.

Doch schönste Dauer kann dies Lied erreichen,

Wird einst es von den Kindern aufgefunden,

Im Buch des Hauses ein Erinnrungszeichen.


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 72-76.
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