Klag der wilden holzleut über die ungetreuen welt

[44] Ach got, wie ist verderbt all welt,

wie stark ligt die untreu zu felt,

wie hart ist grechtigkeit gefangen,

wie hoch tut ungrechtigkeit prangen,

wie sitzt der wucherer in eren,

wie hart kan arbeit sich erneren,[44]

wie ist gemeiner nutz so teuer,

wie füllt der eigen nutz sein scheuer,

wie nimt überhant die finanz,

wie spitzig ist der alefanz,

wie unverschemt get gwalt für recht,

wie hart die warheit wirt durchecht,

wie wirt unschult mit füßen treten,

wie weng tut man laster ausjeten,

wie ring wigt man des menschen blut,

wie gar helt man kein straf für gut,

wie fürt reichtum so großen pracht,

wie ist armut so gar veracht,

wie stet weisheit hinder der tür,

wie dringt reichtum mit gwalt herfür,

wie ist barmherzigkeit so krank,

wie hat die lüg so weiten gank,

wie regiert der neit mit gewalt,

wie ist brüderlich lieb erkalt,

wie ist die treu so gar erloschen,

wie hat miltigkeit ausgedroschen,

wie ist demut so gar verschwunden,

wie hat der glaub so vil der wunden,

wie ist gedult so gar gewichen,

wie ist frumkeit so gar erblichen,

wie ist die zucht so gar ein spot,

wie ist keuschheit so ellent tot,

wie ist einfalt so gar verdorben,

wie gar ist all freuntschaft gestorben,

wie ist leibes wollust so mechtig,

wie ist hoffart so groß und prechtig,

wie herrscht schmeichlerei so gewaltig,

wie ist nachred so manigfaltig,

wie gern hört man neu märlein bringen,

wie ist betrug in allen dingen,

wie ist die kunst so gar unwert,

wie groß ist die torheit auf ert,[45]

wie findt man meßigkeit so selten,

wie vil ist füllerei jezt gelten,

wie hart muß sich der fridsam schmiegn,

wie löblich ist mörden und kriegn,

wie ist die eigen er so groß,

wie ist der geiz so gar gruntlos,

wie ist das spil so eigennützig,

wie gschicht die rauberei so trützig,

wie ist der diebstal also grob,

wie schwebt die listigkeit stets ob,

wie ist gottes schweren so gmein,

wie rechnet man meineit so klein,

wie gar ist ebruch mer kein schant,

wie fleischlich ist der geistlich stant,

wie ist so blint die gleißnerei,

wie wütig ist die tyrannei,

wie ungezogen ist die jugent,

wie gar lebt das alter on tugent,

wie unverschemt ist weiblich bilt,

wie ist mänlich person so wilt,

wie ist gesellschaft so untreu,

wie hat borgen so vil nachreu,

wie sint die war so gar vertrogn,

wie sint die schult so gar verzogn,

wie ist nachbaurschaft so geheßig,

wie sint die wirtschaft so unmeßig,

wie ro ist der menschen gewißen,

wie ist als unglück eingerißen,

wie tumb ist jezt die christenheit,

wie selzam ist die heiligkeit,

wie weng helt man gottes gebot,

wie unbereit ist man zum tot,

wie klein hat man auf ewigs acht,

wie gar man auf das zeitlich tracht,

wie unwirdig hört man gots wort,

wie wenig lebt man darnach fort,[46]

wie ist all ding so gar verbittert,

mit trug und schalkheit übergittert!

und in kurz, summa summarum,

was in der welt ist schlecht und frum,

muß von der welt durchechtet werden;

was aber listig ist auf erden,

verschalkt, vertrogen auf all ban,

heißt die welt ein geschickten man.

seit nun die welt ist so vertrogn,

mit untreu, list ganz überzogn,

so seien wir gangen daraus,

halten im wilden walde haus

mit unsern unerzognen kinden,

das uns die falsch welt nit mög finden,

da wir der wilden frücht uns nern,

von den würzlein der erden zern

und trinken einen lautern brunnen.

uns tut erwermen die liecht sunnen,

mies, laub und gras ist unser gwant,

darvon wir auch bet und deck hant;

ein steine höl ist unser haus,

da treibet keins das ander aus,

unser gsellschaft und jubiliern

ist im holz mit den wilden tiern;

so wir denselben nichts nit tan,

laßens uns auch mit friden gan.

also wir in der wüsten sint,

gebären kint und kindes kint.

einig und brüderlich wir lebn,

kein zank ist sich bei uns begebn;

ein jedes tut, als es dan wolt,

das im von jem geschehen solt;

umb kein zeitliches tun wir sorgen,

unser speis find wir alle morgen,

nem wir zur notturft und nicht mer

und sagen got drumb lob und er.

fellt uns zu krankheit oder tot,

wiß wir, das es uns komt von got,[47]

der alle ding am besten tut.

also in einfeltigem mut

vertreiben wir hie unser zeit,

bis ein enderung sich begeit

in weiter welte umb und um,

das jederman wirt treu und frum,

das stat hat armut und einfalt;

den wöll wir wider aus dem walt

und wonen bei der menschen schar.

wir haben hie gewart vil jar,

wenn tugnt und redlichkeit aufwachs.

das balt geschech, wünscht uns Hans Sachs.


Anno salutis 1530. am 2. tag Junij.


Quelle:
Hans Sachs: Dichtungen. Zweiter Theil: Spruchgedichte, Leipzig 1885, S. 44-48.
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