[20] Einst ziert' ich, den Äther durchspähend,
Als Spitze des Urgebirgs Stock,
Ruhm, Hoheit und Stellung verschmähend,
Ward ich zum erratischen Block.
[20]
Man sagt, wenn's dem Denker zu wohl ist,
So wagt er sich kecklich aufs Eis:
Mir winkten, wo's klüftig und hohl ist,
Schneejungfraun, verführend und weiß.
Doch als ich mit Poltern und Lärmen
Abstürzend aufs Firnfeld mich hub,
Verbüßt' ich mein jugendlich Schwärmen
Mit tausendjährigem Schub.
Scharf wies mir der Gletscher die Zähne:
»Hier, Springinsland, wirst du poliert,
Und im Schutt meiner großen Moräne
Als Fremder talab transportiert.«
Geritzt und gekritzt und geschoben
Entrollt' ich in spaltige Schluft,
Ward stoßweis nach oben gehoben,
Gewälzt und gepufft und geknufft.
Da bleib' einer sauber und munter
In solchem Gerutsch und Geschlamm;
... Ich kam immer tiefer herunter,
Bis der Eiswall ins Urmeer zerschwamm.
Und der spielt die traurigste Rolle,
Dem die Basis mit Grundeis ergeht ...
Ich wurde auf treibender Scholle
In des Ozeans Brandung verweht.
Plimp, plump! Da ging ich zugrunde,
Lag elend versunken und schlief,
Bis in spät erst erlösender Stunde
Sich Gletscher und Sündflut verlief.
Den entwässerten Seegrund verklärte
Die Sonne mit wärmerem Strahl,
Und mit der Rhinozerosherde
Spazierte der Mammut durchs Tal.
Nun lagern wir Eiszeitschubisten
Nutzbringend als steinerne Saat[21]
Und dienen dem Heiden wie Christen
Als Baustoff für Kirche und Staat.
Dies Lied ist zwei Forschern gelungen
Im Gau zwischen Aare und Reuß;
Das Wirtshaus, in dem sie es sungen,
War ganz von erratischem Gneus.
Sie sungen es ernst und dramatisch
In die Findlinglandschaft hinein
Und schoben sich selbst dann erratisch
Mit Holpern und Stolpern vom Wein.
Ausgewählte Ausgaben von
Gaudeamus. Lieder aus dem Engeren und Weiteren
|
Buchempfehlung
Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«
418 Seiten, 19.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro